Erdbeben: Tote und Not sind keine Naturkatastrophe

Foto: public domain

In der Türkei und Syrien versagen die Regierenden bei der nötigen Hilfe

Fast zwei Wochen nach den schweren Erdbeben, die am 6. Februar den Südosten der Türkei und Nordsyrien erschütterten, verbreitete sich in der Türkei das Video einer Frau, die gerade aus den Trümmern gerettet wurde und die Sanitäter anfleht, sie nicht in ein privates Krankenhaus zu bringen.

Von Berkay Kartav, Devrimci Sosyalist Sol (Türkische Unterstützer*innen des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale)

Die Aufnahmen einer Überlebenden des Erdbebens, die sich mehr um ihre Krankenhausrechnungen als um ihre Gesundheit sorgt, sind ein weiteres Beispiel dafür, was alles am Kapitalismus faul ist.

Nach offiziellen Angaben hat die Zahl der Todesopfer in der Türkei 41.000 und in Syrien 5000 überstiegen. Mehr als 100.000 Menschen sind verletzt, Tausende liegen noch unter den Trümmern, und eine große Zahl von Menschen ist obdachlos. Das wahre Ausmaß dieser Katastrophe ist noch nicht abzusehen, aber die Zahl der Todesopfer wird wahrscheinlich noch dramatisch ansteigen.

Obwohl die Regierungspartei des türkischen Präsidenten Erdoğan ihr Bestes tut, um all ihre Fehler zu vertuschen, ist die Wut groß, da die Menschen Erdoğan für das Ausmaß dieser Katastrophe verantwortlich machen.

„Gebäude töten“

Im Jahr 2013 twitterte Erdoğan: „Gebäude töten, nicht Erdbeben.“ Und er hat Recht. Seine Regierung verschloss aber die Augenu, als Bauunternehmer und Baufirmen zur Gewinnmaximierung an allen Ecken und Enden geld sparten.

Die “Bauamnestie” von 2018 ermöglichte die Registrierung von Millionen illegal gebauter Immobilien, die gegen Sicherheits- und Genehmigungsstandards verstießen. Dies war eine von Erdoğans populistischen Maßnahmen, und er prahlte mit der Amnestie während seines Wahlkampfs im Jahr 2019. Diese Gebäude im Südosten der Türkei sind nun zu Friedhöfen für Zehntausende von Menschen geworden.

Zynischerweise hat Erdoğan nun dafür gesorgt, dass der Staat 113 Haftbefehle gegen Bauträger ausgestellt hat.

Ausbleibende Hilfe

Nach dem Erdbeben ist in den betroffenen Gebieten ein Vakuum entstanden, da die Regierung kläglich versagt, wenn es darum geht, die Menschen vor Ort mit dem Nötigsten zu versorgen.

Dieses Vakuum wurde in einigen Gebieten vom ersten Tag an von Gewerkschaften, linken Organisationen und Freiwilligen gefüllt. Doch trotz der Bemühungen der Freiwilligen mangelt es immer noch an Toiletten, Zelten, Hygieneartikeln und elektrischen Heizgeräten in dem Gebiet.

In dem Chaos nach dem Erdbeben plünderten einige Menschen, die keine Alternative sahen, Supermärkte. Eine Mutter sagte, sie habe keine andere Wahl gehabt, als Windeln aus einem Supermarkt zu stehlen, da die Behörden nicht helfen konnten.

Rassismus

Rechtsextreme Gruppen verbreiten Gerüchte, dass es syrische Geflüchtete sind, die Geschäfte plündern und wertvolle Gegenstände aus den Trümmern und leeren Gebäuden stehlen. Einige Syrer*innen oder Personen, die fälschlicherweise für Syrer gehalten wurden, sind Berichten zufolge von kleinen Gruppen und Polizeibeamten gelyncht worden.

Die Rechtsextremen wollen syrische Geflüchtete zum Sündenbock für die Plünderungen und den Mangel an Ressourcen in der Region machen. Dies liegt im Interesse der Regierung, da sie die Wut auf die Geflüchteten lenken will und nicht auf die Regierungsbeamten, Bauunternehmer und Baufirmen, die für das Ausmaß dieser Katastrophe verantwortlich sind.

Mit über vier Millionen Geflüchteten beherbergt die Türkei die größte Geflüchtetenbevölkerung der Welt. Schon vor dem Erdbeben war die Stimmung in der türkischen Gesellschaft gegen die Einwanderung hoch. Kapitalistische Politiker*innen benutzen Geflüchtete als Sündenböcke für den Mangel an Ressourcen und Wohnungen.

Die Verbreitung dieser Gerüchte kann jedoch zu einer gefährlichen Eskalation der Spannungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften führen. Die Arbeiter*innenbewegung in der Türkei muss diese “Teile-und-herrsche”-Taktik bekämpfen, indem sie für eine geeinte Bewegung für Arbeitsplätze und Wohnungen für alle kämpft.

Arbeiter*innenpartei nötig

Die Türkei ist eines der reichsten Länder der Welt. Sie verfügt über genügend Ressourcen, um einen angemessenen Lebensstandard für alle zu gewährleisten. Aber das Geld, das in der Gesellschaft vorhanden ist, fließt in die Taschen der Reichen, nicht in die der Arbeiter*innen.

Anstatt die mehr als eine Million leerstehender Wohnungen und Hotels in der Umgebung zu nutzen, baut die Regierung Zeltlager oder wirft Studenten aus ihren Wohnheimen hinaus.

Es muss ein Notprogramm zum Wohnungsbau geben, das in Absprache mit der örtlichen Bevölkerung entwickelt wird, um das Gebiet wieder aufzubauen und die Menschen unterzubringen. Aber man kann nicht darauf vertrauen, dass diese Regierung oder die Bauunternehmen dies durchführen.

Die Verstaatlichung des Wohnungssektors unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiter*innenklasse ist notwendig, um wirklich erschwingliche, erdbebensichere Häuser zu bauen.

Auf Erdoğan und die pro-kapitalistischen Oppositionsparteien ist kein Verlass. Diese pro-kapitalistischen Politiker*innen sind nicht nur für die verursachten Verwüstungen verantwortlich, sondern sie werden auch wollen, dass die Arbeiter*innenklasse für die wirtschaftlichen Kosten dieser Katastrophe aufkommt.

Die Arbeiter*innenbewegung in der Türkei muss dringend mit der Diskussion über die Gründung einer neuen Massenpartei der Arbeiter*innen beginnen, die ein sozialistisches Programm hat. Ein solches Programm würde den Kampf für Arbeitsplätze, Wohnungen und einen angemessenen Lebensstandard für alle beinhalten, auch für diejenigen, die nach dem Erdbeben im Stich gelassen und vernachlässigt werden.

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