Nach Niederschlagung des Aufstands vor einem Jahr, wird arbeiter*innenfeindliche Politik fortgesetzt
Das Jahr 2022 begann mit großen Hoffnungen auf zukünftige Veränderungen nicht nur in Kasachstan, sondern auf der ganzen Welt. Gleich Anfang Januar nahm die Proteststimmung der Bevölkerung eine fast revolutionäre Form an, was den Willen zum Sturz der Regierung des Landes betraf. Da es jedoch an der notwendigen Führung und Organisation fehlte, wurden die Proteste gewaltsam niedergeschlagen. Viele Menschen wurden verletzt oder starben.
Von Aktivist*innen aus Kasachstan
Um einen Umsturz der Regierung zu verhindern, bat Präsident Tokajew den russischen Staatschef Wladimir Putin um Hilfe. Man brachte Truppen – zumeist russische – ins Land, um den Aufstand niederzuschlagen. Tokajew erfand ein Märchen über “zwanzigtausend Terroristen” aus dem Ausland. In Wirklichkeit handelte es sich bei den Demonstrant*innen um ganz normale Bürger*innen Kasachstans. Nicht ein einziger sogenannter Terrorist wurde festgenommen. Alle Ermordeten und Verletzten waren einfach nur wütende Menschen.
Zahl der Todesopfer
Stand jetzt – Anfang 2023 – wird die Zahl der vor einem Jahr Ermordeten auf 243 geschätzt, darunter auch Kinder. Tausende wurden verletzt. Die wahre Zahl der Opfer bleibt unbekannt, da die Regierung immer noch versucht, die Wahrheit zu vertuschen. Armee und Polizei setzten das blutige Massaker tagelang fort, und es gibt wahrscheinlich weit mehr Opfer. Es gibt einen berüchtigten Fall, in dem Soldaten auf ein Auto schossen, in dem sich eine Familie mit zwei Kindern befand. Ein vierjähriges Mädchen namens Aikorkem wurde direkt in den Kopf geschossen. Später rechtfertigte die kasachische Regierung diesen Mord und stufte den Fall als rechtmäßig ein.
Viele Demonstrant*innen sind immer noch inhaftiert und warten auf einen Prozess vor Gericht. Viele wurden zu Haftstrafen verurteilt. Keiner der Polizisten oder Soldaten, die unschuldige Menschen ermordet haben, wurde zur Rechenschaft gezogen. Tokajew hat jeden einzelnen von ihnen amnestiert. Nur diejenigen Polizisten und Soldaten wurden verhaftet, die “übermäßige Nachlässigkeit” und unzureichende Grausamkeit an den Tag legten. Einige hatten sich geweigert, auf unbewaffnete Bürger*innen ihres Landes zu schießen, verließen ihre Posten und legten ihre Waffen nieder oder gingen auf die Seite des Volkes über. Sie waren es, die verhaftet wurden, wenngleich solche Fälle selten waren.
Präsident Tokajew, ein lebenslanger Freund und Mitarbeiter des früheren Diktators Nasarbajew, wird sich nie auf Reformen einlassen. Als Nasarbajew 2019 zurücktrat, um in Ruhe das Geld zu genießen, das er dem Volk gestohlen hatte, führte er Tokajew an der Hand. Durch Betrug und Nötigung wurde er der neue Präsident. Mit seinem ersten Dekret am nächsten Tag löste Tokajew die Regierung und das Parlament nicht auf, kündigte keine Reformen an, sondern benannte Astana, die Hauptstadt Kasachstans, in Nursultan um – die Stadt Nasarbajews. Am nächsten Tag begannen in allen Städten des Landes die Hauptstraßen nach dem “Führer der Nation” benannt zu werden. Die Straße, die nach dem Bolschewiken und Revolutionär Dmitri Furmanow benannt war, trug nun auch den Namen des Führers der Nation, Nasarbajew.
Mehr braucht man gar nicht zu wissen. Dreieinhalb Jahre der Präsidentschaft von Tokajew haben nichts geändert, außer einer Umverteilung der Beute unter Nasarbajews Clan und deren Abwendung von jeglicher Verantwortung. Im Moment lebt Nasarbajew mit all seinem gestohlenen Reichtum in den Vereinigten Arabischen Emiraten in Saus und Braus. Er ist dort unten ein gern gesehener Gast. Vielleicht weiß man dort nur nicht, dass das Geld, das er verwendet, dem Volk gestohlen wurde, aber wahrscheinlich wissen sie es.
Tokajew und Russland
Tokajew unterstützt Putin stillschweigend im Krieg in der Ukraine, um Sanktionen zu vermeiden. Er kann nicht anders handeln. Die gesamte Familie des Präsidenten – Frau und Kinder – lebt in Moskau, in Rubljowka, einem Luxusviertel mit sehr teuren Immobilien, das für die örtlichen Oligarchen gebaut wurde.
In Kasachstan, selbst in den mehrheitlich russischen Gebieten im Norden, unterstützt fast niemand den Krieg in der Ukraine. Die Bürger Kasachstans unterstützen mehrheitlich die Ukraine. Aber die russischen Propagandakanäle arbeiten rund um die Uhr und rufen ganz offen zur Zerstörung der Ukraine und der Ukrainer*innen auf. Die gesamte kasachische Wirtschaft arbeitet jetzt für das Putin-Regime, zum Nachteil der kasachischen Bevölkerung. Jeder sieht es. Und eine neue Revolution braut sich zusammen.
Wahlen
Zuletzt hat Tokajew versucht, die Menschen zu täuschen, indem er die Verfassung änderte und erneut Wahlen manipulierte. Am Referendum über die Änderung der Verfassung beteiligten sich nur 37 Prozent der Einwohner von Almaty, während der Wahlausschuss fälschlicherweise eine Beteiligung von 43,7 Prozent ausgab. Die gesamte Wahlbeteiligung bei den Wahlen im November lag bei nur 68,44 Prozent.
Der Arbeiter*innenpartei, die wir zu gründen versuchen, wurde die Zulassung verweigert, ebenso wie anderen Parteien, die nicht loyal gegenüber der Regierungspartei und Tokajew persönlich sind. Bei den auf den 20. November vorgezogenen Präsidentschaftswahlen unterstützte die Gewerkschaft Amanat einen Kandidaten mit einem Programm zur Verstaatlichung der Unternehmen und zur Zerschlagung der Oligarchie. Tokajew wurde durch Fälschungen und Klüngelei zum Präsidenten. Bei den vorzeitig anberaumten Wahlen konnte es gar nicht anders sein, da es keine oppositionellen Kräfte gab, die über starke Ressourcen verfügten , da solche von der totalitären Regierung Nasarbajew-Tokajew zerschlagen wurden. Außer der Regierungspartei war niemand auf die Wahlen vorbereitet, und genau so war es auch gewollt.
Dennoch haben mehr als 220.000 Wähler*innen für unseren Kandidaten gestimmt. Die Parlamentswahlen, die im Jahr 2024 stattfinden sollten, wurden nun ebenfalls vorgezogen, wie es in Nasarbajews Kasachstan immer der Fall war, und auf den 19. März 2023 angesetzt. Der Ausschluss aller Oppositionsparteien zeigt, dass die Wahlen erneut gefälscht und im Prinzip bedeutungslos sein werden. Das erste, was Tokajew nach seinem Wahlsieg getan hat, worüber übrigens alle staatlichen Fernsehsender stolz berichteten, war die Rückbenennung der Hauptstadt in Astana! Das sah in der Tat extrem lächerlich aus, doch bereits jetzt bereitet die Regierung weitere Repressionen vor.
Kommende Kämpfe
Ende Dezember hat sich eine große Organisation von Ölarbeiter*innen aus dem Westen Kasachstans unserer unabhängigen Gewerkschaft Amanat angeschlossen, und unsere Arbeit geht weiter. Präsident Tokajew setzt jedoch weiterhin Gesetze durch, die die Gewerkschaftsarbeit behindern. Deren Wortlaut ist erschütternd.
Unmittelbar nach den Neujahrsfeierlichkeiten für 2023 führte Tokajew eine Verordnung ein , wonach Kundgebungen und Streiks “ohne Schaden für die Geschäftsinhaber” stattfinden sollen! Wie Putin hat auch Tokajew die Renten erhöht, aber nicht für alle Rentner. Vielmehr nur für diejenigen, deren Rente bereits auf Armutsniveau ist, und nur für alleinstehende Rentner*innen, von denen es nur sehr wenige gibt. Wenn eine Person im Rentenalter eine Familie hat, dann werden ihr keine zusätzlichen Zahlungen zugestanden. Der Unterhalt älterer Eltern fällt auf die Schultern der Arbeiter*innen, die angesichts der gestiegenen Inflation mehr als 55 Prozent ihres Gehalts nur für Lebensmittel ausgeben. Die Hauptwählerschaft von Tokajew sind, wie bei Putin, Rentner*innen und Menschen über fünfzig. Aber Kassym-Jomart Kemelevich Tokajew zieht es vor, auch bei ihnen zu sparen.
Das neue Haushaltsgesetz, das Tokajew nach den Ereignissen von 2022 einführte, friert die Sozialleistungen bis 2025 auf einen festen Betrag ein. Menschen, die nicht in der Lage sind, eine Krankenversicherung zu bezahlen, haben praktisch keinen Zugang mehr zur medizinischen Versorgung. Sie werden nur noch im Notfall, bei Lebensgefahr, behandelt; eine andere Behandlung ist schlichtweg nicht verfügbar. Die kostenlose Versorgung gehört nach Tokajews Plänen bald der Vergangenheit an. Die medizinischen Einrichtungen sind ständig unterbesetzt. Mit dem Machtantritt von Tokajew und nach den Ereignissen vom Januar 2022 sowie der blutigen Niederschlagung des Aufstands begann die Ungleichheit im Landes rapide anzusteigen.
Der Ginny-Koeffizient stieg im Zeitraum 2021 bis 2022 in kürzester Zeit von 0,291 (offizielle Zahlen) auf 0,332. Nach der Untersuchung der Ereignisse vom Januar 2022, als sich der Ungleichheitskoeffizient in Kasachstan dem Niveau von Algerien und Albanien anzunähern begann, hat das kasachische Finanzministerium die Veröffentlichung neuer Daten zur Ungleichheit einfach eingestellt und gibt weiterhin die Zahlen für 2021 heraus. Es ist unmöglich zu sagen, wie viel größer die Ungleichheit in Kasachstan heute ist, und diese Zahlen spiegelten nach Ansicht oppositioneller Wirtschaftswissenschaftler auch wahrscheinlich nie das reale Ausmaß wider. Einigen Experten zufolge nähert sich die Ungleichheit in Kasachstan den Indikatoren den ärmsten Regionen Russlands an und liegt bei 0,421. Nur die Reichsten – die Oligarchen usw. – verfügen über fast die Hälfte des gesamten Vermögens.
In Kasachstan geht der Angriff auf die Demokratie im Jahr 2023 weiter. Kassym-Jomart Kemelevich Tokajew ist der antidemokratischste Präsident, den das Land jemals hatte – selbst im Vergleich zu Nasarbajew. Regelmäßig werden oppositionelle Journalist*innen verhaftet.
Es scheint, dass die Führung des heutigen Kasachstans versucht, die Demokratie vollständig abzuschaffen und sie durch eine Leistungsgesellschaft im schlimmsten bürgerlichen Sinne zu ersetzen. Unabhängigen und oppositionellen Parteien wird die Registrierung konsequent verweigert, obwohl die Verfahren vereinfacht wurden. Seit der Niederschlagung des Aufstandes sind nur zwei Parteien – Respublika und Baitak – registriert worden. Ihre Führer – Beibit Alibekov, der ehemalige Schwiegersohn des Arbeitsministers unter Nasarbajew, und Azamatkhan Amirtaev, ein Mitarbeiter von Putins Skolkovo School of Management in Russland – unterstützen voll und ganz den Kurs des totalitär-leistungsorientierten Polizeiregimes Nasarbajew-Tokajew. Wie in Russland wurden die Gehälter der Polizei- und Sicherheitskräfte erhöht und ihre Versorgung verbessert.
Der Kampf für demokratische Rechte und sozialistische Politik muss weitergehen. Je mehr die Schraube angezogen wird, desto größer wird die Explosion sein. In unserem riesigen Land und den angrenzenden Gebieten, einschließlich China, können große Klassenkonflikte ausbrechen. Die zentralasiatische Region könnte bald zum Schauplatz bedeutender weltpolitischer Ereignisse werden. Kriege, Umwälzungen und Revolutionen werden Arbeiter*innenorganisationen und sozialistische Politik im großen Stil erfordern.
Dieser Artikel erschien zuerst am 8. Februar 2023 auf socialistworld.net