Silvester 2022/23: Soziale Ursachen beseitigen statt Rassismus schüren

Die Krawalle zum Jahreswechsel sind Ausdruck der Krise des Kapitalismus

In den letzten Jahren war es aufgrund der Corona-Pandemie, sehr ruhig an Silvester. Das war diesmal deutlich anders.

Von Torsten Sting, Rostock

Silvester 2022 war heftiger als die Jahre zuvor. Das war auch nicht schwer, weil es die zwei Jahre davor ein faktisches Böller-Verbot gab. In den meisten Städten gab es dennoch keinen qualitativen Unterschied zu den Jahren vor der Corona-Pandemie. Eine neue Entwicklung ist aber, dass es – insbesondere in Berlin – gezielte Übergriffe nicht nur auf die Polizei, sondern auch auf die Feuerwehr und Rettungskräfte gegeben hat. Laut der Berliner Feuerwehr sollen Kolleginnen und Kollegen, die zur Brandbekämpfung oder Versorgung von Verletzten unterwegs waren, 14 Mal gezielt in einen Hinterhalt gelockt worden sein. In Fernsehbildern war zum Beispiel zu sehen, wie ein junger Mann einen Feuerlöscher auf die Frontscheibe eines Rettungswagen schleuderte. Zum Glück ist den Kolleg*innen nichts passiert. Es ist absolut nachvollziehbar, wenn Menschen, deren Job es ist, in Not geratenen Menschen zu helfen, von diesen Vorfällen nicht nur schockiert, sondern auch wütend sind und Konsequenzen fordern.

Gleichzeitig ist nach solchen Ereignissen unabdingbar, eine unabhängige Untersuchung durchzuführen und auch das Vorgehen der Polizei zu beleuchten. Nicht selten hat sich nach so genannten Jugendkrawallen heraus gestellt, dass Provokationen von Polizeikräften Auslöser waren oder zumindest zur Eskalation von Auseinandersetzungen beigetragen haben.

Bürgerliche Reaktionen

Am Neujahrstag griffen die bürgerlichen Medien und die etablierte Politik die Ereignisse auf. Schnell wurden, wie so oft in solchen Fällen, schärfere Gesetzen gefordert. Zudem wird nun ein Böllerverbot, zum Beispiel von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Berlin, gefordert. Die rot-grün-rote Koalition der Hauptstadt will zudem eine entsprechende Initiative im Bundesrat einbringen.

Von CDU/CSU, AfD und Springer-Presse werden die Ereignisse genutzt, um Rassismus zu schüren. Die AfD hat endlich wieder ein Thema und die CDU/CSU, die nach dem Verlust der Macht im Bund noch immer keinen klaren Kompass hat, versucht mit dem Gerede der „gescheiterten Integration“ Punkte zu machen. Diesen nationalistischen Kräften hilft der Ruf nach dem starken Staat und das Bedienen von Vorurteilen bei der „Identitätsstiftung“ ungemein. Das gilt umso mehr in Berlin, wo gerade der Wahlkampf zu den Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus im Februar begonnen hat. Kai Wegner, der konservative Spitzenkandidat, tönte: „Es ist der fehlende Respekt vor dem Rechtsstaat in Parallelgesellschaften“. Sein Parteifreund, Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn meint: „Da geht es eher um ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat.“

Einiges erinnert an die Ereignisse von Silvester 2015/16. Damals gab es in Köln massive sexistische Übergriffe von jungen Männern gegenüber Frauen. Der migrantische Hintergrund vieler Täter wurde ausgeschlachtet um eine rassistische Kampagne zu starten, die sich gegen alle Muslime und Muslimas und Geflüchteten richtete.

Dieser drohenden Wiederholung müssen wir uns entgegenstellen. SPD und Grüne differenzieren zwar mehr und betonen, nur etwas gegen migrantische Gewalttäter unternehmen zu wollen. Aber wenn die Berliner Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) nun den Zusammenhang zu den sozialen Problemen herstellt, reibt man sich verwundert die Augen. Wer regiert denn die Stadt Berlin seit mehreren Jahrzehnten und trägt die Verantwortung?

Der Reiz

Die Empörung von vielen Menschen über die Gewalt gegen Feuerwehrleute ist nachvollziehbar. Diese Empörung sollte aber gegen die tieferen Ursachen solcher Ereignisse gerichtet werden. Bürgerliche Politiker*innen, die jetzt Rassismus schüren oder nach der „vollen Härte des Gesetzes“ verlangen, wollen damit vor allem von ihrer eigenen Verantwortung für die sozialen Verhältnisse ablenken, welche den Boden für solche Krawalle bereitet haben.

Es sind Armut, katastrophale Zustände an den Schulen, fehlende Zukunftsperspektiven, berechtigte Entfremdung von einem Staat, in dem Profite wichtiger sind als Gesundheit und Bildung, alltägliche Rassismuserfahrungen mit der Polizei, prekäre Arbeitsverhältnisse, fehlende demokratische Rechte etc., was dazu führt, dass der Kessel brodelt und an Tagen, wie Silvester, überkocht.

Die Forderung der LINKEN nach einem Böllerverbot geht dabei in die falsche Richtung, denn sie weist nicht auf diese gesellschaftlichen Ursachen hin. Und sie trifft die Falschen. Eine Minderheit war gewalttätig und jetzt sollen all jene bestraft werden, die friedlich gefeiert haben?! Die Böllerei geht sicher auch vielen Menschen auf die Nerven und es mag nachvollziehbare Argumente dagegen geben, wie den Umwelt- und Tierschutz und die hohe Anzahl an Verletzten. Aber als Reaktion auf die Silvesterereignisse ist ein Böllerverbot eine Ablenkung von den eigentlichen Problemen.

Der Silvestertag ist für viele Menschen etwas besonderes und das aus sehr unterschiedlichen Gründen. Gerade Jugendliche blicken diesem Datum mit großer Spannung entgegen. Endlich sind die Weihnachtstage und das endlose Zusammenhocken mit den Verwandten vorbei. Nun kommt jener Tag, an dem man mit den Erwachsenen bzw. Älteren auf einer Stufe ist. An Silvester schlagen Millionen über die Stränge, es wird kräftig Alkohol getrunken. Das tun viele, also fällt man selber nicht so auf. Und es kracht ordentlich. Mit Böllern und Raketen verabschiedet man das Jahr, dass es scheppert. Man kann sich einmal wie ein König fühlen und den häufig grauen und sorgenvollen Alltag vergessen. Dass es nach drei Jahren Corona-Pandemie, die mit vielen drastischen Einschränkungen verbunden waren, die gerade junge Menschen trafen, einen Nachholbedarf geben würde, konnte nicht wirklich überraschen.

Wie andere Ausnahmesituationen auch, ob Karneval oder Fußballspiele, ist auch Silvester vor allem für die unterdrücktesten und ärmsten Schichten der Arbeiter*innenklasse eine Gelegenheit, die Alltagssorgen mal für ein paar Stunden zu vergessen und sich frei zu fühlen. Ein Böllerverbot würde gerade von diesen Schichten – zurecht – als gegen sie gerichtet empfunden werden.

Ursachen bekämpfen

Die kapitalistische Gesellschaft basiert auf der Herrschaft einer kleinen Minderheit über die Mehrheit. Diese Herrschaft wird in letzter Instanz auch mit verschiedenen Formen von Gewalt ausgeübt. Dies drückt sich am deutlichsten in imperialistischen Kriegen aus, in denen die mächtigeren Staaten kleineren und schwächeren Staaten ihren Willen aufzwingen und diese ausbeuten. Aber auch in unserem Alltag: Der Braunkohletagebau wird für den RWE-Konzern, allem Gerede vom Klimaschutz zum Trotz, mit Hilfe von Gerichten und der bewaffneten Staatsmacht durchgesetzt. Alteingesessene Mieter*innen, die nicht viel Geld haben, werden zugunsten von skrupellosen Immobilienkonzernen aus ihren Wohnungen geworfen, nicht selten mit Polizeigewalt geräumt. Die Gewalt ist aber mit dem staatlichen Gewaltmonopol den Herrschenden vorbehalten, die die bewaffneten Staatskräfte einsetzen, um ihr auf Ausbeutung, Profitstreben, Krieg, Umweltzerstörung ausgerichtetes System zu erhalten. Es ist zutiefst heuchlerisch, wenn sich ausgerechnet diese Damen und Herren jetzt so empören.

Dieses System steckt in einer tiefen Krise. Das hat das letzte Jahr leider eindrucksvoll unter Beweis gestellt: Ukraine-Krieg, Rekordhitze im Sommer aufgrund des Klimawandels, Rekordinflation und Existenzängste als deren Folge usw..

Mit der Zunahme der Krise und sich zuspitzenden sozialen Spannungen ist eine Zunahme von Gewalt vorprogrammiert. Dies zeigt sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen: auf Schulhöfen, in der Familie oder auch im Amateurfußball der Männer, wo viele Spiele aufgrund von Gewalt abgebrochen werden müssen.

Es deutet einiges darauf hin, dass ein hoher Anteil der an den Krawallen beteiligten Jugendlichen einen Migrationshintergrund hat. Das hat aber weniger mit diesem Umstand oder der Religion und Kultur dieser Jugendlichen zu tun, als mit der Tatsache, dass Migrant*innen in Deutschland überdurchschnittlich von Armut, prekären Arbeitsverhältnissen, Erwerbslosigkeit, Polizeischikanen und Diskriminierung betroffen sind. Zurecht wird gerade oftmals darauf hingewiesen, dass die Betroffenen der Ausschreitungen in Stadtteilen wie Neukölln auch überdurchschnittlich Migrant*innen sind, die ebenso empört sind, wie alle anderen.

Gerade Menschen, deren Wurzeln im arabischen Raum liegen, werden mehrfach diskriminiert und müssen sich immer wieder für ihre Herkunft oder Religion rechtfertigen. Es sind nicht Kolleginnen und Kollegen, die aus anderen Ländern kommen, die in „Parallelgesellschaften“ leben. Als Arbeiter*innen leben wir in den selben Stadtteilen und arbeiten in den gleichen Betrieben. Es sind die Reichen und Superreichen, die in Verhältnissen leben, von denen der Rest nur träumen kann.

Das Übel an der Wurzel packen

Wollen wir nicht an der Oberfläche bleiben, müssen wir als tiefere Ursache des Problems letztlich klar den Kapitalismus benennen. Es gilt hier und heute den gemeinsamen Kampf für soziale Verbesserungen und gegen jede Diskriminierung zu führen und mit dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft zu verbinden, die der Ursache von jeder Gewalt zu Leibe rücken wird.

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