Internationaler Frauentag 2023: Intersektionalität …

… und der Kampf gegen Sexismus

„Frau, Leben, Freiheit”, “Black lives matter”, “#Metoo”, Ni una mas – Proteste gegen gemeinsame Unterdrückung sind ein hervorstechendes Merkmal der heutigen Welt. Frauen in den USA, Polen, Irland und Lateinamerika sind aufgestanden, um das Recht auf Abtreibung zu verteidigen und auszuweiten. Proteste gegen geschlechtsspezifische Gewalt haben Länder von Indien bis Mexiko erfasst. Niedrig bezahlte Arbeiterinnen in Schottland haben gestreikt und einen wichtigen Kampf für gleiche Bezahlung gewonnen. All diese Bewegungen haben verschiedene Theorien und Strategien für einen erfolgreichen Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen hervorgebracht. 

Von Christine Thomas


Eine dieser Ideen ist die Intersektionalität. Wie viele Theorien der Unterdrückung lässt sie unterschiedliche Interpretationen zu, wird aber im Allgemeinen als Anerkennung der Tatsache verstanden, dass Einzelpersonen und Gruppen mehrere Unterdrückungen erfahren können – Geschlecht, Hautfarbe, Klasse, Sexualität, Behinderung usw. – und dass diese Unterdrückungen sich “überschneiden” und sich gegenseitig beeinflussen.
Intersektionalität ist nicht neu. Sie entstand in der Frauenbewegung in den USA in den 1970er Jahren, die anfangs dazu neigte, “Frauen” als eine undifferenzierte Gruppe zu betrachten. Vor allem schwarze Frauen hatten das Gefühl, dass ihre Erfahrungen nicht berücksichtigt wurden. In den heutigen Bewegungen war es vor allem der Wunsch nach Einheit im Kampf, der die Demonstrant*innen für die Idee der Intersektionalität begeisterte, und das hat das Potenzial, eine allgemein positive Entwicklung zu sein.
Die “zweite Welle” der Frauenbewegung fand in einer Zeit der Radikalisierung statt, mit  Arbeiter*innenkämpfen, der Bürger*innenrechtsbewegung in den USA, Massenprotesten gegen den Krieg in Vietnam und nationalen Befreiungsbewegungen gegen den Imperialismus. Die Jahrzehnte, die ihren Niedergang ab Ende der 1970er Jahre begleiteten, waren die des Aufstiegs des Neoliberalismus, des Zusammenbruchs der stalinistischen Staaten und eines niedrigen Niveaus kollektiver Kämpfe, da die Führer*innen der Gewerkschaften und der traditionellen Arbeiter*innenparteien sich dem kapitalistischen Markt anschlossen.
Vor diesem Hintergrund fassten “postfeministische” Ideen und “Identitätspolitik” an den Universitäten und in der Populärkultur Fuß und betonten einen individuellen Weg zu Gleichheit und Befreiung. Mit der richtigen Einstellung sei die Gleichberechtigung für Frauen zum Greifen nah. Sie sollten sich darauf konzentrieren, sich selbst zu ändern, anstatt die Gesellschaft zu verändern. Wenn es uns gelänge, die Frauen besser zu repräsentieren, mehr Frauen in einflussreiche Positionen zu bringen, würden sich die Dinge zum Besseren wenden, so die Argumentation.



Kollektiver Kampf


Sie taten es nicht. Und die globale Finanzkrise von 2007/08 löste eine Periode brutaler Sparmaßnahmen aus. Dies traf vor allem Frauen, die eher auf öffentliche Dienste und Leistungen angewiesen sind und im öffentlichen Sektor arbeiten. Diese neue Periode der Krise und der wachsenden Ungleichheit hat den Beginn eines Aufschwungs des kollektiven Kampfes ausgelöst, der durch die Covid-Pandemie und die aktuelle Preissteigerungen noch verstärkt wurde – beides hat Frauen in vielerlei Hinsicht unverhältnismäßig stark betroffen. In den sozialen Bewegungen, die auf die Straße gegangen sind, ist der Gedanke der Einheit sehr stark – sie versuchen, einige der Spaltungen zu überwinden, die die herrschenden Klassen in der Vergangenheit geschürt haben, um unsere Kämpfe zu schwächen.
Obwohl es immer noch Minderheiten gibt, die Männer von Frauenprotesten oder Weiße vom Kampf gegen Rassismus und Polizeibrutalität ausschließen wollen oder die in die Falle tappen, die Rechte von Frauen und Trans-Personen als widersprüchlich zu betrachten, ist dies nicht der vorherrschende Trend in den jüngsten Bewegungen. Vor allem unter jungen Menschen wächst die Erkenntnis, dass Unterdrückungen miteinander verknüpft sind und dass die Kämpfe von unterdrückten und ausgebeuteten Gruppen gestärkt werden, wenn sie sich zusammenschließen.
Aber dies muss mit einem Verständnis dafür kombiniert werden, wie alle Unterdrückungen in der kapitalistischen Gesellschaft verwurzelt sind und durch sie verstärkt werden – was die meisten Theorien der Intersektionalität nicht tun. Ohne dieses Verständnis und eine Strategie zur Überwindung des Kapitalismus sind alle Errungenschaften ständig bedroht. 


Ursprünge der Unterdrückung


Es stimmt, dass die Ursprünge verschiedener Unterdrückungen nicht unbedingt dieselben sind – in diesem Punkt sind sich Intersektionalität und Marxismus im Allgemeinen einig. Anders als zum Beispiel der Rassismus hat die Unterdrückung der Frau ihren Ursprung nicht im Kapitalismus, sondern in den ersten Klassengesellschaften, die vor Tausenden von Jahren entstanden sind. Die patriarchalische Familie und die Rolle der Frauen in ihr als Erzeugerinnen legitimer männlicher Erben – ihre Fortpflanzung, ihre Sexualität und ihr Verhalten unter der Kontrolle und Autorität von Vätern und Ehemännern – entstanden im Rahmen derselben Prozesse, die zu Privateigentum und Kontrolle von Produktion und Reichtum sowie zur Ausbeutung durch eine Klasse führten. Mit der Entwicklung komplexerer Staaten wurde die Unterdrückung der Frauen in der gesamten Gesellschaft durch Religion, Ideologie, das Rechtssystem usw. legitimiert und verstärkt.
Das kapitalistische Profitsystem übernahm die patriarchalische Familie und die patriarchalische Ideologie aus früheren klassenbasierten Gesellschaften und passte sie dann an die wirtschaftlichen Bedürfnisse der herrschenden Kapitalistenklasse an. Natürlich hat sich die gesellschaftliche Einstellung zu den traditionellen Geschlechterrollen stark verändert – als Ergebnis von Kampagnen und strukturellen Veränderungen im Kapitalismus, die dazu führen, dass immer mehr Frauen berufstätig sind. Dennoch liegt die Hauptverantwortung für die Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Familienangehörigen nach wie vor bei Frauen. Zusammen mit der verbleibenden Diskriminierung am Arbeitsplatz und den Geschlechterstereotypen wirkt sich dies auf die Art der Arbeitsplätze, die Frauen ausüben können, die Löhne, die sie verdienen können, und die Bedingungen, unter denen sie arbeiten können, aus. Und da sich der Kapitalismus in einer tiefen Systemkrise befindet, sind die politischen Vertreter der Kapitalist*innen nicht bereit, die Mittel für die öffentliche Finanzierung einer hochwertigen, flexiblen Kinderbetreuung, die Frauen benötigen, oder für andere öffentliche Dienste und Leistungen, auf die sie angewiesen sind, bereitzustellen – nicht zuletzt, weil dies bedeuten würde, dass die Gewinne der Kapitalist*innen durch höhere Steuern geschmälert würden.
All dies verstärkt die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die sexistischen Vorstellungen, die sich in der Gesellschaft immer noch hartnäckig halten. Geschlechterungleichheit und Kapitalismus sind so untrennbar miteinander verwoben, dass es unmöglich ist, erfolgreich gegen „das Patriarchat“ zu kämpfen, wenn dieser Kampf nicht mit einer Gesamtstrategie zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft verbunden ist. Obwohl Kampagnen gegen patriarchalische, sexistische und frauenfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen wichtig sind, können diese in einem krisengeschüttelten kapitalistischen System, dessen Motor die Profitmaximierung ist, nur begrenzt verändert werden.  


Antikapitalismus


Eine wachsende Minderheit derjenigen, die sich heute in sozialen Kämpfen engagieren und sich der globalen Ungleichheit, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Klimazerstörung bewusst sind, würde sich als “antikapitalistisch” bezeichnen – darunter auch einige Verfechter*innen der Intersektionalität. Aber selbst in den Fällen, in denen Intersektionalität als “antikapitalistisch” bezeichnet werden könnte, bietet sie keine Strategie zum Sturz des kapitalistischen Systems. Für Marxist*innen spielt die organisierte Arbeiter*innenklasse aller Geschlechter die zentrale Rolle im Kampf zur Beendigung des Kapitalismus.. Die Intersektionalität hingegen erkennt zwar die Klassenunterdrückung an, betrachtet sie aber nur als eine von vielen Unterdrückungsformen und die Arbeiter*innen nur als eine*n “Verbündete*n” unter vielen in den Kämpfen gegen Unterdrückung.
Es besteht kein Zweifel daran, dass die Millionen von gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen potenziell mächtige Verbündete sind, die man in jeder Kampagne oder Bewegung an seiner Seite haben kann. Aber Arbeiter*innen sind viel mehr als nur Verbündete oder eine weitere unterdrückte Gruppe. Aufgrund ihrer Ausbeutung am Arbeitsplatz, als Quelle der kapitalistischen Gewinne, und weil ihr Konflikt mit den Kapitalist*innen sie zu einem kollektiven Bewusstsein und Handeln drängt, haben sie sowohl das materielle Interesse als auch die Macht, den Kapitalismus in die Knie zu zwingen. Und durch die Übernahme der Kontrolle über die großen kapitalistischen Unternehmen, die Abschaffung des Profitmotivs und die Einführung einer demokratischen sozialistischen Planung der Wirtschaft haben sie die Möglichkeit, mit dem Aufbau einer gerechteren und gleichberechtigten Gesellschaft zu beginnen.
Doch so heldenhaft Aufstände und Massenbewegungen, in denen Frauen eine wichtige Rolle spielten, auch waren –  im Iran, Sudan, Sri Lanka, Chile und anderswo – sie zeigen deutlich, dass Mut und Entschlossenheit angesichts von Unterdrückung und Repression nicht ausreichen. Um die Gesellschaft zu verändern, braucht es eine politische Organisation, eine Struktur und ein Programm für einen revolutionären Wandel.
Der Internationale Frauentag war ursprünglich ein Kampftag, der von sozialistischen Frauen initiiert wurde, die den Zusammenhang zwischen der Befreiung der Frauen und der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft verstanden: dass der Sozialismus nicht nur eine nette Idee ist, sondern absolut notwendig, wenn Frauen und alle unterdrückten Gruppen Ungleichheit, Diskriminierung und Missbrauch beenden sollen. Was die Frauen betrifft, so würde eine demokratische Planwirtschaft die Mittel freisetzen, die es ihnen ermöglichen, eine echte Wahl über die Art ihrer Arbeit zu treffen, mit den von ihnen gewünschten Arbeitszeiten und zu angemessenen Löhnen und Bedingungen. Voll finanzierte, qualitativ hochwertige und demokratisch kontrollierte öffentliche Dienstleistungen würden die Frauen von der Last der Pflege und des Haushalts befreien und die Grundlage für die Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern am Arbeitsplatz, in der Familie und in der Gesellschaft im weiteren Sinne schaffen. Das öffentliche Eigentum an den großen Unternehmen würde die Kommerzialisierung und Objektivierung von Frauen und die Aufrechterhaltung starrer Geschlechternormen und -stereotypen beenden.
Natürlich würden sich die Einstellungen nicht über Nacht ändern, nur weil der Kapitalismus durch ein sozialistisches System ersetzt wird. Aber mit einer Wirtschaft, die auf Zusammenarbeit, Solidarität und Gleichheit basiert, ohne Klassen und Hierarchien, würden diese Werte die gesamte Gesellschaft durchdringen und den Grundstein für die Abschaffung von Gewalt, Belästigung, Missbrauch, Diskriminierung, Ungleichheit und jeglicher Unterdrückung legen.

Christine Thomas ist verantwortliche Redakteurin des Magazins „Socialism Today“ der Socialist Party in England und Wales und Autorin des im Manifest-Verlag gerade erschienen Buchs „Es muss nicht bleiben, wie es ist – Frauen und der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft.“