Wert und Grenzen von Organizing-Erfahrungen

Kritische Anmerkungen zu Jane McAleveys Buch „Macht. Gemeinsame Sache“

Kaum etwas wird unter Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern in den letzten Jahren so intensiv diskutiert, wie das Thema „Organizing“. Und angewendet. Organizing-Konzepte werden in der einen oder anderen Form unter anderem von IG Metall und ver.di eingesetzt. Zum Beispiel bei den erfolgreichen Streiks der Berliner Krankenhausbewegung im vergangenen Jahr. Dabei fällt immer ein Name: Jane McAlevey.

Die US-amerikanische Gewerkschafts-Organizerin ist unter linken Gewerkschafter*innen in der Bundesrepublik in den letzten Jahren zu einer wichtigen Bezugsperson geworden. Zwei ihrer Bücher wurden durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung im VSA-Verlag veröffentlicht. Auch in der jungen Welt fanden McAleveys Konzepte bisher eine durchgängig positive Rezeption. Dieser Text setzt sich kritisch mit McAleveys Positionen auseinander und bezieht sich dabei vor allem auf die jüngste deutschsprachige Buchveröffentlichung „Macht. Gemeinsame Sache“.

Von Sascha Staničić

Das Buch befasst sich mit mehreren konkreten Erfahrungen von erfolgreichen gewerkschaftlichen Organisierungs-Kampagnen und Arbeitskämpfen in den USA und stellt gleichzeitig Aspekte der Geschichte der US-Gewerkschaftsbewegung und das Phänomen „Union Busting“, also professionell organisierte gewerkschaftsfeindliche Kampagnen, dar.

Es enthält zweifelsfrei viele wichtige Erfahrungen und Tipps für Arbeiter*innen, die in ihren Betrieben eine Gewerkschaftsorganisation aufbauen oder Tarifverträge erkämpfen wollen. McAlevey spricht sich für bestimmte Methoden aus und berichtet, wie diese bei Reinigungskräften, Krankenhausbeschäftigten und Lehrer*innen wichtige Voraussetzungen für gewerkschaftliche Erfolge waren. Leider verabsolutiert sie diese Methoden und stellt sie nicht in einen klaren Zusammenhang zu politischen Faktoren, wie den Charakter von Forderungen, das Verhältnis der Gewerkschaften zu politischen Parteien oder die Rolle und politische Ausrichtung der Gewerkschaftsführungen.Auch wenn McAlevey eine zumindest kapitalismuskritische Haltung einnimmt und sich für demokratisierte Gewerkschaften ausspricht, in denen es eine starke Mitgliederpartizipation geben soll, entwickelt sie keine über das kapitalistische System hinausgehende Perspektive und kein Programm für eine grundlegende Veränderung der Gewerkschaften zu kämpferischen, demokratischen und antikapitalistischen Organisationen. Sie vermittelt aber eine klare Botschaft: gut organisierte Belegschaften können gewinnen! Das ist eine wertvolle und wichtige Aussage, die in der Gewerkschaftsbewegung verbreitet gehört.

Organisationsgrad

Das Problem ist, dass McAlevey bestimmte Methoden verabsolutiert, die nicht in jedem Betrieb, in jeder Branche oder in jedem Arbeitskampf passen müssen.

Für sie sind verschiedene Aspekte entscheidend: Die Organisierung von Belegschaftsmehrheiten, „Strukturtests“ und die Gewinnung der „organischen Führungspersonen“ aus den Belegschaften für den gewerkschaftlichen Kampf.

Sie schreibt: „Streiks funktionieren am besten und erreichen am meisten, wenn sich mindestens 90 Prozent der Beschäftigten beteiligen, zuvor miteinander verständigt sind und sich mit der sie umgebenden ‘Community’ verbündet haben.“ (Seite 29) Der Gedanke, dass man in einem Betrieb die Mehrheit der Beschäftigten organisieren muss und deren (möglichst dokumentierte) Bereitschaft zum Streik, eine Voraussetzung für einen erfolgreichen Arbeitskampf ist, zieht sich durch das Buch. Das mag in den USA angesichts der restriktiven Gewerkschaftsgesetzgebung und der sich von Deutschland sehr unterscheidenden Tarifstruktur nachvollziehbar sein. Dort werden Tarifverträge in der Regel auf betrieblicher Ebene verhandelt und bedarf es eines mehrheitlichen Organisationsgrades, damit eine Gewerkschaft überhaupt anerkannt und damit tariffähig wird.

Das jedoch auf Deutschland zu übertragen, birgt Gefahren und erinnert an die so genannte „bedingungsgebundene Gewerkschaftsarbeit“, die zum Beispiel das Erreichen eines gewissen Organisationsgrads zur Voraussetzung für die Aufnahme von Kampagnen und Vorbereitung von Arbeitskämpfen macht. Es ist keine Frage, dass ein hoher Organisationsgrad eine wichtige Voraussetzung für einen Arbeitskampf sein kann. Das ist aber nicht unbedingt eine notwendige Voraussetzung. Vor allem aber ist es möglich, dass ein solcher Organisationsgrad erst durch Arbeitskampfmaßnahmen selbst erreicht werden kann. So war zum Beispiel ein großer Teil der Gewerkschaftseintritte an den Berliner Krankenhausverbünden Charité und Vivantes im Rahmen der Berliner Krankenhausbewegung 2021 nach Beginn der Arbeitskampfmaßnahmen zu verzeichnen.

Der Gedanke einer neunzigprozentigen Organisierung ist in einem einzelnen Betrieb überschaubarer Größe denkbar und möglich, wie McAlevey selbst darlegt. Aber auch das hängt von den konkreten Bedingungen ab. Als ver.di sich beim Charité Facility Management (CFM – der ausgegliederten und damals teilprivatisierten Service-Tochtergesellschaft des Universitätsklinikums in Berlin) 2011 daran machte, einen Tarifvertrag zu erkämpfen, war nur eine Minderheit der Beschäftigten organisiert. Viele Kolleg*innen hatten nur befristete Arbeitsverträge und trauten sich nicht, der Gewerkschaft beizutreten oder am Arbeitskampf teilzunehmen, einige Reinigungskräfte waren in der IG BAU organisiert, deren Führung den Streik sabotierte. Die kämpferischen ver.di-Aktivist*innen waren aber der Meinung, dass die Lage im Betrieb nur zu verändern ist (und der Organisationsgrad zu erhöhen ist), wenn die Kolleg*innen die Gewerkschaft als ernsthaft kämpfende, also streikende, Organisation erleben. Sie entschieden sich bewusst, auch als Minderheit in den Streik zu treten. Das war richtig.

Bei einem Organisationsgrad von 16 Prozent (in den USA ist er noch niedriger) wäre es völlig falsch, eine mehrheitliche Organisierung als Voraussetzung für die Durchführung von Streiks bei branchenweiten Tarifverhandlungen zu betrachten, wo der Organisationsgrad deutlich niedriger ist, aber auch ein Streik einer Minderheit ausreichenden wirtschaftlichen Schaden und politischen Druck ausüben kann, um erfolgreich zu sein – vor allem wenn die gesamte Gewerkschaftsbewegung durch Solidaritätskampagnen den Streikenden zur Seite steht.

Es gibt aber noch weitere Aspekte, die die Frage des Organisationsgrades etwas komplizierter erscheinen lassen. In Deutschland sagen Gewerkschafter*innen gerne, man müsse so streiken wie in Frankreich und nehmen oft nicht wahr, dass der Organisationsgrad in Frankreich niedriger ist, als in Deutschland. Dort sind dynamische Streikbewegungen in manchen Situationen gerade eher möglich, weil die Gewerkschaften schwächer sind und damit die Bürokratie an ihrer Spitze weniger Kontrolle über Belegschaften ausüben kann. Das spricht nicht gegen starke Gewerkschaften und den Versuch, möglichst viele Kolleg*innen zu organisieren, aber ist ein Hinweis darauf, dass Stärke auch etwas mit der politischen Ausrichtung der Führung und der Selbsttätigkeit der Kolleg*innen selbst zu tun hat. Darum ist es falsch, an diese Frage so verabsolutierend heranzugehen, wie Jane McAlevey es tut.

Strukturtests

Ein weiterer zentraler Gedanke in McAleveys Konzeption ist die Durchführung von Strukturtests durch Gewerkschaftsorganiser*innen bzw. betriebliche Gewerkschaftsgruppen. Damit ist gemeint, die Kampfbereitschaft der Belegschaft durch konkretes Abfragen und niederschwelligere Aktionen zu ermitteln und in diesem Prozess auch die wichtigsten und fähigsten Aktivist*innen zu ermitteln.

Im Fall der in ihrem Buch ausführlich geschilderten Kampagne der Lehrer*innengewerkschaft UTLA von Los Angeles waren das zum Beispiel Kundgebungen, Petitionen, eine Abstimmung über die Erhöhung der Gewerkschaftsbeiträge und anderes. Auch bei der Berliner Krankenhausbewegung hat die Sammlung von Unterschriften der Beschäftigten für die Tarifforderungen von ver.di eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung und Organisierung von Kolleg*innen gespielt. Es ist keine Frage, dass solche „Strukturtests“ eine wichtige Rolle spielen können. Aber auch diese kann man nicht von der Politik und Strategie der Gewerkschaft losgelöst diskutieren. Viele Kolleginnen und Kollegen, gerade in der Industrie und im öffentlichen Dienst, haben in den letzten Jahren in Tarifverhandlungen und auch in politischen Kampagnen der Gewerkschaften nur zu oft die Erfahrung machen müssen, dass Demonstrationen und Warnstreiks von der Gewerkschaftsbürokratie zum Dampfablassen verwendet wurden und keine Bereitschaft zur Organisierung ernsthafter Streiks bestand. Das hat vielfach zu einer schlechten Beteiligung an solchen Aktionsformen geführt, welche aber nicht notwendigerweise Ausdruck mangelnder Kampfbereitschaft war, sondern Ausdruck der Frustration und Desillusionierung mit der Gewerkschaftsführung und der Erfahrung, dass solche Aktionen nicht viel bewirkt haben. Auch dieses Beispiel zeigt, dass die von McAlevey propagierten Methoden nicht wie eine Blaupause auf jede Situation angewendet werden können, sondern ihre Wirksamkeit von der konkreten Situation abhängt. Und dass man die Frage der Erfolgsaussichten eines Kampfes nicht von der politischen Ausrichtung der Führung, dem Charakter der Forderungen (also ob deren Durchsetzung zu wirklichen Verbesserungen für alle Kolleg*innen führen würde und damit mobilisierenden Charakter haben) und der Frage der demokratischen Struktur der Gewerkschaft trennen kann.

Wenn die Kolleg*innen selbst die Kontrolle über ihre Kampagnen und Kämpfe in demokratischen Diskussions- und Entscheidungsprozessen in der Hand halten, werden sie auch das Vertrauen haben, dass niederschwelligere „Strukturtests“ ernst gemeinte Eskalationsstufen und nicht Dampfablass-Aktionen sind.

Partizipation der Beschäftigten in ihren Arbeitskämpfen schreibt auch McAlevey groß und weitet diesen Gedanken auch auf die Tarifverhandlungen selbst aus. Dieses „Big and Open Bargaining“ genannte Konzept soll dazu dienen, eine große Zahl von Beschäftigten direkt in die Tarifverhandlungen einzubinden. Auch daran hatte sich die Berliner Krankenhausbewegung gewagt, die keine separate Verhandlungskommission gewählt hatte, sondern ihre Tarifkommission die Verhandlungen führen ließ – und diese sich unmittelbar mit den in räumlicher Nähe tagenden Teamdelegierten rückkoppeln ließ, was zweifelsfrei ein großer Fortschritt für die Demokratisierung des Arbeitskampfes war. Doch auch hier lohnt sich ein genauer Blick, denn auf eine Einbeziehung aller Streikenden durch ein Votum über den Abschluss auf Streikversammlungen wurde verzichtet. Dass das auch anders möglich ist, zeigte auch der dreimonatige Streik beim Charité Facility Management (CFM) 2011. Hier war es zu einem Verhandlungsergebnis einer gewerkschaftlichen Verhandlungskommission mit dem Arbeitgeber gekommen. Dieses wurde daraufhin auf mehreren Streikversammlungen diskutiert und der Streik so lange fortgesetzt, bis alle Streikenden die Gelegenheit hatten, sich zu beraten und abzustimmen.

Dass die Gewerkschaftsführung demokratische Partizipationsmöglichkeiten auch wieder rückgängig machen kann, wenn sie Sorge hat, die Kontrolle zu verlieren, konnte bei den Sozial- und Erziehungsdiensten in den letzten Jahren beobachtet werden. Hier gab es 2015 noch eine Streikdelegiertenkonferenz, die den damaligen ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske zurückpfiff, als dieser einen schlechten Kompromiss präsentierte. Bei den darauffolgenden Tarifrunden gab es dieses Element von Streikdemokratie nicht mehr.

Die „organischen Führungspersonen“

McAlevey legt großen Wert darauf, dass die gewerkschaftlichen Organiser*innen in den zu organisierenden Belegschaften die „organischen Führungspersonen“ finden und für die Gewerkschaft und den Kampf gewinnen. Damit sind solche Beschäftigte gemeint, die unter den Kolleg*innen eine große Anerkennung genießen, Ansprechpartner*innen bei Problemen sind etc.

Auch dieser Gedanke ist nicht falsch, sollte aber nicht als notwendige Bedingung für eine erfolgreiche gewerkschaftliche Kampagne betrachtet werden. Denn wie soll damit umgegangen werden, wenn die respektiertesten Kolleg*innen Leitungskräfte sind, die konservativer eingestellt sind und sich gegen eine kämpferische gewerkschaftliche Strategie aussprechen? Bedeutet das, dass ein Kampf nicht möglich ist? Und wenn man den Erfolg eines Kampfes so sehr an diese Idee geknüpft hat, besteht dann nicht die Gefahr, dass es zu unnötiger Frustration führt, wenn diese Kolleg*innen nicht überzeugt werden können? Tatsächlich ist es doch so, dass jede Gewerkschaftskampagne und jeder Arbeitskampf eine sehr dynamische Entwicklung ist, in der sich Menschen rasant schnell entwickeln können und dementsprechend auch schnell zu anerkannten Führungspersonen werden können – oder aber auch einfach die entscheidenden Initiativen dafür ergreifen können, dass Kolleg*innen den Hammer fallen lassen. Als 1995 im Kölner Stadtteil Kalk der Traktorenhersteller Deutz-Fahr die Schließung seines Werks ankündigte, gab es große Unruhe in der Belegschaft. Damals wurde ein Solidaritätskomitee in der Nachbarschaft gegründet, das für Streikmaßnahmen argumentierte. Es kam tatsächlich zu einem wilden Streik, also einem Streik, der nicht von der Gewerkschaft ausgerufen oder autorisiert worden war. Die Initialzündung für den Streik gab ein Kollege, der alles andere als eine „organische Führungsperson“, sondern eher ein sehr ruhiger Außenseiter in der Belegschaft war – der aber im richtigen Moment das aussprach, was andere spürten und seine Kolleg*innen zum Streik aufrief.

Outsourcing von Arbeitskämpfen?

Auf eine spezifische Herausforderung, die mit Organizing-Konzepten einher geht, geht McAlevey nicht ein: Die Gefahr, dass nach dem Abzug der von außen kommenden Organiser*innen die gewerkschaftlichen Strukturen nicht aufrecht erhalten werden können, weil Organiser*innen wieder abgezogen werden. In besonderem Maße stellt sich das angesichts der Tatsache, dass in der Bundesrepublik diese Organizer*innen teilweise von einer privaten Dienstleistungsfirma namens „Organizi.ng“ angeheuert werden. Bei der Berliner Krankenhausbewegung entstand so die Gefahr, dass diese Firma Organiser*innen hätte abziehen müssen, weil sie schon für das nächste Projekt gebucht waren, obwohl das Ende des Streiks noch gar nicht ausgemacht war.

Dass es grundsätzlich mehr als fragwürdig ist, wenn Gewerkschaften externe Firmen zur Organisierung von Arbeitskämpfen anheuern und das alleine ein Widerspruch zu Arbeiter*innenkontrolle und Gewerkschaftsdemokratie ist, ist ein Thema für sich. Dass das Organizing-Konzept, unabhängig davon ob die Organiser*innen bei der Gewerkschaft oder einer externen GmbH beschäftigt sind, die Gefahr mangelnder Nachhaltigkeit beinhaltet, wird in den Debatten bisher jedenfalls zu wenig beleuchtet.

Für kämpferische Gewerkschaften

Jane McAlevey hat wertvolle Erfahrungen zu Papier gebracht und das Buch ist zu empfehlen. Ihr Organizing-Konzept verabsolutiert jedoch organisatorische Methoden und legt zu wenig Wert auf die Frage der politischen Ausrichtung und des Charakters der Gewerkschaften. Die Begriffe Bürokratie und Sozialpartnerschaft kommen nicht vor.

Aus ihren Beispielen wird zwar deutlich, dass sie für eine konfliktorientierte Gewerkschaftspolitik und demokratische Strukturen steht und sie verweist positiv auf das Beispiel der Gewerkschaftsorganisation Local 1199NE, in der die hauptamtlichen Funktionär*innen nicht mehr verdienen dürfen als den durchschnittlichen Tariflohn der Gewerkschaftsmitglieder. Aber sie leitet daraus kein politisches Programm für die Veränderung der Gewerkschaften zu kämpferischen und demokratischen Organisationen ab und definiert nicht die Existenz einer in das kapitalistische System integrierten Gewerkschaftsbürokratie als Problem, das überwunden werden muss. Folglich kommt die Frage der Vernetzung von kämpferischen, linken Aktivist*innen und die Notwendigkeit des Aufbaus innergewerkschaftlicher Oppositionsstrukturen in McAleveys Buch nicht vor. Hier lohnt es sich, den Blick statt über den Atlantik über den Ärmelkanal zu richten, wo sich seit Monaten eine Streikwelle ereignet und Belegschaften, wie die Liverpooler Hafenarbeiter*innen oder die Müllwerker*innen der Stadt Coventry, teils beeindruckende Erfolge erzielen konnten. In den von Margaret Thatchers Anti-Streik-Gesetzen stark geschwächten britischen Gewerkschaften hatte es in den letzten Jahren wichtige politische Verschiebungen hin zu einer Stärkung linker Kräfte in den Vorständen gegeben, zuletzt drückte sich das 2021 in der Wahl von Sharon Graham zur Generalsekretärin der zweitgrößten britischen Gewerkschaft UNITE aus. Eine nicht geringe Rolle bei diesen Entwicklungen auf der Insel spielten die dort traditionell existierenden linken Zusammenschlüsse innerhalb der Gewerkschaften und das National Shop Stewards’ Network (NSSN – nationales Netzwerk von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten). Organisierte Zusammenschlüsse kämpferischer und linker Gewerkschafter*innen können eine wichtige Voraussetzung sein, die Macht und die politische Ausrichtung der pro-kapitalistischen Gewerkschaftsbürokratie herauszufordern und politische und personelle Alternativen zu formulieren. In der Bundesrepublik waren das in der Vergangenheit oftmals nur auf betrieblicher Ebene Gruppen, wie die „Gewerkschafter ohne Grenzen (GOG)“ bei Opel Bochum oder die Alternative-Gruppen in Daimler-Niederlassungen. Mit der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) existiert seit 2019 ein, wenn auch noch bescheidener, Ansatz für eine solche Vernetzung auch in deutschen Gewerkschaften.

Obwohl McAlevey die Gewerkschaft als gesellschaftspolitische Akteurin betrachtet, die zum Beispiel auch im Kampf gegen den Klimawandel eine zentrale Rolle spielen soll, zieht sie keine konsequenten politischen Schlussfolgerungen. So sehr sie zum Beispiel den offen neoliberalen „Wall Street“-Flügel der Demokratischen Partei kritisiert, stellt sie die grundsätzliche Verbindung vieler US-Gewerkschaften zu den Demokrat*innen nicht in Frage und wirft die Notwendigkeit einer politischen Interessenvertretung der Arbeiter*innenklasse, also einer Arbeiter*innenpartei, nicht auf.

McAleveys Ideen und Vorschläge sollten diskutiert, aber nicht einfach eins zu eins übernommen werden. Dann kann die Auseinandersetzung mit ihnen einen Beitrag zum Wiederaufbau der Gewerkschafts- und Arbeiter*innenbewegung leisten.

Sascha Staničić ist Bundessprecher der Sozialistischen Organisation Solidarität (Sol) und Unterstützer der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG).

Dieser Artikel erschien heute unter dem Titel „Keine Blaupause“ in der Tageszeitung junge Welt. Eine Kurzfassung ist im Magazin „sozialismus heute“ der Sol zu finden.