Streikwelle in Großbritannien setzt sich fort
Interview mit Dave Griffiths, Gewerkschafter aus Coventry, Mitglied der Socialist Party England & Wales und Unterstützer des National Shop Steward Network – NSSN (Netzwerk von gewerkschaftlich Aktiven und Vertrauensleuten)
Wo steht die Streikbewegung in Großbritannien aktuell?
Bei der Gewerkschaft UNITE laufen gerade mehrere hundert Auseinandersetzungen. Es gibt große Streiks bei Bussen und Bahnen, bei der Post- und Paketzustellung, aber auch Streiks bei der Müllabfuhr und der britischen Telekom. Jetzt stimmen auch Beschäftigte des Gesundheitswesens und der Rettungsdienste über Streikmaßnahmen ab.
Wie hat sich die Streikbewegung entwickelt?
Aus zunächst lokalen Auseinandersetzungen Anfang des Jahres wurden breitere Kämpfe auf nationaler Ebene. Die Fahrer*innen der Müllabfuhr in Coventry begannen beispielsweise ihren Streik im Januar 2022. Sie streikten insgesamt 27 Wochen, zu Beginn bei -8 Grad und am Ende während der Hitzewelle im Sommer. Die Unterstützung aus der Bevölkerung war enorm und sehr ermutigend. Auch als die Bahnarbeiter*innen im Juni in den Streik gingen, stand fast das ganze Land hinter den Arbeiter*innen.
So wie ich es sehe, ist der Arbeitsmarkt durch Personalmangel sehr angespannt, wie es ja auch in Deutschland der Fall ist. Die Fahrer*innen, Reinigungskräfte oder Paketzusteller*innen sind schließlich sehr wichtig für die ganze Gesellschaft. So entstand ein wachsendes Selbstvertrauen und mehr und mehr Arbeiter*innen sagten „Wir lassen nicht auf uns herabschauen”.
Hinzu kamen die im März und April die immer deutlicher werdenden allgemeinen Preissteigerungen und die Energiekrise. Die Inflation ging durch die Decke und Menschen hatten Probleme, über die Runden zu kommen oder konnten absehen, dass dies bald der Fall sein würde. Zur Hälfte des Jahres wurden aus lokalen also landesweite Auseinandersetzungen. Einerseits für höhere Löhne, aber auch gegen Stellenabbau zur Profitmaximierung.
Wie wirkt sich die aktuelle Regierungskrise auf die Streikwelle aus?
In der öffentlichen Wahrnehmung bekommen die Streiks gerade aufgrund der Regierungskrise ein bisschen weniger Aufmerksamkeit. Das hat die Streikbewegung aber nicht verkleinert. Trotz des Todes von Queen Elisabeth war am 1. Oktober der bisher größte Streiktag in Großbritannien. Bei kürzlichen Abstimmungen gab es Rekordzahlen der Unterstützung für Streiks. Aber wir sind immer noch in einem frühen Stadium der Streikbewegung. Die britische Arbeiter*innenklasse fühlte sich viele Jahre schwach und akzeptierte, was ihnen zugemutet wurde. Es existitiert das Gefühl, nicht viel gegen die Angriffe der Bosse tun zu können. Wir gehen in diese Auseinandersetzungen also mit Gewerkschaften, die stärker sein könnten und mit noch wenigen erfahrenen gewerkschaftlich Aktiven und Vertrauensleuten. Es wird also auch Rückschläge und Niederlagen geben. Aber alles in allem wächst die Streikwelle enorm.
Was schlägt das NSSN für die Ausweitung der Kämpfe vor?
Wir setzen uns für einen konsequenten, kämpferischen Kurs der Gewerkschaften ein. Wir fordern eine weitergehende Koordinierung der aktuellen Auseinandersetzungen und sagen „Lasst uns alle gemeinsam streiken!“. Die Arbeiter*innenklasse kann so ihre Stärke demonstrieren und ihr Selbstbewusstsein stärken. Für die Bewegung schlagen wir Forderungen nach einer inflationssicheren Lohnerhöhung, einem nationalen Mindestlohn von 15 Pfund, die Vergesellschaftung der Energieindustrie, höhere Sozialleistungen und Renten vor und die Abwehr der geplanten Anti-Gewerkschaftsgesetze.
Nach dem Vorbild von „Enough is Enough“ („Genug ist genug“) entstehen auch in Deutschland immer mehr Bündnisse, um gegen die Preissteigerungen zu protestieren. Welche Bedeutung hat diese Kampagne in Großbritannien?
Es ist toll, dass so viele sich einbringen und wir begrüßen eine solche Kampagne und unterstützen sie natürlich. „Enough is Enough“ hat sich aus der Streikbewegung heraus entwickelt. Prominente Gewerkschaftsführer*innen beteiligen sich an „Enough is Enough“. Ihre Glaubwürdigkeit durch die Kämpfe der letzten Monate stärkt die Kampagne. Wir müssen uns aber auch in Erinnerung rufen: In Großbritannien betrat die Arbeiter*innenklasse im Prinzip scheinbar aus dem Nichts die Bühne und begann die Auseinandersetzungen zu führen. Viele junge Menschen sehen, dass in „Enough is Enough“ eine Kraft sein kann, mit der sie gemeinsam kämpfen können, um die Gesellschaft zu verändern.
Was schlägt die Socialist Party für die Kampagne „Enough is enough“ vor?„Enough is Enough“ bekommt Unterstützung, weil die Menschen unzufrieden sind und eine Alternative suchen. Der wichtige Punkt an dieser Stelle ist natürlich, ob ihnen auch eine politische Alternative angeboten wird. In alltäglichen Unterhaltungen hört man auch immer wieder: „Labour ist nicht mehr die Partei der Arbeiter*innenklasse“. Und obwohl die Stimmung sich gerade insbesondere gegen die Tories richtet und Labour dadurch gerade höhere Umfragewerte hat, erwarten die Menschen sehr wenig von der Labour-Partei und vertrauen ihr nicht. Wie ein Vertrauensmann kürzlich zu mir sagte „Es gibt die, die uns jetzt gerade angreifen und die Opposition, die nur darauf wartet uns anzugreifen.“ Deshalb stellt sich verschärft die Frage nach einer neuen Massenarbeiter*innenpartei, sowohl in der Streikbewegung als auch bei „Enough is Enough“. Wir sagen deshalb: „Enough is Enough, but what do we do at the ballot box?“, also „Genug ist genug, aber was machen wir an der Wahlurne?“ Wir zeigen die dringende Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Partei auf, einer, die wirklich für die Interessen der arbeitenden Bevölkerung einsteht.