Mit dem Marxismus können wir Rassismus in seiner historischen Entwicklung verstehen“

Interview mit Bafta Sarbo zu ihrem Buch „Die Diversität der Ausbeutung“

Im September 2022 erschien das Buch „Die Diversität der Ausbeutung“, das du zusammen mit Eleonora Roldán Mendívil herausgegeben hast. Was hat Euch dazu bewogen, diesen Textband zu erstellen und was hat es mit dem Titel auf sich?



Wir waren beide schon jahrelang in der antirassistischen Szene aktiv und obwohl wir beide schon länger ein marxistisches Selbstverständnis hatten, hat sich das nicht wirklich praktisch umgesetzt. Wir haben uns dann ausgetauscht, darüber was uns fehlt und haben zum Marx200 Kongress 2018 ein gemeinsames Paper eingereicht und einen Workshop gemacht. Das ist auf sehr viel Interesse gestoßen und so kam die Idee auf diesen Sammelband zu verschiedenen Themen herauszugeben.

Der Titel soll das populäre Schlagwort der Diversität aufgreifen und kritisch beleuchten. Der Titel soll dabei doppeldeutig sein: Diversität ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend zum Synonym für Antirassismus geworden. Dabei geht es häufig nur um die Forderungen, Institutionen der kapitalistischen Herrschaft und Ausbeutung auszudifferenzieren, also wenn die reichsten ein Prozent divers aufgestellt sind, besteht für Liberale häufig kein Problem. Dass es eine herrschende Klasse gibt, ist für diese weniger ein Problem, als dass sie zum großen Teil aus weißen Männern besteht. Zum anderen geht es darum, dass Ausbeutung im Kapitalismus unterschiedliche Grade hat, das heißt die Ausbeutungsbedingungen für unterschiedliche Teile der Arbeiterklasse sind nicht gleich. In diesem Zusammenhang haben wir den Begriff der Überausbeutung aufgegriffen, der die polit-ökonomische Grundlage für unseren Rassismusbegriff darstellt. Diese „Diversität der Ausbeutung“ ist die Basis für eine Fragmentierung der Arbeiterklasse, die dann rassistisch erklärt und gerechtfertigt wird.


Zur Zeit gibt es vielfältige Erklärungsansätze für Rassismus und andere Ideologien der Unterdrückung, die vor allem an den Universitäten gelehrt werden, aber auch in Medien bis in die Bundesregierung präsent sind. Warum bietet der Marxismus einen vollständigere Analyse?

Mit dem Marxismus können wir Rassismus in seiner historischen Entwicklung verstehen, also wie der Rassismus entstanden ist, wieso er weiterhin existiert, wie er gesellschaftlich funktioniert. So können wir verstehen, wieso Rassismus nicht einfach nur eine natürliche Ablehnung „des Fremden“ ist, wie es ein plattes Alltagsverständnis vielleicht suggeriert. Indem wir verstehen, wie der Rassismus aus der Entwicklung des Kapitalismus heraus entstanden ist und ihn gleichzeitig begünstigt hat, ergibt sich daraus auch eine andere politische Notwenigkeit. Und das macht den Marxismus aus, er ist keine politische Theorie, die abgeschottet ist von den realen politischen Bewegungen außerhalb akademischer Institutionen oder diese Bewegungen nur von außen beurteilt. Die politische Praxis, das heißt der Kampf für den Sozialismus ist untrennbar mit der Theorie verbunden.


Du hast im Buch gemeinsam mit Eleonora unter anderem einen Beitrag zu Intersektionalität und Identitätspolitik verfasst, Ansätze, die bis in die radikale Linke hinein vertreten sind. Was sind die Kernpunkte Eurer Kritik daran?

Wir haben bei unserer Kritik bei den ursprünglichen Texten dieser Bezüge angesetzt, hauptsächlich beim Schwarzen Feminismus innerhalb der US-Linken der 60er und 70er Jahre. Diese hatten noch ein sozialistisches Selbstverständnis und beziehen sich spezifisch auf Fragen von unterschiedlichen Lebensrealitäten innerhalb der Arbeiterklasse. Das heißt die Art wie schwarze Frauen Klassenunterdrückung erfahren, ist nicht dieselbe wie weiße Männer sie erfahren und das wollten diese noch theoretisieren. Während diese Frage grundsätzlich richtig ist, sieht man da schon eine gewisse Verwischung des Klassenbegriffs, denn er wird vor allem als Unterdrückungsverhältnis begriffen und nicht als Ausbeutungsverhältnis. Diese Verwischung macht die Gleichsetzung des Klassenverhältnisses mit Unterdrückungsverhältnissen wie Rassismus oder Patriarchat möglich. Die Frage, wo diese Unterdrückungsverhältnisse herkommen, wird sich in der Regel auch nicht gestellt, sie werden vielmehr als statische Identitäten ohne zeitliche und räumliche Kontextualisierung begriffen. Es geht uns dabei explizit nicht darum Verhältnisse zu hierarchisieren, sondern zu erklären, wieso Klasse ein bestimmtes Verhältnis im Kapitalismus ist, durch das Reichtum auf der einen und Armut auf der anderen Seite produziert wird. Das ist nicht einfach eine passive unterdrückte Position, sondern darüber ergibt sich ein besonderes Potenzial, denn die spezifische Macht der Arbeiterklasse liegt darin, dass der gesellschaftliche Reichtum von ihnen produziert wird. Diese politische Perspektive, die sich die Frage nach Ursprung von Identitäten und Überwindung des Kapitalismus stellt, sehen wir in diesen Ansätzen nicht.


Das Buch geht gerade in die dritte Auflage und zum ersten Mal seit langem füllt ihr mit Diskussionsveranstaltungen mit einem marxistischen Anspruch ganze Säle. Was ist der Grund für die große Aufmerksamkeit, die das Thema bekommt?

Ich denke, das hat unterschiedliche Gründe, zum einen merkt man in den letzten Jahren eine zunehmende rhetorische Radikalisierung antirassistischer Parolen, aber nicht zunehmend eine praktische Radikalisierung. Vielleicht weil jahrelang dafür die Ansätze gefehlt haben.

Viele Linke in Deutschland, und darunter vor allem migrantische Linke, haben zwar ein Unbehagen mit vielen Formen liberalen Antirassismus, befinden sich aber durch ständige rechte und rassistische Angriffe auf jede Form von Antirassismus, in einer defensiven Haltung. So ging es mir zumindest selbst lange. Da Eleonora und ich aber selbst migrantische Frauen aus der antirassistischen Bewegung sind, gibt es eine andere Offenheit unsere Kritik anzuhören, weil man zumindest nicht so defensiv herangehen muss. Ich sehe da auch ein gewisses Potenzial eine Brücke zum Marxismus zu schlagen.


Sicher gibt es nicht nur Zustimmung, sondern auch kritische Stimmen zu den Texten. Was zeichnet sich da ab und wie beurteilst du die Debatte bisher?


Es gibt überraschend wenig Kritik bisher, ich denke dazu müssen es erst mal mehr Menschen wirklich lesen. Bisher gab es einige Kritiken von anderen Marxisten, die mit spezifischen Punkten in einigen Artikeln nicht einverstanden waren.

Ansonsten gab es eine Erwiderung zu unserem Vorwort, indem es Kritik an der Triple-Oppression Theorie gibt, die als erste Abkehr vom marxistischen Klassenbegriff und Vorläufer der Intersektionalitätstheorie eingeordnet wird.

Und natürlich eine negative Rezension von einem ehemaligen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, das ist für uns aber eher eine positive Rückmeldung.

Die größte Irritation hat wahrscheinlich das Lenin-Zitat am Anfang ausgelöst, das für viele dogmatisch wirkt, wobei es aber das genaue Gegenteil aussagt: Der Marxismus als Methode, die keine „Ideologie europäischer Männer“ ist, sondern eine Methode, mit der sich alle menschlichen Gesellschaften analysieren lassen und ein politischer Anspruch, der auf universelle menschliche Befreiung ausgerichtet ist.


Die Diskussion ist mit dem Buch bestimmt noch nicht beendet, was ist als Nächstes geplant?

Einige Themen haben wir im Buch nicht eindringlich behandelt oder wir konnten zumindest nur peripher drauf eingehen: Dazu gehört die deutsche Kolonialgeschichte und der Zusammenhang mit antischwarzem und antislawischem Rassismus in Deutschland, Rassismus in der DDR, Rassismus im Neoliberalismus und der deutsche Imperialismus. Wir verstehen unser Buch aber nicht als Enzyklopädie der Rassismustheorie, sondern stellen eine Methode vor, die andere ermutigen soll, diese Themen aufzugreifen und andere marxistische Analysen zu Rassismus in Deutschland zu machen. Eleonora arbeitet an ihrer Dissertation zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und ‘Rasse’ und damit an einer systematischen marxistischen Alternative zu Intersektionalitätstheorie. Ich arbeite weiter zur Frage der Überausbeutung und ihren imperialismustheoretischen Wurzeln.

Das Buch kann hier bestellt werden.

In der zweiten Jahreshälfte wird im Manifest Verlag das Buch “Wie Europa Afrika unterentwickelte” von Walter Rodney in neuer Übersetzung erscheinen. Neben anderen wird Bafta Sarbo dort über das politische Wirken Walter Rodneys schreiben.

Die Ankündigung des Titels findet Ihr auf der Seite des Verlags: https://manifest-buecher.de/manifest-verlag-legt-walter-rodneys-klassiker-wie-europa-afrika-unterentwickelte-in-neuer-uebersetzung-auf/