In der Krise: Linksjugend ohne Perspektive

Bericht vom Bundeskongress des Jugendverbands

Vom 4.-6. November haben fast 180 Delegierte beim Bundeskongress der linksjugend [‘solid] über die Zukunft des Jugendverbandes debattiert. Dabei wurden die Krise der LINKEN als auch die Probleme des Jugendverbandes nicht ausreichend diskutiert, an ernsthafte Analysen und Debatten hat man sich erneut nicht herangetraut.

von Said Basel Ghafouri, Chiara Stenger, Christoph Martin und Dominik Tristan Kandale (Sol-Mitglieder und Delegierte)

Trotz der stürmischen Zeiten, in denen wir leben, bleibt die Linksjugend im Stillstand. Es gab kaum Zeiten, in denen es notwendiger war als heute, sich in einem sozialistischen Jugendverband zu organisieren und für eine bessere Welt zu kämpfen. Die erste Tagung des 15. Bundeskongresses lässt jedoch deutlich mehr Fragen offen als sie beantwortet. Beispielsweise fehlten Debatten dazu, wie der Bundesverband in Bewegungen, zum Beispiel gegen explodierende Preise oder gegen den Klimawandel bzw. Tarifauseinandersetzung für mehr Lohn und mehr Personal agieren möchte. Stattdessen wurden Diskussionen kurz gehalten, Anträge auf zeitliche Verlängerung der Debatte gingen selten durch. Gleichzeitig konnten über zehn Anträge, darunter aktuelle Themen wie Solidarität mit den Kämpfen im Iran, nicht behandelt werden. Das lag allerdings auch daran, dass der Kongress durch eine externe Person mutwillig gestört wurde und eine Pausierung von mehreren Stunden bedeutete. Doch auch so zeichnete sich ab, dass vor allem kurze Abstimmungen und Wahlen stattfinden sollten, weniger Austausch und Debatte. Auffallend war dabei auch der unsolidarische Umgang untereinander, teilweise sogar vonseiten des Präsidiums.

Fehlende Initiativen der Führung

In den vergangenen Jahren zeigte sich immer wieder, dass die politische Führung des Bundesverbandes keine ernsthaften Kampagnen durchführt und stattdessen in der Außenwirkung fast ausschließlich auf Social Media sichtbar ist. Statt die Praxis des Bundesverbandes reell zu verändern, beschränken sichsowohl der scheidende als auch der neue Bundessprecher*innenrat vorwiegend auf Bildungsveranstaltungen, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. So gab es vom größten linken Jugendverband keine bundesweiten Aktionen noch sozialistische Antworten auf die multiplen kapitalistischen Krisen: weder zur Pandemie noch zu den Preissteigerungen oder zur Klimakrise. Stattdessen hing der Bundesverband Bewegungen und Protesten höchstens hinterher, ohne je eine wichtige oder wegweisende Rolle einzunehmen.

Solche Kampagnen und Aktionen zu planen, zu koordinieren und an aktive Mitglieder deutschlandweit heranzutragen wäre eigentlich die Aufgabe einer politischen Führung. Und genau das ist auch der Weg, um neue Mitglieder zu begeistern und für sich zu gewinnen. Die aktuelle Praxis auf Bundesebene hingegen geht an der Notwendigkeit der aktuellen Krisen vorbei und grenzt an Handlungsverweigerung. Diese Entwicklung scheint sich perspektivisch fortzusetzen, da auch auf dem diesjährigen Kongress nichts dergleichen beschlossen oder geplant wurde.

Der Leitantrag „Eine Zeit der Krisen“, der vom BSP*R formuliert und vom Kongress beschlossen wurde [alle Beschlüsse sind einsehbar unter: https://www.linksjugend-solid.de/beschluesse/?_sft_congress=buko15_1a], verortet die Probleme des Verbandes jedoch ganz wo anders. Hier werden Mitgliederschwund und zunehmende Passivität des Bundesverbandes im Rahmen einer so benannten „Selbstkritik“ alleinauf die Coronapandemie und in dieser Zeit fehlenden Präsenzveranstaltungen zurückgeführt. So sei im Jugendverband wenig Möglichkeit für die strategische Weiterentwicklung geblieben, was dazu führe, dass ihm vor allem Strategie als „Bindeglied zwischen Theorie und Praxis“ fehle. Diese Analyse halten wir für unzureichend, da sie nur an der Oberfläche kratzt. Sicherlich hat die Coronapandemie eine Rolle gespielt, doch wie bereits aufgezeigt, gab es keine Kampagnen zu den wichtigsten Themen unserer Zeit und außerhalb des Internets war die Linksjugend-Bundesebene im Prinzip unsichtbar. Dass ein solcher Jugendverband für junge Menschen keinen Anziehungspunkt zum aktiv werden bildet, liegt auf der Hand.

Nebenbei wird in diesem Leitantrag auch die „existentielle Krise“ der LINKEN erwähnt – ohne genauer zu analysieren, woher diese Krise rührt. Auch dazu gab es keine Diskussion auf dem Bundeskongress. Wer über die Krise der LINKEN spricht,könnte schließlich über vieles sprechen: Von Regierungsbeteiligungen mit pro-kapitalistischen Parteien wie SPD und Grünen und dem allgemein angepassten Kurs der Partei bis hin zu den falschen, „linkskonservativen“ Ideen von Sahra Wagenknecht. Es gäbe viel zu kritisieren.Und das ist auch die Aufgabe eines sozialistischen Jugendverbands, eine weitere Aufgabe und ein Anspruch, dem die Linksjugend auf Bundesebene aktuell nicht gerecht wird. Diese unzureichende Analyse und fehlende Kritik geht so weit, dass von führenden Mitgliedern auf Bundesebene nebenbei erwähnt wurde, dass wir bald Europa-Wahlkampf für die LINKE machen sollen. Über die Zukunft der Partei und die Möglichkeit einer Abspaltung des Wagenknecht-Lagers und daraus resultierende Konsequenzen wurde hingegen nicht gesprochen.

Keine Klassenposition zum Krieg

Eine der größeren Debatten und ein Thema, das immer wieder aufkam, war der Ukraine Krieg und die Stellung der Linksjugend zu diesem. Leider ist auch hier der Verband den Herausforderungen unserer Zeit nicht gerecht geworden. Er verurteilte zwar zurecht den russischen Angriffskrieg als imperialistisch. Doch reicht es nicht aus, im Gegenzug nur darauf hinzuweisen, dass auch „der Westen versucht, die Ukraine ins eigene imperiale Lager zu ziehen., wenn man im selben Atemzug dem „auf verschiedenen Wegen sich artikulierenden Widerstand der ukrainischen Bevölkerung“ seine Solidarität ausspricht. Denn damit solidarisiert man sich auch mit dem neoliberalen Selensky-Regime bis hin zu den teils faschistischen Asow-Milizen innerhalb der ukrainischen Armee, welche das Selbstbestimmungsrecht u.a. der russischsprachigen Bevölkerung mit Füßen getreten haben. So sehr es ein Recht auf Selbstverteidigung der Arbeiter*innenklasse in der Ukraine gibt (und zwar für alle Teile dieser Klasse), so wenig dürfen sich Sozialist*innen mit solchen Kräften solidarisieren.

In kurzen, aber polarisierten Antragsdebatten hat man sich mehrheitlich außerdem für Sanktionen gegen Russland ausgesprochen, diese wurden schließlich auch als Forderung des Verbandes beschlossen. Ein Antrag des Landessprecher*innenrat Rheinland-Pfalz, der von delegierten Sol-Mitgliedern unterstützt wurde, mit einem Programm gegen Preissteigerungen und Energiekrise wurde mit Änderungsanträgen angenommen. Dieser Antrag verband wichtige soziale Forderungen mit dem Ruf nach einer gewerkschaftlichen Offensive. Die Beschlussfassung umfasst zudem eine explizite Kritik am Material des letzten Bundessprecher*innenrats, welches politisch so begrenzt war, dass es genauso gut von der Grünen Jugend hätte stammen können.Leider beinhaltet er nun, nach einem mehrheitlich angenommenen Änderungsantrag, die Forderung nach „effektiven Sanktionen gegen Russland, welche vor allem den Machtapparat Putins […] als Ziel haben“. Als Sol-Mitglieder haben wir mehrfach argumentiert, dass Sanktionen vor allem die Arbeiter*innenklasse treffen, den Krieg nicht beenden werden und keine sozialistische Antwort auf Kriege darstellen, diese Position wurde aber nur von einer Minderheit der Delegierten geteilt.

Zur Frage der Waffenlieferungen konnten weder befürwortende noch ablehnende Beschlüsse gefasst werden. Die Debatte um diese war sehr gespalten und die Mehrheitsverhältnisse waren knapp. So stellte die Mehrheit des das auf dem Bundeskongress abgehaltenen Plenums für Betroffene von Rassismus und Antisemitismus einen Änderungsantrag, um „Waffenlieferungen an sozialistische Organisationen“ in der Ukraine zu fordern. Dies wurde vom Bundeskongress knapp abgelehnt. Ebenso wurde die Forderung nach einem Ende der Rüstungsexporte aus dem Antrag des LSP*R Rheinland-Pfalz durch einen Änderungsantrag ersatzlos gestrichen.

Die Sol vertritt keine pazifistische Position, sondern tritt für das Recht auf Selbstverteidigung der Arbeiter*innenklasse und Unterdrückten ein. Das Problem mit dem Änderungsantrag des Plenums für Betroffene von Rassismus und Antisemitismus ist jedoch, dass es keine relevanten Gruppen in der Ukraine gibt, die einen von der Selensky-Regierung unabhängigen militärischen Widerstand gegen die russischen Truppen leisten. Gäbe es solche multiethnischen Gruppen, die für das Recht auf Selbstbestimmung aller Bevölkerungsgruppen und sogar ein Ende des Kapitalismus eintreten würden, wäre es natürlich unsere Pflicht, diese in ihrem Kampf zu unterstützen. Doch weil es sie nicht gibt und die einzigen Adressaten von Waffenlieferungen aktuell pro-kapitalistische Kräfte sein können, muss eine solcher Antrag als Versuch gewertet werden, antimilitaristische Positionen weiter zu schleifen.

Gefahr der Identitätspolitik

Für diese Waffenlieferungen wurde dennoch auf eine sehr emotionalisierte Weise argumentiert, Fakten wurden kaum miteinbezogen. Teilweise wurde betont, dass dem Antrag zugestimmt werden müsse, weil er von Betroffenen von Rassismus und Antisemitismus formuliert wurde.Das ist nur eines von vielen Beispielen für die massive Verbreitung identitätspolitischer Ideen im Verband. Verschwiegen wurde hierbei, dass nicht alle Personen im Plenum dem zustimmten und dass sich mehrere Teilnehmer*innen des Plenums im Nachhinein von dem Antrag distanzierten. Auch wenn gerne die Illusion einer homogenen „Betroffenenperspektive“ geschaffen wird, zeigt dies beispielhaft auf, dass es eine solche „betroffene“ und dadurch einheitliche und korrekte Perspektive nicht geben muss. Am Ende geht es immer um politische Positionierung. Diese dargestellte Tendenz ist für den Jugendverband sehr schädlich, da eine solche Argumentation vorangestellt wird um dahinter stehende politische Standpunkte zu rechtfertigen, anstatt inhaltlich zu diskutieren. Dies zeigt sich auch daran, dass vonseiten der Mehrheit des Betroffenen-Plenums der Wunsch geäußert, dass gewisse Themen nicht angesprochen werden dürfen. Darunter fielen unter anderem Äußerungen bezüglich “einer nicht existenten Kausalität zwischen dem Handeln der NATO (insbesondere den USA) und dem Krieg in der Ukraine, allen verharmlosenden Aussagen zu Russland, Schuld von Sanktionen an der gestiegenen Inflation”. Unabhängig davon, ob man diese Punkte nun inhaltlich richtig oder falsch findet,helfen solche Sprechverbote nicht weiter und sind sie zudem noch ziemlich unkonkret formuliert. Dies resultierte auch darin, dass ein Redebeitrag nur bei Nennung des Wortes „Wirtschaftskrieg“ mit Verweis auf die unerwünschten Themen vom Präsidium unterbrochen wurde.

Zusammenfassend wurden in Anträgen, die sich gegen Waffenlieferungen aussprachen, die entsprechenden Zeilen gestrichen. Anträge, die sich dafür aussprachen, kamen nicht durch. Zu einer Klassenposition im Ukraine-Krieg ist der Bundesverband nicht fähig.

Schlussfolgerungen ziehen

Der Bundesverband und viele Landesverbände sind leider Welten davon entfernt, ein Anziehungspunkt für sich radikalisierende Jugendliche darzustellen. Weder organisiert er ernsthafte Kampagnen zum Verbandsaufbau, noch spielt er in den vorhandenen sozialen Bewegungen und Kämpfen eine nennenswerte unabhängige Rolle oder bietet offensiv ein weitergehendes sozialistisches Programm an. Politisch sind weite Teile des Verbandes noch angepasster als die Mutterpartei und dienen Ämter vor allem als Karrieresprungbretter in selbige. Selbst rassistische Ausfälle von antideutschen Kräften werden nicht nur geduldet, sondern dürfen diese Personen zum Teil sogar Führungspositionen bekleiden. Diese Probleme gibt es nicht erst seit gestern, doch Quantität kann in Qualität umschlagen und wir sehen nicht, dass dieser Bundesverband zu reformieren ist. Wie wir an anderer Stelle schrieben, haben Sol-Mitglieder zuletzt die Erfahrung gemacht, dass einige sich neu politisierende Jugendliche davor zurückschrecken, in der linksjugend [‘solid] aktiv zu werden. In Nordrhein-Westfalen stellen deshalb Mitglieder der Sol aktuell einen Antrag, der feststellt, dass dieser Bundesverband nicht mehr zu retten ist und es einen Diskussionsprozess braucht, wie eine Alternative geschaffen werden kann.

Dokumentiert:

Wir brauchen etwas Neues!

Warum der Bundesverband der linksjugend [‘solid] nicht zu retten ist

Antrag von Sol-Mitgliedern an die Landesvollversammlung der linksjugend[‚solid] NRW

  1. Die Preise explodieren. Auch in Deutschland droht die größte soziale Krise seit Jahrzehnten und eine Rezession steht vor der Tür. Nazis und Rassist*innen laufen sich warm, um das für ihre Hetze auszunutzen. Die Bedrohung durch den Klimawandel wird immer konkreter und für Millionen Menschen existenzbedrohend. Der Krieg ist zurück in Europa, Millionen sind auf der Flucht und wir erleben eine massive Zunahme der Spannungen zwischen den großen und kleinen kapitalistischen Mächten. Der Kapitalismus befindet sich im multiplen Dauerkrisenzustand und die Zukunftaussichten scheinen aktuell düster. Gerade für Jugendliche stellt sich die Frage, was für eine Zukunft sie auf diesem Planeten haben sollen, wenn es so weitergeht wie bisher.
  2. In Deutschland beweist die Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP mit ihrer Politik, worauf sich Marxist*innen ohnehin eingestellt haben: Sie verteidigt und verfolgt mit ihrer Politik die Interessen der Banken und Konzerne und unterscheidet sich damit nicht grundsätzlich von den letzten CDU-geführten Regierungen. Die sogenannten „Entlastungsmaßnahmen“ mögen versuchen, die eine oder andere Krisenauswirkung auf die arbeitende Bevölkerung aus Angst vor zu großem Unmut abzufedern. Doch sie ändern nichts daran, dass diese zur Kasse gebeten wird, während Banken und Konzerne Rekordprofite machen und Aktionär*innen Rekorddividenden einsacken. Große Angriffe auf soziale Errungenschaften drohen, wenn es darum geht wer die Krisenausgaben bezahlen soll.
  3. Die Verhältnisse schreien geradezu nach einer politischen Antwort von links und damit auch nach einer Kraft, welche der existierenden Unzufriedenheit einen linken Ausdruck verleiht. Jugendliche sind besonders von den aktuellen Krisen betroffen und werden das auch in Zukunft sein. Es gibt also unzählige Gründe, warum es eine große, kämpferische und sozialistische Jugendorganisation braucht. Viele Jugendliche suchen nach solch einer Organisation und noch mehr würden sich ihr in Zukunft anschließen, wenn es sie gäbe.
  4. Der Bundesverband der linksjugend [‘solid] – der größte linke Jugendverband, der eigentlich in einer Position wäre, solch ein Angebot zu sein – ist leider Welten davon entfernt, eine solche Organisation darzustellen. Er gibt damit ein noch traurigeres Bild als seine, sich ebenfalls in der Krise befindenden Mutterpartei DIE LINKE ab. Seit Jahren gilt auf Bundesebene und in den meisten Landesverbände die eher ungewöhnliche Regel, dass der Jugendverband politisch noch angepasster und unattraktiver ist als die Partei.
  5. Seit Jahren wurden vom Bundesverband keine ernsthaften Kampagnen zum Verbandsaufbau organisiert – geschweige denn damit sozialistische Ideen unter Schüler*innen, Studierenden oder jungen Beschäftigten verbreitet. Abseits sozialer Medien und linker Zirkel spielen Bekenntnisse zum Sozialismus keine wirkliche Rolle für die Praxis. In den größten sozialen Bewegungen und Kämpfen der letzten Jahre war der Bundesverband quasi unsichtbar. Trotz der Beteiligung vieler individueller Genoss*innen spielte er entweder keine praktisch relevante und/oder keine politisch eigenständige Rolle, in dem Sinne Vorschläge für Kämpfe oder sozialistische Positionen in die Bewegung zu tragen. Ämter im Jugendverband, wie das des Bundessprecher*innenrats, werden hingegen viel zu oft als Karrieresprungbretter für den eigenen politischen Lebenslauf statt für den Aufbau eines kämpferischen Verbandes genutzt. Das dürfte eine Erklärung dafür sein, warum der sich seit Jahren vollziehende Anpassungskurs der LINKEN, insbesondere die Beteiligungen an Regierungen mit pro-kapitalistischen Parteien, auf so wenig Kritik bei führenden Mitgliedern im Bundesverband und in vielen Landesverbänden stößt. Der seit Jahren unfassbare Zustand, dass antideutsche Kräfte regelmäßig mit rassistischen, islamfeindlichen Ausfällen auf sich aufmerksam machen können, wird nicht nur geduldet, sondern diese Personen können sogar Führungspositionen bekleiden.Die Stimmung unter vielen Genoss*innen und die Diskussionskultur im Verband sind gleichermaßen im Keller.
  6. Auch auf die politischen Herausforderungen der letzten Monate hat der Bundesverband mit falschen Positionierungen reagiert. So gab er dem Druck nach, keine unabhängige Klassenposition in der Haltung zum Ukraine-Krieg einzunehmen. Es ist keine Frage, dass der russische Angriffskrieg zu verurteilen ist und Putin damit imperialistische Interessen verfolgt, wie es der letzte Bundeskongress getan hat. Doch es reicht nicht aus, im Gegenzug nur zuzugestehen, dass das im „Kontext innerimperialistischer Konflikte“ stattfindet und auch „der Westen versucht, die Ukraine in eigene imperiale Lager zu ziehen“, wenn man sich im selben Atemzug mit dem „auf verschiedenen Wegen sich artikulierenden Widerstand der ukrainischen Bevölkerung“ solidarisiert.1 Denn das schließt die Solidarisierung mit dem neoliberalen, vom westlichen Imperialismus unterstützten Selensky-Regime und seiner Armee bis hin zu den teils faschistischen Asow-Strukturen ein, die Teil dieser Armee sind. Diese Kräfte haben das Selbstbestimmungsrecht u.a. der russischsprachigen Bevölkerung mit Füßen getreten. So sehr es ein Recht auf Selbstverteidigung der Arbeiter*innenklasse in der Ukraine gibt (und zwar für alle Teile dieser Klasse), so wenig dürfen sich Sozialist*innen mit solchen Kräften solidarisieren. Es ist ein Armutszeugnis, dass in diesem Zusammenhang das explizite Nein zu Rüstungsexporten an diese pro-kapitalistischen Kräfte keine Mehrheit fand. Ebenso ist es falsch zu hoffen, über „effektive Sanktionen gegen Russland, welche vor allem den Machtapparat Putins […] als Ziel haben“2, den Krieg zu beenden. Mit einer solchen Positionierung verleiht man letztlich den realen Sanktionen des Westens, deren Folgen vor allem die Arbeiter*innenklasse in Russland und weltweit zu spüren bekommen, eine grundsätzliche Rechtfertigung, statt zu erklären, dass diese abzulehnen sind.
  7. Besondere Blüten treibt mittlerweile auch das im Bundesverband vorherrschende Verständnis vom Kampf gegen Diskriminierung, welches wir als „Identitätspolitik“ bezeichnen würden. Auch wenn sie für junge Menschen ein Ausgangspunkt in ihrer Politisierung sein können, verwischen diese Ideen die Verantwortung des kapitalistischen Systems für Diskriminierung. Sie bringen damit nicht den notwendigen Kampf gegen Unterdrückung und Diskriminierung weiter, sondern verschärfen die Spaltung in der Arbeiter*innenklasse und zwischen unterdrückten Gruppen, wenn Unterdrückungsformen lediglich katalogisiert werden. Der Kampf gegen Unterdrückung wird dabei nicht mit dem Kampf für gemeinsame soziale Interessen verbunden. Identitätspolitik wird dafür im Bundesverband regelmäßig für die eigene politische Agenda ausgenutzt. Auf dem letzten Bundeskongress konnte eine Mehrheit im „Plenum von von Rassismus Betroffenen“ durchsetzen, dass auf dem Bundeskongress keine weiteren Äußerungen erlaubt sind, welche zum Beispiel die Sanktionen gegen Russland als eine Ursache der aktuellen Inflation benennen oder einen Zusammenhang zwischen dem Agieren der NATO in den letzten Jahren und dem russischen Krieg in der Ukraine herstellen.Ebenso falsch, ist die Haltung, die sich im Jugendverband zum Umgang mit Vorwürfen sexistischen Fehlverhaltens verbreitet hat.Zum Beispiel wurde auf dem FLINTA-Plenum3 des letzten Bundeskongress ein Antrag abgelehnt, der sich für unabhängige Untersuchungen solcher Vorwürfe ausspricht. So wie wir eine Relativierung der Probleme von Sexismus und Machtmissbrauch in der Partei, die sich unter dem Hashtag #LinkeMeToo offenbart haben, zurückweisen und eine umfassende und unabhängige Untersuchung aller Vorwürfe gefordert haben, weisen wir die mittlerweile im Bundesverband dominierende Logik der Definitionsmacht zurück, die solche unabhängigen Untersuchungen von Vorwürfen, die Verteidigung von Angeklagten und die Unschuldsvermutung ausschließen.gewinnen. Wir wollen diskutieren, wie wir am besten mit dieser Situation umgehen, und laden alle, die zu ähnlichen Schlüssen kommen, dazu ein.
  8. Diese Entwicklungen und Probleme gibt es nicht erst seit gestern. Mitglieder und Vertreter*innen des Landesverbands Nordrhein-Westfalen haben sie in den letzten Jahren immer wieder an verschiedener Stelle kritisiert. Doch Quantität kann in Qualität umschlagen. Zuletzt mussten wir vermehrt feststellen, dass die Zugehörigkeit zum Bundesverband eine Hürde darstellte, um junge Menschen für eine Mitarbeit in unseren Strukturen zu gewinnen. Und wir mussten feststellen, dass sich sehr viele Genoss*innen drängender als in der Vergangenheit die Frage stellen, welchen Sinn die Arbeit in diesem Verband eigentlich noch macht und einige Genoss*innen diese Frage individuell mit ihrem Austritt beantwortet haben.
  9. Mit der sich verschärfenden Krise des Kapitalismus und der dringenden Notwendigkeit, dieses System auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, wächst auch der Widerspruch zur offenkundigen Unzulänglichkeit des Bundesverbands, zu dieser Aufgabe einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Doch wir stellen nicht nur mehr diese Unzulänglichkeit fest. Die Vielzahl unsolidarisch geführter Diskussionen und die gegen jede Kritik feindlich gestimmte Atmosphäre auf Bundeskongressen oder ähnlichen Veranstaltungen, die wiederholten Ausschlussversuche und bürokratischen Methoden gegen kritische Stimmen und Marxist*innen, das Festhalten an der falschen Ausrichtung und diesen Methoden trotz der anhaltenden Krise des Verbands – diese und mehr Erfahrungen dieser Art aus den letzten Jahren zeigen uns, dass dieser Bundesverband nicht reformierbar ist. Wir haben lange für einen kämpferischen, demokratischen und sozialistischen Jugendverband gekämpft. Diesen Kampf wollen und werden wir fortsetzen, aber wir stellen fest, dass dieser Bundesverband kein geeigneter Rahmen mehr dafür ist. Wir brauchen etwas Neues!
  10. Deshalb wollen wir einen offenen Diskussionsprozess organisieren, um alle Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Wir wollen weiter für die marxistischen Positionen eintreten, die unter anderem unser Landesverband in den letzten Jahren vertreten hat, und die geeignet sind, einen Beitrag zum Aufbau eines großen sozialistischen Jugendverbands zu leisten. Wir wollen eine neue bundesweite Struktur schaffen – unabhängig vom Bundesverband, die aber offen ist für alle linksjugend-Basisgruppen und -Mitglieder, die unsere Kritik am Bundesverband teilen, genauso wie für bisher unorganisierte Jugendliche. Wir wollen (wenngleich offen ist, wie sich die Krise in der Partei entwickeln wird) weiter die LINKE unterstützen, denn noch ist sie eine Partei mit tausenden linken Aktivist*innen, von denen viele eine Rolle beim Aufbau einer zukünftigen Arbeiter*innenmassenpartei spielen könnten. Doch uns ist bewusst, dass die Partei am Abgrund steht und eine Spaltung immer wahrscheinlicher scheint. Wir wollen uns in der Partei sowohl für den so dringend nötigen sozialistischen und oppositionellen Kurswechsel einsetzen, als auch den „linkskonservativen“ Ideen von Sahra Wagenknecht entgegentreten, die zum aktuellen Kurs keine linke Alternative darstellen.
  11. Viele Genoss*innen haben viel Zeit und Arbeit in den Aufbau eines sozialistischen Jugendverbands gesteckt. Wir halten diese Zeit und Arbeit nicht für vergebene Mühe – so traurig die Einsicht auch ist, dass dieser Bundesverband nicht mehr zu retten ist. Die sich vertiefende Krise des Kapitalismus führt aktuell zu vielen Herausforderungen, aber früher oder später auch zu neuen Chancen, um massenhaft Jugendliche für sozialistische Ideen zu gewinnen. Wir wollen diskutieren, wie wir am besten mit dieser Situation umgehen, und laden alle, die zu ähnlichen Schlüssen kommen, dazu ein.

1https://www.linksjugend-solid.de/beschluss/krieg-und-frieden-in-der-ukraine/

2https://www.linksjugend-solid.de/beschluss/programm-gegen-preissteigerungen-und-energiekrise/

3FLINTA = Frauen, Lesben, Inter-, Nonbinäre, Trans- und Agender.