Neue Herausforderungen und Aufgaben für Marxist*innen und die Arbeiter*innenklasse
Nachfolgende Resolution wurde beim Treffen des Internationalen Vorstands des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) verabschiedet, das im Januar in London stattfand. An dieser Versammlung nahmen über vierzig Teilnehmer*innen aus den USA, Chile, Nord- und Südirland, Schottland, England und Wales, Deutschland, Österreich, Frankreich. Nigeria, Südafrika, Malaysia, Indien und Sri Lanka teil.
1. Die kapitalistische Gesellschaft ist erschüttert und in Aufruhr. Marxist*innen und die Arbeiter*innenklasse stehen vor einer der herausforderndsten Perioden der Geschichte. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir die sich entfaltenden Prozesse analysieren und uns den theoretischen und programmatischen Herausforderungen stellen, zusammen mit dem aktiven Eingreifen in den Klassenkampf, das notwendig ist, um eine revolutionäre sozialistische Massenalternative aufzubauen. Das CWI (Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale – Committee for a Workers’ International ) wird in jedem Aspekt unserer Arbeit auf die Probe gestellt werden. Wir müssen darauf vorbereitet sein, uns den Herausforderungen und Chancen zu stellen, die sich in dieser Ära des langwierigen Todeskampfes des Kapitalismus stellen. Es ist nicht möglich, jeden Aspekt der sich entfaltenden Weltlage zu analysieren oder zu kommentieren, angesichts der rasanten Geschwindigkeit der Ereignisse und des Umfangs der globalen Ereignisse. Wir können nur auf die wichtigsten Trends eingehen und die notwendigen Schlussfolgerungen daraus ziehen.
2. Das kapitalistische Gleichgewicht ist in all seinen Aspekten zerbrochen: wirtschaftlich, geopolitisch, sozial und in den Klassenbeziehungen. Erschütterungen und Unruhen sind die Folge davon und spiegeln sich in einer starken Polarisierung auf allen Kontinenten wider. In einigen Ländern kommt es zu einem Aufschwung des Klassenkampfes, aber auch zu nationalen und ethnischen Konflikten, Kriegen (sowohl militärischer Form als auch als Handelskriege). In einigen Ländern kommt es zu starken sozialen Zerfallserscheinungen oder gar zum Zusammenbruch der Gesellschaft. Das ist das Zeitalter, in dem wir jetzt leben.
3. Der Optimismus und die Hoffnung, die der Kapitalismus Mitte des 20. Jahrhunderts ausstrahlte und die der Zusammenbruch der ehemaligen stalinistischen Staaten 1990/1 erneut zu versprechen schien, haben sich aufgelöst. Jede Aussicht auf eine Rückkehr zu jenen Epochen relativer kapitalistischer Stabilität ist eine Utopie. Die Merkmale von Revolution und Konterrevolution sind nun in einem langwierigen Kampf miteinander verbunden. Die Herausforderung, vor der die Arbeiter*innenklasse und Marxist*innen stehen, besteht darin, durch eine revolutionäre sozialistische Alternative einen Weg nach vorn zu finden.
4. Das Wesen der neuen Ära, so haben wir argumentiert, wird nun von dem dissidenten bürgerlichen politischen Ökonomen Nouriel Roubini in seinem jüngsten Buch “Megathreats” auf den Punkt gebracht. “Wir stehen vor einem Regimewechsel von einer Periode relativer Stabilität zu einer Ära schwerer Instabilität, von Konflikten und Chaos. Wir sind mit Megabedrohungen konfrontiert, wie wir sie noch nie zuvor erlebt haben – und sie sind miteinander verknüpft. Wir taumeln am Abgrund, der Boden unter uns bebt. Dennoch glauben die meisten von uns immer noch, dass die Zukunft der Vergangenheit ähneln wird. Das ist ein gewaltiger Irrtum. Die neuen Warnzeichen sind deutlich und überzeugend. Wirtschaftliche, finanzielle, technologische, handelspolitische, politische, geopolitische, gesundheitliche und ökologische Risiken haben sich zu etwas viel Größerem gewandelt. Willkommen in der Ära der Megabedrohungen: Sie werden die Welt, die wir zu kennen glaubten, verändern.”
5. Wie das CWI in früheren Analysen dargelegt hat, steht der Kapitalismus vor einer Reihe von vielfältigen und miteinander verbundenen Krisen. Roubini bietet zwar eine weitgehend zutreffende Einschätzung der Zukunft des Kapitalismus, hat aber im Gegensatz zu Marxist*innen keine Alternative zum derzeitigen Marktsystem.
6. Der Charakter dieser Phase des Kapitalismus wird durch den relativen Niedergang des US-Imperialismus, der nach wie vor die stärkste Macht ist, und den Aufstieg des chinesischen Staatskapitalismus in Verbindung mit einer lang anhaltenden Krise der Weltwirtschaft untermauert. Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2007/8 einsetzte, markierte einen Wendepunkt in der Geschichte des Kapitalismus. Trotz einiger kurzer, flacher Aufschwünge begann eine neue Periode lang anhaltender Krisen.
7. Die Krise nach 2008 ist bereits eine der längsten in der blutigen Geschichte des Kapitalismus. Dennoch scheint es kein Ende der Aussicht zu geben, dass das System von einer Krise in die nächste stolpert. Die von der herrschenden Klasse nach 2007/8 ergriffenen Maßnahmen haben neue Probleme wie die Schattenfinanzsysteme mit sich gebracht, die die Stabilität weiter untergraben. Alle vorherrschenden Trends und Anzeichen deuten auf eine lang anhaltende, langwierige Serie von tieferen Krisen hin, die von kurzen, flachen und schwachen Aufschwüngen unterbrochen werden. Dies bedeutet ein höheres Maß an Ausbeutung und Elend für die Arbeiter*innenklasse und die Mittelschicht weltweit. Doch welche Auswirkungen hat dies in wirtschaftlicher und vor allem in politischer und sozialer Hinsicht?
8. Wenn der Kapitalismus in der Vergangenheit in eine solche Sackgasse geriet, führte dies zu Kriegen und Konflikten wie dem Krieg von 1914-18 und zur Zerstörung der Produktivkräfte. Der Zweite Weltkrieg, verbunden mit dem Erstarken der stalinistischen Staaten, und andere Faktoren ermöglichten dem System einen “Neustart” und leiteten eine Periode beispiellosen Wachstums und Entwicklung ein, die fast drei Jahrzehnte später endete. Dennoch ist die Aussicht auf einen Weltkrieg heute aufgrund politischer Faktoren, dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und der Gefahr, dass sich ein Weltkonflikt zu einem nuklearen Armageddon entwickelt, nicht gegeben. Lokale und regionale Kriege, wie wir sie in der Ukraine, in Afrika und anderswo erleben, finden jedoch statt und werden in dieser Epoche fortgesetzt.
9. Dem Marxismus wurde in der Vergangenheit zu Unrecht vorgeworfen, er sage eine “Endkrise” des Kapitalismus voraus. Dies war nie die Methode von wirklichem Marxismus, der erklären würde, dass der Kapitalismus überleben wird, wenn er nicht von der Arbeiter*innenklasse gestürzt wird. Auch wenn die gegenwärtige Periode nicht als “letzte Krise” des Kapitalismus definiert werden kann, so ist die Krise doch so langwierig und tief wie nie zuvor. Dies wird sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht neue Fragen aufwerfen. Einige davon sind in der Weltlage bereits vorhanden, andere werden sich erst zeigen.
10. Eine langwierige Krise bedeutet nicht, dass es keine kurzen Phasen des BIP-Wachstums geben kann. Gegenwärtig verzeichnet die Weltwirtschaft ein leichtes Wachstum, das allerdings geringer ausfällt als erwartet. Das Wachstum ist 2022 geringer als 2021, als es 5,7 Protent betrug, aber die Erwartungen für 2022 wurden von 4,1 Prozent auf etwa zwei Prozent gesenkt. Alles deutet auf eine Rezession im Jahr 2023 hin, möglicherweise sogar auf eine Depression – in einigen Ländern ist eine wirtschaftliche Depression sehr wahrscheinlich. Wie aus dem jüngsten IWF-Bericht hervorgeht, verlangsamen sich alle Hauptmotoren des globalen Wachstums – die USA, Europa und China. Die chinesische und die indische Wirtschaft wachsen zwar weiter, aber langsamer. Die sich abzeichnende Krise wird dazu führen, dass selbst dieses geringere Wachstum mittelfristig nicht aufrechterhalten werden kann. Mindestens ein Drittel der Weltwirtschaft wird sich 2023 voraussichtlich in einer Rezession befinden, und darüberhinaus “würde es sich für Hunderte von Millionen Menschen wie eine Rezession anfühlen”, wie es der IWF ausdrückt.
Nicht wie andere Krisen
11. Während der Pandemie gingen Millionen von Arbeitsplätzen verloren. Diese Krise hat, wie alle anderen auch, ihre eigenen Merkmale und Unterschiede zu früheren Krisen. In früheren Krisen schrumpfte das BIP und die Arbeitslosigkeit stieg. In dieser Krise ist das BIP in den USA und in anderen Ländern bis jetzt geschrumpft, aber die Arbeitslosigkeit ist bei einem Mangel an Arbeitskräften relativ niedrig geblieben. Die Situation in der neokolonialen Welt ist etwas anders. In früheren Krisen lagen die Gewinnsteigerungen der US-Unternehmen außerdem im einstelligen Bereich. Heute liegen sie im zweistelligen Bereich. Hinzu kommt, dass die großen Unternehmen in den USA mehr als vier Billionen US-Dollar in bar gebunkert haben. Das bedeutet nicht, dass die Krise weniger schwerwiegend ist. Im Gegenteil, trotz des Vorhandenseins von Niedriglohnjobs in den wichtigsten imperialistischen Ländern und einigen anderen Ländern besteht eine tiefe systemische Krise. Die niedrige Arbeitslosigkeit bei Rückgang des BIP wird nicht unbegrenzt anhalten. In vielen Ländern wird der Beginn einer neuen Rezession dieses Mal zu einer harten Landung mit massiven Arbeitsplatzverlusten führen. Dies könnte sich irgendwann zu einer globalen harten Landung entwickeln.
12. Die Weltbank warnt in ihrem jüngsten Bericht vor einer neuen weltweiten Rezession. Alle prognostizierten Wachstumszahlen wurden nach unten korrigiert. Die Wachstumsprognosen für die Industrieländer wurden von 2,5 Prozent im Jahr 2022 auf 0,5 Prozent im Jahr 2023 nach unten korrigiert. Die USA stehen nun am Rande einer Rezession, da das Wachstum nur noch 0,5 Prozent betragen soll – 1,9 Prozentpunkte weniger als bisher prognostiziert. China war bisher eine der Lokomotiven der Weltwirtschaft, aber die Verlangsamung hat bereits entscheidende Auswirkungen. Dies kann durch die Auswirkungen der COVID-Pandemie, die in China wieder aufgetreten ist, noch verstärkt werden. Die Verbraucherausgaben sind um sechs Prozent gesunken. Zwar könnte die Öffnung der Wirtschaft zu einer gewissen Erholung führen. Aber wie man im kapitalistischen Westen gesehen hat, kann dies instabil und unsicher sein, insbesondere wenn es zu einer Explosion von COVID-Infektionen kommt, was wahrscheinlich ist. Der IWF geht nun davon aus, dass die chinesische Wirtschaft zum ersten Mal seit vierzig Jahren nur entsprechend oder unter dem Wachstum der Weltwirtschaft wachsen wird. Der jüngste Einbruch an den Finanzmärkten spiegelt den Pessimismus wider, der jetzt herrscht.
13. Die gegenwärtige Krise unterscheidet sich auch in einem anderen entscheidenden Aspekt von früheren Krisen. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Konjunkturzyklen im Allgemeinen begrenzt und von kurzer Dauer (z. B. in den 1970er Jahren), und die Verschuldung der imperialistischen Länder war gering. Dies ist heute nicht mehr der Fall. Die Gefahr einer Rezession oder Depression geht einher mit einer Explosion der Verschuldung in den wichtigsten imperialistischen Ländern. Dies ist ein neues Element, das für die wirtschaftlichen Perspektiven von entscheidender Bedeutung ist. Die “Mutter aller Schuldenkrisen” steht vor der Tür.
Schuldentsunami
14. Ende 2021 betrug die weltweite Verschuldung – öffentlich und privat – über 350 Prozent des weltweiten BIP! Im Jahr 1999 waren es 220%. In den imperialistischen Ländern und sogar in den meisten neokolonialen Ländern hat die Schuldenquote nie auch nur annähernd dieses Niveau erreicht. In den imperialistischen Ländern liegt die Schuldenquote bereits bei 420 Prozent des BIP, Tendenz steigend! Der kommende Schulden-Tsunami wird auch China nicht verschonen, wo der Schuldenberg bereits 330 Prozent erreicht hat.
15. Argentinien ist der Vorreiter in Sachen “Schuldenmanagement”. Im August 2020 geriet das Land zum vierten Mal seit 1980 und zum neunten Mal in seiner Geschichte mit der Rückzahlung von Schulden in Verzug. Das Land ist immer noch mit 300 Milliarden US-Dollar verschuldet, was in etwa der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes im Jahr 2020 entspricht. Außerdem wird das Land von einer Inflation heimgesucht, die im Jahr 2023 voraussichtlich bei über fünfzig Prozent liegen wird.
16. Heute ähnelt die Weltwirtschaft als Ganzes immer mehr dem kränkelnden Argentinien! Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass es weltweit oder zumindest in einer Reihe von Ländern zu Umwälzungen kommen kann im Ausmaß jener, die Argentinien in seiner Geschichte der Schuldenkrisen erschüttert haben. Sri Lanka, wo die Schuldenkrise eine zentrale Frage war, ist ein Vorgriff auf das, was anderswo auf uns zukommt. Der jüngste Anstieg der Zinssätze hat bereits dazu geführt, dass die ärmsten Länder ihre Rückzahlungen um 35 Prozent erhöhen mussten – ein lähmender Anstieg für die ärmsten Länder. Der Anstieg der Zinssätze bedeutet in Wirklichkeit das Ende der Ära des “billigen Geldes” in dieser Phase und verschärft den rezessiven oder depressiven Druck weltweit. Die lange Zeit des “billigen Geldes” entsprach einer Ära nach dem Zusammenbruch der ehemaligen stalinistischen Staaten, der Tatsache, dass China ein Zentrum der Niedriglohnproduktion war, und anderen Faktoren. Heute ist die Weltlage eine völlig andere. Jede mögliche Rückkehr zu niedrigen Zinssätzen oder “billigem Geld” wird nur von kurzer Dauer sein und nicht die gleiche Wirkung haben wie in der vergangenen Ära.
17. Die Gefahr eines Schulden-Tsunamis besteht vor dem Hintergrund der Rückkehr der Inflation in allen Ländern und der daraus resultierenden Krise der Lebenshaltungskosten. Nach der Krise von 2008 war der Deflationsdruck das vorherrschende Merkmal, und die Verschuldung war geringer als heute. Der Unterschied im Jahr 2023 besteht in der Gefahr einer Rezession/Depression mit einer Inflationsspirale und der Explosion der weltweiten Verschuldung. Dies sind entscheidende Unterschiede mit brandgefährlichem Charakter. Die Gefahr einer Stagflation nach argentinischem Vorbild ist jetzt für einige Länder im Jahr 2023 und darüber hinaus eine reale Möglichkeit. Es ist unwahrscheinlich, dass dies in allen Ländern gleichermaßen der Fall sein wird, aber es könnte sich in der gesamten Weltwirtschaft in größerem Umfang entwickeln. Politische Faktoren können in einigen Ländern dazu führen, dass die herrschende Klasse eine Schuldenkrise vorübergehend “managt”. Dies ist jedoch wie Feuerlöschen bei einer Krise, die irgendwann explodieren wird.
18. Der Inflationsschub ist nicht durch steigende Löhne, sondern durch die frühere Geldpolitik verursacht worden und wird durch die in die Höhe schießenden Staatsausgaben/Schulden während der Pandemie, die Lieferkettenprobleme, den Ukraine-Krieg und andere Faktoren verstärkt. Er wird für die Kapitalist*innenklasse kein kurzfristiges Problem sein. Die Möglichkeit einer Rückkehr der Hyperinflation, insbesondere in einigen neokolonialen Ländern, ist gegeben.
19. Während der Lebensstandard für die Masse der Weltbevölkerung gesunken ist, sind die Unternehmensgewinne und der Reichtum der Superreichen explodiert. In den USA waren die Unternehmensgewinne in der ersten Jahreshälfte so hoch wie seit den 1950er Jahren nicht mehr. Das Gleiche gilt für andere Länder. Unter anderem wegen des Krieges in der Ukraine stiegen die Gewinne der sieben größten Ölfirmen der Welt im Jahr 2022 um 150 Milliarden Pfund! Die großen Konzerne haben in der vergangenen Zeit Milliarden gehortet, während nur minimale Investitionen getätigt wurden. Einigen Berichten zufolge sind diese gehorteten Beträge von 1,6 Billionen US-Dollar im Jahr 2000 auf etwa sechs Billionen US-Dollar Ende 2022 gestiegen.
20. Das lang erwartete “grüne Wachstum”, von dem Teile der bürgerlichen und kleinbürgerlichen “Linken” behaupteten, es würde dem Kapitalismus einen Rettungsanker bieten, hat sich als äußerst begrenzt erwiesen. Die Einführung von Projekten für erneuerbare Energien erfordert enorme Investitionen, die der Kapitalismus in dieser Zeit nicht bereit ist zu tätigen. Roubini argumentiert, dass die Entwicklung dieses Sektors die Kosten für die zur Herstellung der Produkte benötigten Metalle in die Höhe getrieben und das ausgelöst hat, was er als “grüne Inflation” bezeichnet. Im Zuge der Krise sind einige Länder wie China, das Vereinigte Königreich und andere zur Kohleförderung zurückgekehrt oder haben diese ausgeweitet.
21. Megaprojekte wie “The Line” in Saudi-Arabien, die den Bau einer autofreien Stadt ohne Straßen und ohne Umweltverschmutzung versprachen, werden gekürzt oder gestrichen, bzw., wie im Fall von “The Line”, werden nicht abheben. Das bedeutet nicht, dass es keine Investitionen in diesem Bereich geben wird, aber sie werden begrenzt sein und keinen Ausweg aus der Krise bieten. Dänemark, das voraussichtlich in einigen Jahren eine hundertprozentige nachhaltige Energieversorgung aus Windkraftanlagen erreichen wird, wird eher die Ausnahme als die Regel sein.
22. Es gibt noch einen weiteren Aspekt der aktuellen Weltlage, mit der der Kapitalismus konfrontiert ist. Es gibt eine beschleunigte Entwicklung und einen intensiven Wettbewerb in neuen Bereichen wie Künstliche Intelligenz (KI), Robotik, Quantencomputer und Nanotechnologie usw. Die Folgen dieser Entwicklungen werden, wenn sie zur Anwendung kommen, explosive Auswirkungen haben, da Millionen von Arbeitsplätzen, auch in den mittleren Beschäftigungssektoren, durch neue Technologien ersetzt werden. Die technischen und wissenschaftlichen Fortschritte können mit der Fähigkeit des Kapitalismus kollidieren, sie überhaupt auf einer allgemeinen Basis umzusetzen und anzuwenden. Es werden enorme Investitionen getätigt, um diese Sektoren zu entwickeln, und es herrscht ein intensiver Wettbewerb zwischen den USA und China um die Erforschung dieser Sektoren.
23. Es ist jedoch ungewiss, wie der Kapitalismus in der Lage sein wird, sie in der gesamten Wirtschaft einzuführen, insbesondere während einer Rezession und vor allem angesichts der hohen Investitionskosten, die dafür erforderlich sind. Sie werden nicht die Grundlage für eine vierte industrielle Revolution bilden, die dem globalen Kapitalismus einen Ausweg eröffnet. Doch selbst dort, wo sie eingesetzt werden, werden sie die grundlegenden Widersprüche des Systems nicht überwinden können. Im Gegenteil, sie werden die Probleme des Kapitalismus noch vergrößern. Die massiven Arbeitsplatzverluste, Störungen und Verwerfungen, die mit der Einführung der Technologie einhergehen, werden explosive und potenziell revolutionäre Entwicklungen auslösen. Sie werden auch entscheidende Fragen für den Aufbau und die Organisierung der Gewerkschaften und der Arbeiter*innen bewegung aufwerfen. Die wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte, die stattgefunden haben, können sich potenziell enorm positiv für die Menschheit auswirken. Der Kapitalismus wird aber nicht in der Lage sein, sie zum Nutzen der Masse der Bevölkerung einzusetzen. Ein demokratischer sozialistischer Plan auf globaler Ebene würde durch die potenziellen Entwicklungen in Wissenschaft und Technik enorm aufgewertet werden und davon profitieren.
24. Die Spekulationsblasen in der Weltwirtschaft, die das enorme Gewicht des Finanzkapitals widerspiegeln, sind in einigen Sektoren geplatzt, was zeigt, wie instabil die zugrunde liegende Situation ist. Die Anleger*innen haben im schlimmsten Jahr für die globalen Finanzmärkte seit 2008 eine Talfahrt hinter sich. Globale Aktien haben im Jahr 2022 etwa ein Fünftel ihres Wertes verloren. Technologie- und Kryptoaktien stürzten im Wert ab. Apple verlor 27 Prozent seines Aktienwertes, Amazon halbierte sich und Tesla verlor zwei Drittel seines Wertes.
Amazon und andere Megakonzerne
25. Das massive Wachstum von Megakonzernen wie Amazon, Apple, Facebook, USP, Walmart und anderen, deren Tentakel den ganzen Planeten umspannen, ist ein Merkmal der aktuellen Phase des Imperialismus. Sie haben sich zu gewaltigen, mächtigen Gebilden entwickelt, deren wirtschaftlicher Umsatz größer ist als der vieler Nationalstaaten. Sie haben einige Merkmale von Elementen eines fast virtuellen Staates angenommen.
26. Diese globalen Maschinen werden in einer Zeit des zunehmenden Protektionismus und der nationalen Regulierung nicht geneigt sein, Einschränkungen und Begrenzungen zu akzeptieren, die ihnen von nationalen Regierungen oder Staaten auferlegt werden. Dies ist ein extremes Beispiel dafür, wie die Entwicklung des Kapitalismus in Widerspruch zu den vom Nationalstaat auferlegten Beschränkungen geraten ist. Es handelt sich nicht um einen neuen “Superimperialismus”, aber er kann zu neuen Wendungen in der Situation führen. Es könnte die Möglichkeit bestehen, dass sie gemeinsam handeln, um ihre eigenen Interessen zu verteidigen. Es könnte zu zweistufigen Regierungssystemen führen, in denen sie von einigen nationalen Regelungen oder Kontrollen ausgenommen sind. Ein Element davon existiert bereits in einigen Ländern in Freihandels- und anderen Sonderwirtschaftszonen, die gebildet wurden. Amazon hat die Frage firmeneigener Städte aufgeworfen! Ein Autor von Bloomberg UK stellte sogar die Frage, warum Amazon und Facebook nicht einen Sitz bei der UNO erhalten sollten – so mächtig sind sie geworden. Die Aufgabe, diese Arbeitsplätze gewerkschaftlich zu organisieren, ist dringender denn je. Diese Aufgabe wird nicht einfach sein, aber der Prozess hat bereits begonnen.
Die Kapitalist*innen und das Fehlen eines Programms der Linken
27. Die herrschenden Klassen hatten keine kohärente Politik und kein Programm, um einen Ausweg aus der Krise zu finden. Durch massive staatliche Interventionen und Ausgaben, vor allem während der Pandemie, haben sie Maßnahmen ergriffen, um einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern, und in der Tat eine Politik verfolgt, die Probleme nicht löst, sondern sie bestenfalls auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt. Dies hat jedoch seine Grenzen und verhindert nicht, dass die Krise jetzt zuschlägt. Selbst mit erhöhten Staatsausgaben und Interventionen können sie den Widerspruch zwischen dem sinkenden Lebensstandard und der Notwendigkeit, einen riesigen zusätzlichen Markt zu schaffen, um den Weg für einen Wirtschaftsboom zu ebnen, letztlich nicht überwinden.
28. Vermeintlich “neue” Ideen zur Bewältigung der Krise, wie “Modern Monetary Theory”, werden angesichts der sich entfaltenden Krise als “Wunschdenken” entlarvt. Ideen wie “Degrowth” sind angesichts der Tiefe der Krise des globalen Kapitalismus völlig utopisch. Sie alle werden innerhalb des kapitalistischen Systems formuliert und keine von ihnen stellt die Herausforderung dar, aus diesem System auszubrechen. Sie schlagen alle vor, innerhalb der Grenzen des Kapitalismus zu operieren, der sich in einer Systemkrise befindet. Sie sind ein blasses Abbild der linksreformistischen Politik der Vergangenheit, die zumindest die Idee eines alternativen sozialistischen Systems zum Kapitalismus vertrat.
Multipolare Welt, “Deglobalisierung” und regionale Blöcke
29. Der Prozess der “Deglobalisierung” setzt sich mit der Zunahme von Handels- und Zollkonflikten fort. Die US-Wirtschaft ist zunehmend protektionistisch eingestellt. Wie weit die “Deglobalisierung” geht, ist angesichts der Interdependenz der Weltwirtschaft ungewiss. Es ist jedoch eine deutliche Tendenz in diese Richtung festzustellen. Ein Trend zur Balkanisierung der Weltwirtschaft ist im Gange. Als Folge des Endes einer unipolaren Welt bilden sich geopolitisch instabile Blöcke und Neuordnungen. Diese können auch zusammenbrechen, wenn sich interne Spannungen und Spaltungen entwickeln.
30. Auf der einen Seite versuchen der westliche Imperialismus und die USA, Gruppierungen und Schleusen als Gegengewicht zu dem aufzubauen, was nun offiziell als “systemische Herausforderung” Chinas bezeichnet wird. Die Gruppierung AUKUS im indo-pazifischen Raum wurde eigens zu diesem Zweck ins Leben gerufen. China hingegen treibt die Stärkung seines Einflusses auf globaler Ebene voran. Auch dies hat zu Spannungen und Spaltungen unter den westlichen Mächten geführt. Mittelmächte wie Saudi-Arabien, Indien und die Türkei passen sich an die multipolare Welt an, indem sie direkte Beziehungen zu China und Russland sowie den USA aufbauen. Andere Blöcke sind ebenfalls im Entstehen oder bereits vorhanden. Alle haben ihre eigenen inneren Widersprüche und sind instabil. Die BRICS-Staaten werden durch den Antrag Argentiniens auf Beitritt gestärkt.
31. Mercosur wiederum ist jedoch gespalten, da Uruguay aus der Reihe tanzt und versucht, Verhandlungen über Handelsbeziehungen auf globaler Ebene zu starten. Im Nahen Osten sind große Veränderungen in den zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Regimes im Gange. Die äußerst instabile Lage dort kann durch den Wahlsieg der Rechtsextremen in Israel dramatisch verkompliziert werden. Innerhalb der EU gibt es unterschwellige Spannungen und Spaltungen, die im Ukraine-Krieg zutage getreten sind. Diese können sich bei einer neuen wirtschaftlichen Rezession oder einem starken Abschwung noch verstärken.
32. Es ist auch möglich, dass die Zunahme von Handels- und Zollkonflikten mit dem Ausbruch von Währungskriegen einhergehen könnte. Der US-Dollar bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt die wichtigste Weltwährung. Er kann jedoch geschwächt und in Frage gestellt werden. China versucht, sich so weit wie möglich vom Dollar abzukoppeln und andere Länder, die unter seinem Einfluss stehen, in dieselbe Richtung zu ziehen. In Zeiten einer tiefen Wirtschaftskrise mit instabilen Währungsmärkten verstärkt sich der Trend, Reserven in Gold zu halten. Bezeichnenderweise gab es 2022 den größten Goldankauf durch die Zentralbanken seit 55 Jahren, was darauf hindeutet, dass einige Regierungen ihre Reserven vom Dollar weg diversifizieren. Dies spiegelt die geopolitische Lage und die Unsicherheit über die Zukunft wider. Auch andere Währungskrisen könnten ausbrechen. Die Rezession in Europa könnte zu einer weiteren Krise des Euro führen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass Italien mit einer Schuldenquote von 150 Prozent des BIP konfrontiert ist.
33. Die Tiefe und Langwierigkeit der Systemkrise, in der sich der Kapitalismus jetzt befindet, bedeutet, dass die Arbeiter*innenklasse und Marxist*innen auf größere Schocks und Umwälzungen in noch größerem Ausmaß vorbereitet sein müssen, als wir sie während und seit der Pandemie erlebt haben. Das Zusammentreffen einer Reihe von Mehrfachkrisen birgt die Aussicht auf Turbulenzen und Erschütterungen von historisch einmaligem Ausmaß. Ein weltweiter wirtschaftlicher Zusammenbruch kann in diesem Jahrzehnt nicht ausgeschlossen werden, was zu beispiellosen sozialen, politischen und nationalen Aufständen und Umwälzungen führen würde.
34. Die Arbeiter*innenklasse befindet sich weltweit in einer Krise der politischen Führung. Es gibt auch eine Krise der Führung der Kapitalist*innenklasse. Wie diese Krise der Führung der Arbeiter*innenklasse, der Organisation und des politischen Bewusstseins gelöst werden kann, ist die bestehende Aufgabe. Hier haben das CWI und seine Kader eine historische Verantwortung, der sie sich stellen müssen.
Rückschläge für Putin im Ukrainekrieg
35. Der Niedergang des US-Imperialismus und der Aufstieg Chinas sowie der Konflikt zwischen ihnen beherrschen die geopolitische Weltlage. Ersteres ist von Polarisierung, Spaltung und Elementen des Bürgerkriegs geprägt. China sieht sich mit einem wirtschaftlichen Abschwung und den Anfängen einer sozialen und politischen Krise unter Xi Jinpings besonderer Form eines bonapartistischen staatskapitalistischen Regimes konfrontiert. Ein Charakteristikum dieser Epoche spiegelt sich im Krieg in der Ukraine wider, der ein Produkt der neuen Weltlage ist.
36. Putin hat sich gewaltig verkalkuliert, als er das Ausmaß des Widerstands der Ukrainer sowie die Entschlossenheit des westlichen Imperialismus, sein Regime bei dieser Gelegenheit zu untergraben und zu schwächen, unterschätzte. Einige würden die Gelegenheit überhaupt gerne nutzen, um das Ende seines Regimes herbeizuführen. Der Konflikt war äußerst blutig, mehr als 125.000 Ukrainer wurden getötet, und Millionen von Menschen sind ins Exil geflüchtet. Ebenso viele – wenn nicht mehr – Russen wurden getötet und sind ins Exil geflohen. Dieser Konflikt hatte bereits entscheidende Auswirkungen auf die geopolitischen Beziehungen und die Politik.
37. Russland hat unerwartete militärische Rückschläge erlitten, die zum Teil auf die hohe Moral auf ukrainischer Seite – die sich in einer niedrigen Moral auf russischer Seite widerspiegelt -, schwere und moderne Waffen, die vom westlichen Imperialismus geliefert wurden, und auch auf den schlechten Zustand der russischen Armee zurückzuführen sind, der sich im Konflikt gezeigt hat. Es bleibt ungewiss, wie sich der Krieg nun entwickeln wird. Seit Cherson an die Ukrainer fiel, herrscht auf dem Schlachtfeld eine Pattsituation.
38. Angesichts einer Reihe von militärischen Rückschlägen haben die russischen Streitkräfte ihre Strategie der Raketenangriffe verstärkt, die darauf abzielen, so viel ukrainische Infrastruktur wie möglich zu zerstören. Gleichzeitig sehen sie sich mit neuen Problemen konfrontiert, wie dem schwindenden Nachschub an Drohnen und Raketen und den ukrainischen Möglichkeiten, Militärbasen anzugreifen, auch in Russland selbst. Der jüngste Angriff hatte offenbar tödliche Folgen, bei dem Hunderte von russischen Soldaten ums Leben kamen. Es ist ungewiss, ob die Ukraine in der Lage ist, solche Angriffe weiter auszubauen. Selenskyj steht unter dem Druck des westlichen Imperialismus, keine Stützpunkte in Russland selbst anzugreifen.
39. Je länger der Krieg andauert, ohne dass ein Ende in Sicht ist, und je mehr russische Opfer zu beklagen sind, desto mehr wird der wachsende Widerstand gegen ihn und das Putin-Regime eine Gewissheit. In einem bestimmten Stadium könnte er eine existenzielle Bedrohung für Putins mafiöses bonapartistisches Regime darstellen. Der lautstärkste Widerstand kommt in diesem Stadium von extrem nationalistischen Kriegsbefürworter*innen. Die Befürchtung vieler westlicher Politiker*innen ist, dass im Falle eines Sturzes Putins sein Nachfolger nicht pro-westlich, sondern eher russisch-nationalistisch sein würde. Sollte es zu einem wie auch immer gearteten Friedensabkommen kommen, wird nicht nur Putin in eine Krise geraten. Auch in der Ukraine wird Selenskyj ab einem bestimmten Zeitpunkt auf wachsenden Widerstand stoßen.
40. Das kann sich jedoch ändern, wenn sich der Krieg in die Länge zieht und sich die Zahl der Todesopfer weiter erhöht. Angesichts einer derart verzweifelten Lage ist es nicht ausgeschlossen, dass Putin in diesem Szenario doch noch eine taktische Atomwaffe einsetzt. Sollte er dies tun, würde dies Massenproteste und eine massive Antikriegsbewegung auslösen. Dass Putin diese Frage zum Thema gemacht hat, ist Ausdruck der neuen Periode. Es ist nicht auszuschließen, dass eine solche Waffe von einem anderen, noch despotischeren Regime wie Nordkorea oder anderen “Schurken”-Regimes, die noch an die Macht kommen könnten, eingesetzt werden wird.
41. Die Verlängerung des Krieges führt bereits dazu, dass sich in einigen Ländern eine gewisse “Kriegsmüdigkeit” einstellt. Mit dem Einsetzen der Rezession/Depression kann sich diese verstärken. Die bürgerlichen westlichen Führer*innen werden den Druck auf Selenskyj erhöhen, einen “Deal” auszuhandeln. Dies wird nicht einfach sein und ist kurzfristig nicht die wahrscheinlichste Perspektive. Doch selbst wenn ein Abkommen schließlich formell unterzeichnet wird, wird in der Praxis ein blutiger Konflikt in irgendeiner Form weitergehen, insbesondere im Osten.
42. Der Krieg und seine Entwicklung haben sich auf die geopolitischen Beziehungen ausgewirkt. Der US-Imperialismus hat ihn genutzt, um zu versuchen, sich international wieder durchzusetzen. Allerdings haben sich auch Spannungen und Spaltungen zwischen den westlichen imperialistischen Mächten aufgetan, die sich noch verstärken werden, je länger der Krieg andauert. Die wiedererstarkte internationale Rolle der USA während der Krise ist jedoch relativ begrenzt und bedeutet keine Rückkehr zur unipolaren Welt der Vergangenheit. Diese Ära ist vorbei und kann nicht zurückkehren.
43. Russische Rückschläge auf dem Schlachtfeld haben China, Indien und andere Staaten dazu veranlasst, Putin in diesem Krieg nur noch vorsichtig zu unterstützen. Allerdings haben sie ihn auch nicht verurteilt. In wirtschaftlicher Hinsicht haben sich die Beziehungen zwischen Russland und China gefestigt: Der bilaterale Handel zwischen den beiden Ländern wuchs im Jahr 2022 um 32 Prozent und erreichte einen Rekordwert von 172,406 Milliarden US-Dollar. Auf Russland entfallen 2,7 Prozent des gesamten chinesischen Handelsumsatzes. Der größte Handelspartner Russlands ist jedoch China, von dem Putin abhängig ist. Die Ölexporte Russlands nach Indien haben während des Krieges drastisch zugenommen. Indien hat genug russisches Öl importiert, um es dann in andere Länder wieder zu exportieren. Die Rückschläge, die das russische Militär hinnehmen musste, haben auch seinen Einfluss in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion geschwächt. Wie die Zusammenstöße zwischen Armenien und Aserbaidschan zeigen, ist die gesamte Region nach dem Krieg in der Ukraine instabiler geworden.
44. Der Krieg in der Ukraine ist der wichtigste Brennpunkt der geopolitischen Kämpfe in der multipolaren Welt, die jetzt existiert. Das CWI hat dazu eine eigenständige Analyse und Programm im Vergleich zur Linken und der revolutionären Linken. Die Krise, die die US-amerikanische Gesellschaft erschüttert, und der Beginn der Krise, die sich in China entwickelt, sind jedoch von entscheidender internationaler Bedeutung. Sie sind der Schlüssel für das Weltgeschehen im nächsten Jahrzehnt und insbesondere für den Klassenkampf.
China und “Kaiser” Xi
45. Der Kongress der Kommunistischen Partei Chinas markierte den Höhepunkt der Machtkonzentration in den Händen von Xi Jinping, der sich selbst zum “Kaiser” Xi mit unbegrenzten Befugnissen krönte. Dies bedeutete eine Änderung der Form des Regimes. Xi Jinping hat mehr Macht in seinen Händen und in denen seiner Fraktion der KPC konzentriert als jeder andere Führer seit Mao. Nach dem Tod von Mao gab es eine kollektivere Kontrolle, die sich auf eine breitere Schicht der Bürokratie erstreckte. Eine ähnliche Entwicklung fand in der ehemaligen Sowjetunion nach dem Tod von Stalin statt. Xi und seine Fraktion haben sich davon entfernt und sind zu einer weitaus stärkeren Zentralisierung und Konzentration der Macht in seinen Händen übergegangen.
46. Xis herrschende Fraktion schien im Vorfeld des Kongresses in einen parteiinternen Kampf verwickelt zu sein, den sie gewann. Xis Fraktion ist offensichtlich mit einem Teil der herrschenden Elite kollidiert, der sich gegen die unkontrollierte zentralisierte Kontrolle durch Xi wandte, da dies ihre eigenen Interessen bedrohte. Dieser Teil der Kapitalist*innenklasse, der unabhängiger ist, gerät in Konflikt mit jenen Teilen von Partei und Staat, die Staatskapitalismus wollen, aber kontrolliert und unter ihrer Leitung. Jener Teil der Kapitalist*innenklasse, der stärker mit Partei und Staat verbunden ist, wird von einigen als “bürokratische Kapitalist*innen” bezeichnet, im Gegensatz zu den unabhängigeren “Privatkapitalist*innen”. Der Kampf von Xi wurde unter dem Deckmantel der Korruptionsbekämpfung geführt. China hat, wie wir erläutert haben, eine besondere Form des Staatskapitalismus etabliert. Dies hat jedoch seine eigenen Widersprüche mit sich gebracht. Die Herausbildung einer kapitalistischen Elite, bei der der Staat dennoch eingreifen und die Kontrolle über angeschlagene Unternehmen übernehmen konnte, um seine eigenen Interessen zu wahren, führte in einigen Sektoren unweigerlich zu einem Interessenkonflikt. Der Grad der staatlichen Intervention kann und wird je nach Situation schwanken. In jüngster Zeit haben die staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft in staatskapitalistischer Form wieder deutlich zugenommen, was sich in der Übernahme des Bauunternehmens Evergrande widerspiegelt.
47. Doch kaum hatte der Parteitag die Kontrolle von Xi zementiert, kam es zu einer Krise, die durch die COVID Lockdowns ausgelöst wurde. Die Proteste, die gegen die bürokratischen, autoritären Lockdowns ausbrachen, sind extrem bedeutsam. COVID hat, wie in anderen Ländern auch, die große soziale Ungleichheit in China verschärft. Die harten Lockdowns haben die Ärmsten und die Arbeiter*innenklasse am härtesten getroffen.
48. Die Proteste selbst waren sehr unterschiedlich und verwirrt. Einige sangen die Nationalhymne – bei Zusammenstößen mit der Polizei sangen sie die Worte “Erhebt euch” und “Wir wollen keine Sklaven sein” – andere die Internationale. Einige skandierten “Nieder mit Xi”, andere, dass sie nicht gegen die Partei seien, sondern “Freiheit wollen”. Einige skandierten auf Englisch. Einige, die als “Revolution auf weißem Papier” bezeichnet wurden, griffen einige der Forderungen von Teilen der Kapitalist*innenklasse auf. Trotz dieser Verwirrung und Unklarheit sollte die Bedeutung dessen, was sie potentiell darstellen, nicht unterschätzt werden. Darauf folgten Streiks der von Entlassung bedrohten Beschäftigten in den COVID-Prüfzentren.
49. Das Regime, das auf den Druck und die wirtschaftlichen Folgen der weitreichenden Lockdowns reagierte, sah sich nur wenige Wochen nach dem Parteitag zu einer Kehrtwende gezwungen. Die Lockerung der COVID-Beschränkungen führt zu einem Anstieg der COVID-Infektionen und möglicherweise zu Millionen von Todesfällen. Dies wird auch wirtschaftliche Folgen haben und dürfte in einem bestimmten Stadium zu weiteren sozialen Verwerfungen führen. Wie sich dies politisch niederschlägt, ist ungewiss, aber es wird zu weiteren Spaltungen innerhalb des riesigen Parteiapparats und aller Wahrscheinlichkeit nach zum Ausbruch regionaler Differenzen und Zusammenstöße führen. Die Partei hat über 96 Millionen Mitglieder und fünf Millionen lokale Parteiorganisationen. Ungefähr jede*r fünfzehnte Chines*in ist Mitglied der Partei. Dies ist eine mächtige gesellschaftliche Kraft, die noch eine gewisse soziale Basis hat, die das Regime mobilisieren kann. Diese kann jedoch unter den Auswirkungen einer Konjunkturabschwächung oder einer tieferen wirtschaftlichen und sozialen Krise in einem bestimmten Stadium auch zerbrechen.
50. Teile der herrschenden Elite und der Kapitalist*innenklasse könnten sich durchaus als Verfechter der “Demokratie” aufspielen und Forderungen nach “demokratischen Freiheiten” unterstützen. Sie könnten insbesondere Teile der großen, hochgebildeten Mittelschicht ansprechen. Eine solche Entwicklung könnte ein Vorbote für stärkere Kämpfe sein, die in der chinesischen Arbeiter*innenklasse – der größten der Welt – ausbrechen. Entwicklungen dieser Art werden weltweite Auswirkungen haben. Es wird für das CWI notwendig sein, ein Programm und Forderungen weiterzuentwickeln, die der Situation entsprechen. Forderungen, die Merkmale der sozialen Revolution und auch einige Elemente der politischen Revolution verbinden, werden in den komplexen Umwälzungen, die die Situation in China mit sich bringt, notwendig sein.
51. Die Entfaltung der innenpolitischen Krise in China kann international große Auswirkungen haben, insbesondere im Zusammenhang mit den zunehmenden Spannungen im Südchinesischen Meer. Sowohl der US-Imperialismus und der westliche Imperialismus als auch China haben ihre militärischen Kapazitäten erheblich aufgestockt. Auch Japan baut seine militärischen Kapazitäten massiv aus. Die zunehmenden globalen Spannungen in Verbindung mit einer innenpolitischen Krise in China könnten Xi dazu veranlassen, zu intervenieren und zu versuchen, Taiwan wieder an das chinesische Festland anzugliedern, was den chinesischen Nationalismus anheizen und einen militärischen Zusammenstoß mit den USA und dem westlichen Imperialismus provozieren würde. Taiwan wieder einzugliedern ist ein langfristiges politisches Ziel von Xi Jinping, der als der Führer in die Geschichte eingehen möchte, der Taiwan wieder an das chinesische Festland angeschlossen hat. Allerdings sind seine eigenen politischen Motive nicht die einzigen Faktoren, die darüber entscheiden werden, ob es dazu kommt. Zu den weiteren Krisenherden in der Region gehören die umstrittenen Senkaku- oder Diaoyu-Inseln zwischen Japan und China, die ebenfalls einen Konflikt auslösen könnten.
USA in der Krise
52. Die sich entfaltende Krise in China spiegelt sich in der sozialen und politischen Krise der untergehenden, aber immer noch größten imperialistischen Macht der Welt – den USA – wider. Das Vorhandensein einer parallelen Krise, die sich in den beiden größten Mächten der Welt entfaltet, ist von entscheidender Bedeutung, um das Wesen der Ära zu begreifen, in der wir uns jetzt befinden. Der Aufruhr in den USA hat viele Gesichter. In der Gesellschaft tut sich eine Kluft auf, die zu einer bitteren Polarisierung und Entfremdung führt. Die Londoner Financial Times fasste die Situation so zusammen, dass die amerikanische Arbeiter*innenklasse durch die seit fünfzig Jahren andauernden Angriffe “Schiffbruch” erlitten hat. Dies bedeutet den langwierigen Niedergang des US-Imperialismus.
53. Die Präsidentschaft Bidens ist durch sehr niedrige Zustimmungsraten gekennzeichnet, da er es versäumt hat, Maßnahmen zur Linderung der Folgen der sozialen und wirtschaftlichen Krise zu ergreifen. Nach zwei Jahren im Amt lag seine Zustimmungsrate bei 38 Prozent – genauso hoch wie die von Trump zu einem vergleichbaren Zeitpunkt. Die Zwischenwahlen brachten der Republikanischen Partei zwar eine knappe Mehrheit im Repräsentantenhaus, führten aber faktisch zu einem Unentschieden zwischen Demokratischer und Republikanischer Partei. Bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus haben letztere insgesamt etwa fünfzig Prozent der Stimmen erhalten – drei Millionen mehr als die Demokratische Partei. Bei einer insgesamt höheren Wahlbeteiligung, insbesondere bei jungen und weiblichen Wählern, hat das Urteil des Obersten Gerichtshofs zu Roe v. Wade in Wirklichkeit die Demokrati*innen gerettet. Die ernsthaften rechten Angriffe auf das Recht auf Schwangerschaftsabbruch hat genug Wähler*innen mobilisiert, um einen kompletten Sieg der Republikanischen Partei abzuwenden. Dennoch werden die Wahlen kein stabiles Kapitel für den US-Imperialismus aufschlagen. Biden steht vor der Aussicht, ein sogenannter “lame duck” Präsident zu werden.
54. Die herrschende Klasse scheint entschlossen zu sein, Trump vom Spielfeld zu entfernen, da eine Strafverfolgung immer wahrscheinlicher wird. Die Zwischenwahlen waren eine Niederlage für Trump und haben die Spaltung und die Spannungen innerhalb der Republikanischen Partei verstärkt, was sich im Kampf innerhalb der Partei um den Sprecher des Repräsentantenhauses zeigt. Die Dramatik eines solchen Kampfes hat es seit über hundert Jahren nicht mehr gegeben. Die ersten Zeichen einer Spaltung der Partei sind vorhanden, und sie steht wahrscheinlich vor einer großen Krise. Gleichzeitig wächst die Möglichkeit, dass der Rechtspopulist DeSantis aus Florida an die Spitze der Partei rückt und den zunehmend diskreditierten Trump ablöst. Der Beginn der Rezession und das Versagen Bidens, eine Lösung für die Krise anzubieten, deuten darauf hin, dass die nächsten Präsidentschaftswahlen wieder zu einem Schlachtfeld mit einer starken Polarisierung werden. Das allgemein geringe Engagement bei Wahlen und parteipolitischen Aktivitäten kann die Aussicht auf eine Zunahme von Streiks und sozialen Bewegungen in wirtschaftlichen und sozialen Fragen stärken.
55. Biden wurde als der arbeiter*innen- und gewerkschaftsfreundlichste Präsident seit Roosevelt bezeichnet. Doch die Verhängung des Tairfvertrags für die Eisenbahn und das Verbot eines Bahnstreiks zeigen, wie hohl eine solche Behauptung war. Die so genannten “Linken” in der Demokratischen Partei, wie Alexandria Ocasio-Cortez (AOC), Sanders und andere, haben kapituliert und diesen Angriff auf die Rechte der Beschäftigten unterstützt, was ihren wahren feigen Charakter offenbart.
56. Die Zunahme von Streiks und die bedeutenden Siege bei den Urabstimmungen über die Anerkennung von Gewerkschaften, u.a. in der EV General Motors Autofabrik, sind ein Hinweis auf den Beginn eines neuen Kapitels beim Wiederaufbau der Arbeiter*innenbewegung und einen Aufschwung des Klassenkampfes. Zusammen mit wichtigen sozialen Themen wie dem Kampf gegen Polizeirepression und Rassismus wird dies die wichtigste Kampfarena im Vorfeld der nächsten Präsidentschaftswahlen werden.
57. Die rechtspopulistische Haltung von DeSantis kann es der Republikanischen Partei unter seiner Führung ermöglichen, den Demokrat*innen eine Niederlage zuzufügen, vor allem wenn Bidens glanzlose Lame-Duck-Präsidentschaft anhält und die Rezession hart zuschlägt. DeSantis, oder DeFuture, wie ihn die New York Post lieber nennt, hat sich auf populistischer Basis mit Disney und großen Unternehmen aus der Kreuzfahrt- und Pharmabranche angelegt. Das Fehlen einer Massenarbeiter*innenpartei oder auch nur einer radikalen links-populistischen Partei hinterlässt ein Vakuum, in das rechtspopulistische Kräfte eindringen können, wie Trump gezeigt hat. Die Abwahl von Trump wird diese Bedrohung nicht aus der Welt schaffen. Die stark polarisierte Situation kann zu zahlreichen gewalttätigen Zusammenstößen führen. Angesichts einer tiefen Rezession und einer politischen Krise dieses Ausmaßes könnten sich bestehende Spannungen vertiefen. Das beinhaltet lokale Konflikte zwischen verschiedenen Bundesstaaten und auch zwischen einzelnen Staaten und der Regierung. Dieser Trend kann in der Zukunft die Einheit der USA auf sozialer und politischer Ebene belasten.
58. Die Umwälzungen, die die US-Gesellschaft erschüttern, sind Teil der sich ausbreitenden Krisen, der Polarisierung und der Umwälzungen, die sich weltweit ereignen. Ein internationaler “perfekter Sturm” in Bezug auf die geopolitischen und Klassenbeziehungen, die Wirtschaft und die Umwelt zieht herauf. Er beginnt, das Gefüge der Gesellschaft in seinen Grundfesten zu erschüttern. Polarisierung, Klassenkonflikte und soziale Entfremdung nehmen zu. Diese Charakteristika, wo sie schon präsent sind, sind nur der Anfang des Prozesses. Der kommende Sturm wird dazu führen, dass sie eine noch härtere, schärfere und brutalere Form annehmen werden.
Verwüstung in der neokolonialen Welt
59. Teile der neokolonialen Welt stehen vor einem Blutbad. In Äthiopien, Syrien und anderswo gehen die Kriege weiter. In Nigeria kommt es zu ethnischen Konflikten und einer zunehmenden Tendenz zur sozialen Desintegration. Lagos wird vorausgesagt, dass es zu einer der am stärksten verschmutzten Städte mit der höchsten Arbeitslosigkeit und den daraus resultierenden schrecklichen sozialen Folgen werden könnte. Haiti ist ein gescheiterter Staat, der als Nation kaum noch existiert, in dem Banden ganze Teile der Hauptstadt und des Landes kontrollieren und die Regierung so gut wie nicht mehr funktionsfähig ist. Der Alptraum, mit dem die pakistanische Gesellschaft nach den Überschwemmungen und der verheerenden Dürre, die das Land verwüstet haben, konfrontiert ist, veranschaulicht die Situation in weiten Teilen der neokolonialen Welt. Die enorme Schuldenlast, die Pakistan zu tragen hat, bedeutet, dass sich das Land von den Zerstörungen und Verwüstungen der Überschwemmungen erst in einer Generation, wenn überhaupt, erholen wird, wenn es nicht zu einer sozialistischen Revolution kommt.
60. Madagaskar wird seit mehr als fünf Jahren von einer Dürre heimgesucht, die zeigt, wie sich die Umweltkrise nun direkt auf die Wirtschaft und die soziale Lage auswirkt, was in einigen Ländern apokalyptische Folgen hat. In diesen und anderen Ländern herrschen Hunger, Not und Elend, die sich in der neokolonialen Welt in einem noch nie dagewesenen Ausmaß entwickeln. All dies hat zu einer beispiellosen Migrationskrise beigetragen, die sich in der kommenden Zeit noch verschärfen wird. Dies wird politische Auswirkungen auf allen Kontinenten haben, und Rechtspopulist*innen werden versuchen, dies zu nutzen, um ihre Unterstützung zu stärken. Die Herausforderung, zu verhindern, dass die Unterstützung für die Rechte wächst, muss von der Arbeiter*innenklasse und Marxist*innen bewältigt werden.
Charakter der zahlreichen Aufstände
61. Entscheidend ist jedoch, dass die zahlreichen Massenaufstände, die vor allem seit 2019 stattgefunden haben, äußerst starke revolutionäre Züge aufweisen. Die Bewegungen in Ecuador, Chile, Kolumbien und ganz Lateinamerika wurden von Aufständen im Irak, Sudan, Libanon und anderswo begleitet.
62. Hinzu kamen die Massenaufstände in Sri Lanka und im Iran, die in ihrem Ausmaß beispiellos sind. Das Ausmaß der Bewegung in Sri Lanka, wenn auch nicht das politische Bewusstsein, übertraf alles, was dort je stattgefunden hat. Sie enthielt viele äußerst positive Aspekte, insbesondere die teilweise Überwindung der Spaltung zwischen der singhalesischen und der tamilischen Bevölkerungsgruppe.
63. Die Bewegung im Iran stellt eine neue Etappe im Kampf gegen das theokratische Regime dar. Der Heroismus der Frauen, insbesondere der Jugendlichen, und die von ihnen vorgebrachten Forderungen gehen an den Kern der Sache und untergraben die Basis des rechtsgerichteten reaktionären Regimes. Die Streiks, die während dieser Bewegung stattfanden, waren sehr bedeutsam und verdeutlichen die entscheidende Rolle der Arbeiter*innenklasse beim letztendlichen Sturz des Regimes.
64. In Sri Lanka war die Ausrufung eines Generalstreiks ein entscheidender Schritt nach vorn, ebenso wie die Streiks, die im Iran stattgefunden haben. All diese Bewegungen, in denen sich bitterer Hass gegen die herrschenden Eliten aufgestaut hat, verdeutlichten das revolutionäre Potenzial kollektiver Massenaktionen. Der Brand der Häuser der Abgeordneten und die Vertreibung des Präsidenten haben dies anschaulich gezeigt.
65. Sie alle haben jedoch auch die Hindernisse aufgezeigt, die in Bezug auf die Organisation, die Partei und das politische Bewusstsein überwunden werden müssen. Sie hatten alle einen spontanen oder halbspontanen Charakter und es fehlte ein abgerundetes politisches Ziel. Die spontanen Elemente hatten zunächst den positiven Effekt, dass die alten Organisationen und Führungen die Bewegung nicht aufhalten konnten. Dialektisch schlug dies jedoch ins Gegenteil um, da die Grenzen der Spontaneität es der herrschenden Klasse ermöglichten, die Kontrolle und sich selbst an der Macht zu halten. Allgemein gesehen ist dort nun eine gewisse scheinbare relative Stabilität eingetreten.
66. Die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen der Krisen, die diese Bewegungen ausgelöst haben, wurden jedoch nicht beseitigt. Entscheidend ist, dass keine dieser Bewegungen durch einen blutigen Militärputsch niedergeschlagen wurde, obwohl die Proteste brutal unterdrückt wurden. Dies spiegelt zum Teil die Schwächen der Bewegungen und ihren Charakter wider, weil diese Schwäche bedeutete, dass die Bourgeoisie nicht auf Militärputsche zurückgreifen musste, wie sie es in der Vergangenheit getan hat oder in Zukunft tun wird. Diese Faktoren bedeuten, dass die Bewegungen in einem bestimmten Stadium auf einem noch höheren Niveau wieder aufflammen können.
67. Das Fehlen einer revolutionären sozialistischen Führung und einer sozialistischen Organisation beziehungsweise die Rolle jener Führung, die sich herauskristallisierte, sind entscheidende Faktoren. Der Charakter dieser Bewegungen spiegelte auch den allgemeinen Rückgang des politischen Bewusstseins wider, der stattgefunden hat. Sie befanden sich auf einem weitaus niedrigeren politischen Niveau als die revolutionären Bewegungen, die historisch beispielsweise in den 1920er, 1930er oder 1970er Jahren stattgefunden haben. Während der gegenwärtigen Bewegungen hat sich das politische Bewusstsein in bestimmten Fragen weiterentwickelt. Aber das hatte auch seine Grenzen und ging nicht weit genug. Als die Bewegungen ins Stocken gerieten, fiel das Bewusstsein oft wieder zurück. Politisches Bewusstsein ist nicht starr oder statisch, sondern durchläuft je nach Situation verschiedene Phasen der Entwicklung.
68. Engels kommentierte die Gründe für den Sieg der Konterrevolution in Deutschland im 19. Jahrhundert mit der Feststellung, dass die Führung zwar unzulänglich war, aber er betonte auch, dass dies nicht der einzige Faktor war. Die Führung war auch ein Produkt der Klassenkräfte, die damals an der Bewegung beteiligt waren. Wir befinden uns nicht in der gleichen Situation wie nach der Niederlage der Revolution von 1848. Ein Teil der von Engels angesprochenen Punkte ist jedoch auch heute noch vorhanden, da in vielen Bewegungen die Arbeiter*innenklasse nicht klar und entschieden an der Spitze steht. Die Führung ist auch ein Spiegelbild der Zeit und des politischen Bewusstseins der Massen.
69. Die Massen lernen durch die Erfahrung des Kampfes, unterstützt durch das Eingreifen der revolutionären Partei. Eine Reihe solcher Bewegungen und Aufstände sind notwendig, damit die neue Generation beginnt, die Lehre der Notwendigkeit einer sozialistischen Alternative zum Kapitalismus zu ziehen. Wir sollten die Auswirkungen der sich entfaltenden Krise auf das Bewusstsein der kämpferischsten Teile der Arbeiter*innen und der Jugend nicht unterschätzen. Es kann unter den sich entwickelnden Bedingungen sprunghaft ansteigen. Die Rolle des CWI in diesem Prozess besteht darin, die am weitesten fortgeschrittenen Schichten dabei zu unterstützen, die notwendigen Schlussfolgerungen in Bezug auf Programm, Organisation und Partei zu ziehen, wie es die Genoss*innen in Sri Lanka während der jüngsten Bewegung versucht haben.
70. Die ideologische und programmatische Feigheit der so genannten “Linken” in dieser Periode ist eklatant. Sie haben den Kapitalismus nicht herausgefordert, sondern vor ihm kapituliert, oft in Form der Politik des kleineren Übels.
Lateinamerika, die zweite “Rosa Welle” und die Neue Linke
71. Am anschaulichsten ist dies in Lateinamerika zu sehen, das viele Lehren für die internationale Situation bereithält. Die Massenaufstände, die den Kontinent erfassten, haben mit der Wahl einer Reihe von “linken” Regierungen in Chile, Peru, Kolumbien und jetzt Lula in Brasilien einer zweiten “rosa Welle” Platz gemacht. Die Wahlsiege waren ein Nebenprodukt der revolutionären Aufstände, die ihnen vorausgingen. Allerdings sind die neuen “linken” Regierungen ausnahmslos weniger radikal als die der ersten “rosa Welle”. Und das, obwohl die Krise tiefer und schwerer ist. Sie alle haben sich dem Kapitalismus angepasst, und einige, wie Boric in Chile, haben sich schnell nach rechts bewegt. Trotz seines Entgegenkommens gegenüber dem Kapitalismus wurde Castillo von der herrschenden Elite in Peru nie akzeptiert, die ihn durch einen Putsch von der Macht entfernte. Dies wird Peru keine Stabilität bringen, sondern hat eine neue Runde des Kampfes eingeleitet.
72. Der Sieg Lulas in Brasilien hat große Erwartungen und Hoffnungen geweckt. Doch obwohl die rechtsextreme Agenda Bolsonaros einige bedeutende Änderungen erfahren wird, beispielsweise in Amazonien, wo gegen die Abholzung vorgegangen werden soll, wird seine Regierung den Kapitalismus nicht herausfordern. Die dramatischen Ereignisse, bei denen Tausende von Anhänger*innen Bolsonaros den Präsidentenpalast, den Kongress und den Obersten Gerichtshof stürmten, was einem versuchten Staatsstreich gleichkam, um das Wahlergebnis zu kippen, zeigen, dass die Polarisierung und der Aufruhr in Brasilien mit Lulas knappem Wahlsieg nicht beendet sind.
73. Zusammen mit dem Wahlergebnis, bei dem die Rechte den größten Block im Kongress stellt und 21 von 27 Gouverneursämtern kontrolliert, bedeutet dies, dass der rechte Flügel und Bolsonaro eine wichtige Basis behalten haben. Dies bedeutet, dass weitere Zusammenstöße und Umwälzungen vorprogrammiert sind. Die Jagd-, Schützen- und Sammlerverbände mit etwa einer Million Mitgliedern sind bewaffnet und unterstützen Bolsonaro mehrheitlich. Bezeichnend ist auch, dass sich das Militär in dieser Phase weigerte, auf den Aufruf von Bolsonaros Anhänger*innen zum Eingreifen und zur Durchführung eines Putsches zu reagieren, wenn es auch die Lager dieser Anhänger*innen außerhalb der Kasernen nicht auflöste.
74. Es gibt eine massive soziale und wirtschaftliche Krise, so dass Lula nicht die Möglichkeit haben wird, radikale Reformen auf Dauer durchzusetzen. Der Rohstoffboom, der seine früheren Amtszeiten begleitete, ist heute nicht mehr vorhanden, und die Gefahr einer globalen Krise oder Rezession schwebt über der neuen Regierung, die mit Spaltungen und Uneinigkeit konfrontiert sein wird.
75. Eine weitere Enttäuschung über diese neuen “linken” Regierungen bringt die Warnung mit sich, dass die Rechten und Rechtsextremen zurückschlagen oder weitere Gewinne erzielen können, worauf die Arbeiter*innenbewegung vorbereitet sein muss.
Neue Massenarbeiter*innenparteien
76. Dieser Verrat der “Linken” in Lateinamerika ist eine Wiederholung des Verrats der so genannten “neuen Linken” in Europa, allerdings auf einer breiteren Ebene. Das zeigt sich deutlich an SYRIZA in Griechenland im Jahr 2015 und dann an der Kapitulation von PODEMOS in Spanien, dem Linksblock in Portugal und anderswo. Dies führte zum Niedergang dieser Parteien. In Großbritannien geschah dasselbe mit den Corbynistas in der Labour Party, weil sie zurückwichen und es versäumten, den Kampf bis zum Ende durchzuziehen und einen Kompromiss mit der Rechten in der Partei zu suchen. In Brasilien gab die PSOL faktisch eine unabhängige Position auf, indem sie sich weigerte, im ersten Wahlgang anzutreten, und sich dann dem Übergangsteam von Lula anschloss. Diese “neuen linken” Parteien hatten mehr Elemente einer “populistischen Linken” als den einer sozialistischen Massenpartei.
77. Die Notwendigkeit neuer Arbeiter*innenmassenparteien und die doppelte Aufgabe, sie aufzubauen und gleichzeitig revolutionäre Parteien zu schaffen, ist angesichts der Tiefe der Krise aktueller denn je. Allerdings war dies bisher ein äußerst langwieriger Prozess, der angesichts des ideologischen Zusammenbruchs der Linken auch weiterhin so verlaufen könnte. Wenn die “neuen Parteien” gescheitert sind – wie in Griechenland oder Spanien – kann das die Idee, eine weitere neue Partei zu gründen, noch komplizierter machen. Die Weigerung der “Linken”, dies zu tun – Corbyn in Großbritannien, Mélenchon in Frankreich, Sanders in den USA – verkompliziert den Prozess ebenfalls. Dennoch kann eine Schicht aus diesen Erfahrungen lernen und dazu beitragen, ab einem bestimmten Zeitpunkt den Boden für die Entstehung neuer Parteien zu bereiten. Wir müssen uns auf rasche Veränderungen diesbezüglich einstellen, die möglicherweise durch die Ereignisse erzwungen werden, aber dies kann kurzfristig nicht mit Sicherheit gesagt werden.
78. Es ist notwendig, dass das CWI weiterhin für den Aufbau neuer breiter Arbeiter*innenmassenparteien mit sozialistischer Politik kämpft und dafür eintritt. Der Aufbau einer revolutionären Partei ist jedoch nicht davon abhängig, dass dies geschieht. Wir dürfen nicht darauf warten, dass sich neue Massenparteien entwickeln. Eine Schicht kann in dieser Krise direkt für das Programm und die Ideen des revolutionären Sozialismus gewonnen werden und unserer Partei beitreten. Es ist wichtig, dass wir die neuen Mitglieder, die wir gewinnen, über die Frage der doppelten Aufgabe und den Unterschied zwischen einer revolutionären Partei und einer breiteren Massenpartei der Arbeiter*innenklasse aufklären. Wir müssen auch darauf vorbereitet sein, einen klaren und mutigen marxistischen Appell an die Jugend und die Studierenden zu richten.
Rechtsextreme Kräfte und Autoritarismus
79. Das Fehlen von Massenparteien und einer kämpferischen Linken hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich in einigen Ländern rechtspopulistische Kräfte und rechtsextreme Organisationen entwickeln konnten. Dies ist kein kurzfristiges Problem. Es handelt sich um ein anhaltendes Element der Situation, das fluktuieren und zu- und abnehmen wird. Das Versagen der Linken, eine Alternative anzubieten, hat es der Rechten jedoch ermöglicht, in einigen Ländern eine solide Basis zu schaffen. Die Tatsache, dass die Wahlen in Brasilien so knapp ausgefallen sind und die Rechte die größte Fraktion im Kongress stellt, zeigt, dass es der Linken nicht gelungen ist, eine Alternative aufzubauen, und dass es in Ländern wie Brasilien, mit großen Teilen der Bevölkerung, die den Mittelklassen und urbanen verarmten Massen zuzurechnen sind, durchaus eine soziale Basis für eine rechtspopulistische oder rechtsextreme faschistisch-artige Partei gibt. Das Gleiche gilt für Indien, wo es Modi und der BJP gelungen ist, die Unterstützung aufrechtzuerhalten. Einigen Berichten zufolge hat die BJP in Indien inzwischen eine größere Mitgliederzahl als die Kommunistische Partei in China.
80. Die Wahl der Rechtsextremen in Israel, bei der die quasi-faschistische Partei des religiösen Zionismus in die Regierung aufgenommen wurde, veranschaulicht diesen Prozess. Der brutale Charakter der Regierung wird Auswirkungen auf die Region haben. Je nach den Ereignissen im Iran ist es möglich, dass Israel den Iran angreift, vor allem wenn der Iran der Entwicklung von Atomwaffen nahe kommt. Gleichzeitig könnte die Peitsche der Konterrevolution eine Explosion unter den Palästinenser*innen und eine mögliche dritte Intifada auslösen.
81. Das bedeutet nicht, dass wir es mit einer Rückkehr der faschistischen Massenorganisationen der Vergangenheit zu tun haben. Die Arbeiter*innenklasse wurde nicht zerschlagen, und das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ist ein anderes. Wir dürfen jedoch die Bedrohung und Gefahr nicht unterschätzen, die von rechtsextrem bis rechtspopulistischen Kräften und einigen quasi-faschistischen Gruppen oder Parteien, die in einigen Ländern existieren, ausgeht. Aber auch die Reaktion stößt an Grenzen, wie die Niederlage von Trump und Bolsonaro und andere Situationen zeigen.
82. Einer der Faktoren für den Erfolg der extremen Rechten ist die Diskreditierung der bürgerlichen Demokratie und ihrer traditionellen Parteien in einigen Ländern in bestimmten Schichten. Die traditionellen Parteien der herrschenden Eliten haben oft aufgrund der massiven Korruption und weil sie den Massen keine Zukunft bieten ihre Unterstützungsbasis verloren. Dies hat sich kürzlich bei den Wahlen in Malaysia gezeigt. Die Erschütterungen, die Korruption und die Fäulnis der ANC-Führung in Südafrika spiegeln ebenfalls den Fäulnisprozess wider, der am Werk ist. Die Zunahme von Attentatsversuchen auf bürgerliche politische Führer durch rechte Organisationen und Einzelpersonen spiegelt dies wider. Zu den jüngsten Anschlägen gehören Pelosi in den USA, wo 75 Verfahren gegen Einzelpersonen anhängig sind, die Politiker*innen bedrohen, Attentatsversuche auf Imran Khan in Pakistan, Christina Kirchner in Argentinien und die Ermordung von Jovenel Moïse, Präsident von Haiti, im Jahr 2021.
83. Die Anziehungskraft autoritärer Regime zur Herstellung von “Stabilität” oder “Ordnung” ist in Ländern, die vor sozialem Zerfall oder Zusammenbruch stehen, sehr groß. Wenn jedoch die extreme Rechte eine solche Basis gewinnt, wird dies zu einer starken Polarisierung führen und keine Ära der Stabilität einleiten. Gleichzeitig haben die herrschenden Klassen in vielen Ländern zunehmend repressive, antidemokratische Maßnahmen eingeführt und/oder auf parlamentarische bonapartistische Maßnahmen zurückgegriffen. Der Kampf gegen repressive und undemokratische Methoden ist eine entscheidende Aufgabe, der sich die Arbeiter*innenklasse in der kommenden Periode stellen muss.
Aufgaben für das CWI und Sozialist*innen
84. Die Stürme, die bereits über uns hereinbrechen, machen es dringend erforderlich, dass Revolutionär*innen in jeder Hinsicht auf die kommenden Umwälzungen vorbereitet sind. Wir befinden uns heute in einer Welt, die von Erschütterungen und Aufruhr geprägt ist. Der Kapitalismus befindet sich in einer Sackgasse, und eine Reihe vielfältiger Krisen laufen auf einen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Tsunami zu. In dieser Phase des Kapitalismus haben sich alle alten Gewissheiten verflüchtigt. Die so genannte offizielle “Linke” hat keine Alternative zum Kapitalismus anzubieten. Letztlich hängt das Schicksal der Menschheit jetzt von der Durchführung der sozialistischen Revolution ab. Der Aufschwung des Klassenkampfes in Europa, den USA, Lateinamerika und Teilen Asiens und Afrikas deutet auf die Möglichkeiten hin, die sich eröffnen werden, um Unterstützung für revolutionäre sozialistische Ideen aufzubauen. Die Arbeiter*innenklasse und das CWI stehen vor einer historischen Herausforderung: die Unterstützung für den Sozialismus zurückzuerobern mit einem Programm und einer Kampfmethode, mit der dieser erreicht werden kann. Dies ist der einzige Weg, um die Barbarei zu vermeiden, die der Kapitalismus in den kommenden Jahrzehnten bieten wird.