1974 und 1992: Historische Streiks 

Lehren aus zwei Erzwingungsstreiks im öffentlichen Dienst

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Mit Streiks können auch in Krisenzeiten Verbesserungen für die Beschäftigten erreicht werden. Aber es besteht auch die Gefahr, dass es trotz Entschlossenheit an der Basis zu faulen Kompromissen kommt.

von Sönke Schröder, Bochum

Die Ausgangslage im Vorfeld der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst im Jahre 1974 hatte gewisse Parallelen zur heutigen Situation: Vor dem Hintergrund hoher Inflation suchten die Gewerkschaftsführungen den Schulterschluss mit der Arbeitgeberseite und der SPD-geführten Regierung. Deswegen wurde 1973 noch ein Tarifergebnis unterhalb des Inflationsausgleiches abgeschlossen, aber das Blatt wendete sich nach den wilden Streiks in der Metallindustrie, in denen die Kolleg*innen einen gewissen Inflationsausgleich durchsetzen konnten.

Spontane Streiks

Dadurch fühlten sich Kolleg*innen in verschiedenen Bereichen des Öffentlichen Dienstes ermutigt, für Verbesserungen in den Kampf zu treten. Die Müllwerker in Hannover erkämpften in spontanen Streiks einmalige Zulagen, verschiedene Gliederungen der Gewerkschaft ÖTV (Vorläuferin von ver.di) stellten offensive Lohnforderungen von bis zu zwanzig Prozent auf. Unter diesem Druck beschloss die ÖTV-Tarifkommission eine Forderung von fünfzehn Prozent plus 300 Euro Urlaubsgeld.

Während Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) mit dem Argument einer Lohn-Preis-Spirale gegen eine zweistellige Lohnerhöhung auftrat und die Arbeitgeber mit einem Angebot von 7,5 Prozent provozierten, stimmten in der Urabstimmung 91,2 Prozent für Streik und bereiteten sich die Beschäftigten an der Basis auf den Arbeitskampf vor. Vom 10. bis 13. Februar 1974 nahmen 300.000 Kolleg*innen an Schwerpunktstreiks teil. Die Arbeitgeber reagierten mit einer Anpassung ihres Angebotes auf 11 Prozent, um einen Vollstreik zu vermeiden, der das ganze Land lahmgelegt hätte. Voreilig nahm die Tarifkommission das Angebot an – konnte jedoch nur 61,8 Prozent Zustimmung in der Urabstimmung erhalten; unter den Belegschaften, die am Streik beteiligt waren, gab es noch weniger Zustimmung, teilweise nur 26 Prozent.

Es gelang der ÖTV-Führung, die an sozialpartnerschaftlicher Stabilität interessiert war, die Kolleg*innen trotz hoher Kampfbereitschaft in einen Kompromiss zu führen. Aber die Basis konnte durch ihre Kampfstärke und Entschlossenheit immerhin einen Abschluss erzwingen, der weit über dem lag, wozu die Arbeitgeber eigentlich bereit waren und die Gewerkschaftsfühung stand unter Druck. 

1992: 11 Tage Streik! 

Auch 1992 gab es einen gewaltigen Arbeitskampf im Öffentlichen Dienst. Bei rund fünf Prozent Inflation und zahlreichen Steuererhöhungen durch die Regierung Kohl (CDU) ging die ÖTV mit einer Forderung von 9,5 Prozent in die Tarifrunde. Bis zu 96 Prozent stimmten bei der Urabstimmung für Streik. Schnell schlossen sich Teile der Post-Beschäftigten an, Schleusenwärter legten die Binnenschifffahrt lahm, bei der Bahn fuhr nur noch jeder vierte Zug, Müll wurde nicht abgeholt. Allein am ersten Streiktag traten 30.000 neue Mitglieder in die ÖTV ein. Indem die Kolleg*innen zeigten, wie wichtig ihre Arbeit für das Funktionieren der Gesellschaft ist, gewannen sie große Solidarität aus der Bevölkerung.

Schlichtung und fauler Kompromiss

Und wieder befürchteten die Gewerkschaftsspitzen, die Kontrolle über den Arbeitskampf zu verlieren. Noch bevor sich der Streik voll entfalten konnte, nahm die ÖTV-Führung über die Köpfe der Kolleg*innen hinweg ein Ergebnis von 5,4 Prozent an, was ungefähr dem vorher von den Arbeitgebern abgelehnten Schlichterspruch entsprach, und sagte den Streik abrupt ab. Ein Mitglied einer damaligen Kreisstreikleitung sagte gegenüber „Voran“ (Vorgängerzeitung der „solidarität“): „Es war der helle Wahnsinn – wir mussten die Leute während der Nacht anrufen und sie für die Arbeit morgen früh mobilisieren. Wir waren alle stinksauer, weil wir vor vollendete Tatsachen gestellt wurden.“

Um ähnliche Enttäuschungen zu vermeiden, ist es wichtig, sich von unten zu vernetzen, und gemeinsam mit anderen Kolleg*innen Druck auf die Führung zu machen, dass der Arbeitskampf konsequent bis zu Ende geführt wird. Die Sol unterstützt den diesjährigen Arbeitskampf mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und hat mit aktiven Kolleg*innen eine Reihe von Vorschlägen in weiteren Artikeln erarbeitet.