Iran: „Charta” unabhängiger Gewerkschaften und ziviler Organisationen

Ein Schritt nach vorn, aber konsequenter sozialistischer Ansatz erforderlich

Anfang März fanden im ganzen Iran Demonstrationen statt, um gegen die offensichtlichen chemischen Angriffe auf Studentinnen zu protestieren, die seit November letzten Jahres stattgefunden haben. Es scheint sich dabei um einen organisierten Versuch zu handeln, junge Frauen einzuschüchtern, die seit dem Tod von Jina (Mahsa) Amini durch die “Sittenpolizei” im September letzten Jahres an der Spitze der Massenopposition gegen das Regime stehen.

von Lukas Zöbelein, Mainz

Am 16. und 17. Februar gab es breite Proteste zum Ende der vierzigtägigen Trauerzeit für Mohammad Mehdi Karimi und Sayed Mohammad Hosseini. Die beiden wurden wegen ihrer Beteiligung am “Jina-Aufstand” – der Bewegung “Frau, Leben, Freiheit”, die den Iran seit fast sechs Monaten in Atem hält – hingerichtet. Die Proteste im Februar fanden in Teheran, Karaj, Mashhad, Isfahan, Qazvin, Rasht, Arak, Izeh und Sanandaj statt.

Auch wenn sie offensichtlich nicht so groß waren, wie einige der früheren Proteste, so zeigten sie doch die anhaltenden Auswirkungen des Jina-Aufstandes. Trotz aller Höhen und Tiefen spiegeln das Ausmaß der Proteste im Februar und März und die Fortsetzung der revolutionären Jugendbewegung die zugrunde liegende Wut und den Widerstand gegen das Regime wider. Das Regime war schon vor dieser Bewegung unpopulär, wie die massenhafte Stimmenthaltung bei den so genannten “Wahlen” zeigt.

Jetzt gibt es für das Regime keinen Weg zurück zur Situation vor dem Tod von Jina (Mahsa) Amini; der Iran hat sich verändert.

Dies spiegelt sich in den sich vertiefenden Spaltungen innerhalb der iranischen herrschenden Klasse und den Spannungen innerhalb des Staatsapparats wider. Ein Beispiel ist die massive Kritik aus den Reihen der (Gegen-) “Revolutionsgarden” an den zu niedrigen Gehältern ihrer Soldaten, insbesondere der Basidsch-Miliz. Sie verdienen im Durchschnitt nur etwa 300 US-Dollar pro Monat, was einem Viertel des Gehalts der Kämpfer der vom Iran finanzierten Hisbollah im Libanon entspricht.

Die „Revolutionsgarden“ und insbesondere die ihnen unterstellte Basidsch-Miliz haben bei den Versuchen, die revolutionäre Jugendbewegung einzuschränken und zu unterdrücken, eine zentrale Rolle gespielt. Bislang wurden mindestens 529 Menschen getötet und mindestens 20.000 verhaftet, obwohl einige von ihnen wieder freigelassen wurden. Während Sozialist*innen dafür plädieren, dass die so genannten „Revolutionsgarden“ und alle ihnen unterstellten Milizen aufgelöst – und nicht nur “reformiert” oder umbenannt – werden müssen, und dass alle Ressourcen und Wirtschaftsunternehmen, die ihnen gehören, der demokratischen Kontrolle und Verwaltung durch die iranischen Arbeiter*innen und Armen unterstellt werden müssen, ist die Kritik an diesen Kräften des Regimes von Bedeutung.

Darüber hinaus zeigt sich diese Spaltung auch zwischen den so genannten “Reformern” und den so genannten “Hardlinern” innerhalb der herrschenden Elite. Insbesondere der Politiker Mousavi, der seit mehr als zehn Jahren unter Hausarrest steht, spricht sich öffentlich für einen Regimewechsel aus. Es muss betont werden, dass die so genannten Reformisten, die noch aktiv am politischen Prozess beteiligt sind, alle ein Bollwerk für den Erhalt des Regimes darstellen. Sie sprechen sich vor allem für begrenzte Änderungen aus, zum Beispiel für die Abschaffung der Pflicht, den Hidschab zu tragen, streben aber nicht den Sturz des Regimes an.

Umso wichtiger ist es, dass sich die entstehende Bewegung das klare Ziel eines völligen Bruchs mit dem Regime und seinem System setzt; es ist bezeichnend, dass sich seit Monaten unabhängige Gruppen und Organisationen bilden, die zum Sturz des Regimes aufrufen.

Einige dieser Gruppen nehmen auch Stellung dazu, was nach dem Sturz des Regimes geschehen soll. Es kursiert Material, in dem mögliche Schritte skizziert werden. Es findet ein unvermeidlicher Diskussions- und Klärungsprozess statt, in dem Lehren aus den jüngsten Kampferfahrungen gezogen werden und darüber diskutiert wird, welches Programm die Bewegung haben sollte. Das CWI hat argumentiert, dass es von entscheidender Bedeutung ist, einen Prozess zum Aufbau einer neuen Arbeiter*innenmassenpartei mit einem sozialistischen Programm einzuleiten.

Während das CWI für ein sozialistisches Programm eintritt, versteht es, dass sich die neuen Organisationen zunächst mit einem begrenzteren Programm entwickeln können, das sowohl für Aktivitäten als auch für fortgesetzte Diskussionen gedacht ist. Die Veröffentlichung der “Charta der Mindestforderungen” im Februar, die von zwanzig Organisationen unterstützt wird, könnte als einer der Ausgangspunkte für eine solche Entwicklung dienen. Sie ist zwar kein Gesamtprogramm, enthält aber viele positive Punkte.

Dabei wollen wir die Beschwerde der Gewerkschaft der Busfahrer von Teheran, einer langjährigen Arbeiter*innenorganisation mit einer Geschichte von Kämpfen und Repressionen, nicht beiseite schieben, dass sie zwar die Forderungen der Charta unterstützen, aber bei ihrer Ausarbeitung nur aufgefordert wurden, die Charta zu unterzeichnen und nicht über ihren Inhalt zu diskutieren.

Vor allem kritisierte die Gewerkschaft, dass in der Charta “die Schlüsselrolle der Arbeiter*innenklasse und der arbeitenden und hart arbeitenden Familien … usw. im Kampf gegen das kapitalistische System und seine Regierung sowie das Schicksal des umfassenden Klassenkampfes bei jeder grundlegenden und befreienden Veränderung im Iran” nicht ausdrücklich erwähnt wurde.

Korrekterweise bedeutete dies nicht, dass die Gewerkschaft die Zusammenarbeit mit den Organisationen, die die Charta unterstützen, ablehnte, aber es ist klar, dass diese wichtige Diskussion weitergehen wird.Iran: „Charta” unabhängiger Gewerkschaften und ziviler Organisationen

Mit der Frage, wie unmittelbare Forderungen mit dem Programm der sozialistischen Revolution verknüpft und kombiniert werden können, ist die Arbeiter*innenbewegung seit weit über einem Jahrhundert konfrontiert. In Russland fassten die Bolschewiki diesen Ansatz in den Worten zweier ihrer bekanntesten Slogans der Revolution von 1917 zusammen: “Frieden, Brot, Land” und “Alle Macht den Räten”. Lenin führte sie in seiner 1917 erschienenen Broschüre “Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen kann” aus, einem Vorläufer des Übergangsprogramms, das Trotzki 1938 verfasste.

In diesem Sinne veröffentlichen wir im Folgenden sowohl die Charta als auch unseren Kommentar zu dem Text.

Frau, Leben, Freiheit


Charta der Mindestforderungen der unabhängigen Gewerkschafts- und Bürger*innenorganisationen des Iran


Edles und freies Volk des Iran!

Am 44. Jahrestag der Revolution von 1979 befinden sich die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Grundlagen der Gesellschaft in einer noch nie dagewesenen Krise. Innerhalb des bestehenden politischen Systems ist es unmöglich und unvorstellbar, sich eine erreichbare Vision zur Lösung dieser Krise vorzustellen.

Aus diesem Grund haben die unterdrückten Menschen im Iran – einschließlich der nach Freiheit und Gleichheit strebenden Frauen und Jugendlichen – die Straßen des ganzen Landes in Zentren eines historischen und entscheidenden Kampfes zur Beendigung der bestehenden unmenschlichen Bedingungen verwandelt. Trotz der blutigen Niederschlagung durch das Regime haben sie seit dem 16. September 2022 fünf Monate lang ohne Unterbrechung weitergekämpft.

Die Fahne der grundlegenden Proteste, die heute von Frauen, Studierenden, Lehrer*innen, Arbeiter*innen, Aktivist*innen, Künstler*innen, Schriftsteller*innen und dem unterdrückten Volk des Irans in verschiedenen Teilen des Landes, von Kurdistan bis Sistan und Belutschistan, gehisst wurde, hat eine beispiellose internationale Unterstützung erfahren. Es ist ein Protest gegen Frauenfeindlichkeit, Geschlechterdiskriminierung, endlose wirtschaftliche Unsicherheit, Arbeitssklaverei, Armut, Elend, Klassenunterdrückung, ethnische und religiöse Unterdrückung und eine Revolution gegen jede Form von religiöser und nicht-religiöser Tyrannei, die uns – der großen Mehrheit des iranischen Volkes – seit mehr als einem Jahrhundert aufgezwungen wird.

Die Proteste finden vor dem Hintergrund großer und moderner sozialer Bewegungen und dem Aufstieg einer unbesiegbaren Generation statt, die entschlossen ist, eine jahrhundertelange Geschichte der Rückständigkeit und Marginalisierung zu beenden und für eine moderne, wohlhabende und freie Gesellschaft im Iran zu kämpfen.

Nach den beiden großen Revolutionen in der modernen Geschichte Irans haben die führenden sozialen Bewegungen, darunter die Arbeiter*innenbewegung, die Bewegung der Lehrer*innen und Rentner*innen, die Bewegung für die Gleichberechtigung der Frauen, Studierdenden und Jugendlichen, die Bewegung gegen die Todesstrafe usw., jetzt Massendimensionen. Sie können einen historischen und entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Struktur des Landes haben.

Daher zielt diese Bewegung darauf ab, die Bildung jeglicher Macht von oben für immer zu beenden und der Beginn einer sozialen, modernen und menschlichen Revolution zu sein, um das Volk von allen Formen der Unterdrückung, Diskriminierung, Ausbeutung, Tyrannei und Diktatur zu befreien.

Wir, die unabhängigen Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gruppen, die diese Charta unterzeichnet haben, verstehen die folgenden Mindestforderungen als erste umgesetzte Dekrete, und dass die massiven Proteste des iranischen Volkes dazu führen können, die Grundlage für den Aufbau einer neuen, modernen und humanen Gesellschaft im Land zu sein. Dabei setzen wir auf die Einheit und Vernetzung der sozialen Bewegungen und auf den Kampf gegen die derzeitige unmenschliche und zerstörerische Situation im Iran.

Wir rufen alle, denen Freiheit, Gleichheit und Emanzipation am Herzen liegen, dazu auf, diese Mindestforderungen in den Betrieben, Universitäten, Schulen, Nachbarschaften, auf der Straße und auf der internationalen Bühne zu erheben. Gemeinsam können wir das Ziel der Freiheit erreichen:

1. Die sofortige und bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen, das Verbot der Kriminalisierung politischer, gewerkschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und die öffentliche Aburteilung derjenigen, die für die Unterdrückung der Volksproteste verantwortlich sind.

  1. Uneingeschränkte Meinungs-, Rede- und Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Gründung politischer Parteien, Gründung lokaler und nationaler Gewerkschaften und ziviler Organisationen, Versammlungsrecht, Streiks, Demonstrationen, soziale Netzwerke und audiovisuelle Medien.
    3. Sofortige Abschaffung jeder Art von Todesstrafe, Hinrichtung, Rachemord und Verbot jeder Form von psychischer und physischer Folter.
  2. Sofortige Erklärung der vollständigen Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und familiären Bereichen, die bedingungslose Beseitigung und Abschaffung diskriminierender Gesetze und Konventionen gegen sexuelle und geschlechtliche Beziehungen und Orientierungen, die Anerkennung der LGBTQIA + Regenbogengesellschaft, die Entkriminalisierung aller geschlechtlichen Beziehungen und Orientierungen und die bedingungslose Anerkennung des Rechts der Frauen, über ihren Körper und ihr Schicksal zu bestimmen und jede Form der patriarchalen Kontrolle über sie zu verhindern.
  1. Religion ist eine Privatangelegenheit des Einzelnen und sollte nicht in die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Normen und Gesetze des Landes einbezogen werden.
    6. Gewährleistung der Sicherheit am Arbeitsplatz, der Arbeitsplatzsicherheit und der sofortigen Erhöhung der Gehälter von Arbeiter*innen, Lehrer*innen, Angestellten und allen Erwerbstätigen und Rentner*innen mit der Anwesenheit, Beteiligung und Zustimmung der gewählten Vertreter*innen ihrer unabhängigen und nationalen Organisationen. 7. Abschaffung aller Gesetze und Normen, die auf nationaler und religiöser Diskriminierung und Unterdrückung beruhen, Schaffung geeigneter Unterstützungsinfrastrukturen für eine gerechte und gleichmäßige Verteilung der staatlichen Mittel für die Entwicklung von Kultur und Kunst in allen Regionen des Landes und Bereitstellung der notwendigen und gleichwertigen Einrichtungen zum Erlernen und Lehren aller in der Gesellschaft gesprochenen Sprachen. 8. Abschaffung aller Unterdrückungsorgane, Einschränkung der Reichweite des Staates und direkte und dauerhafte Beteiligung der Menschen an den Angelegenheiten des Landes durch lokale und nationale Räte. Zu den Grundrechten der Wähler*innen sollte es gehören, dass sie jederzeit alle staatlichen oder nichtstaatlichen Beamt*innen abwählen können.
    9. Konfiszierung des Eigentums von Einzelpersonen und staatlichen, halbstaatlichen und privaten Institutionen, die das Eigentum und den gesellschaftlichen Reichtum des iranischen Volkes durch direkte Plünderung oder staatliche Mieten als Geisel genommen haben. Der aus diesen Beschlagnahmungen gewonnene Reichtum sollte dringend für die Modernisierung und den Wiederaufbau des Bildungswesens, der Rentenkassen, der Umwelt und für die Bedürfnisse der Regionen und Teile des iranischen Volkes verwendet werden, die während der Regime der Islamischen Republik und der Monarchie ihrer Chancengleichheit und ihres Zugangs zu Einrichtungen beraubt wurden.

10. Beendigung der Umweltzerstörung, Umsetzung von Maßnahmen zur Wiederherstellung der in den letzten hundert Jahren zerstörten Umweltinfrastruktur und Übernahme der natürlichen Gebiete, die privatisiert wurden (z. B. Weiden, Strände, Wälder und Vorgebirge) und den Menschen die Rechte daran entzogen wurden, in die öffentliche Hand.

  1. Verbot der Kinderarbeit und Sicherung des Lebensunterhalts und der Bildung für jedes Kind, unabhängig von der wirtschaftlichen und sozialen Lage seiner Familie. Einrichtung einer öffentlichen Wohlfahrt durch eine Arbeitslosenversicherung und starke Sozialversicherungssysteme für alle Menschen, die das gesetzliche Mindestalter erreicht haben oder arbeitsunfähig sind. Kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung für alle Menschen.
  2. Die Normalisierung der Außenbeziehungen auf höchster Ebene mit allen Ländern der Welt auf der Grundlage von Gerechtigkeit und gegenseitigem Respekt, das Verbot des Erwerbs von Atomwaffen und das Streben nach Weltfrieden.

Unserer Ansicht nach können die oben genannten Mindestanforderungen sofort erfüllt werden, da das Land über einen potenziellen und tatsächlichen unterirdischen Reichtum verfügt und eine informierte und fähige Bevölkerung sowie eine Generation motivierter junger Menschen vorhanden ist, die sich ein glückliches, freies und wohlhabendes Leben wünschen. Diese Forderungen können mit den richtigen Maßnahmen und der richtigen Entschlossenheit erfüllt werden.

Die in dieser Charta erhobenen Forderungen sind die Umrisse der allgemeinen Forderungen unserer Unterzeichner*innen, und natürlich werden wir im Laufe unseres Kampfes und unserer Solidarität weitere Einzelheiten zu diesen Forderungen darlegen.

Koordinierungsrat der iranischen Lehrergewerkschaften

Freie Gewerkschaft der iranischen Arbeiter*innen

Union der Studierendenorganisationen der verbündeten Studenten

Zentrum der Menschenrechtsverteidiger*innen

Gewerkschaft der Arbeiter*innen des Unternehmens Haft Tappeh

Rat für die Organisation der Proteste von Öl-Vertragsarbeiter*innen

Iranisches Kulturhaus (Khafa)

Wake Up (Bidarzani, feministische Gruppe)

Der Ruf der iranischen Frauen

Die unabhängige Stimme der Arbeiter*innen des nationalen Stahlkonzerns Ahvaz

Zentrum für die Verteidigung der Arbeitsrechte

Gewerkschaft der Elektro- und Metallarbeiter*innen von Kermanshah

Koordinierungsausschuss zur Unterstützung des Aufbaus von Arbeiter*innenorganisationen

Gewerkschaft der Rentner*innen

Rat der Rentner*innen von Iran

Organisation der fortschrittlichen Universitätsstudierenden

Rat der freidenkenden Gymnasiast*innen des Iran

Malersyndikat der Provinz Alborz

Ausschuss für die Gründung von Arbeiter*innenorganisationen im Iran

Rat der Rentner*innen der Organisation für soziale Sicherheit (BASTA)

14. Februar 2023

Unser Kommentar zur Charta:



Bezeichnenderweise beginnt die Charta mit der Feststellung, dass der Iran den “Beginn einer sozialen, modernen und menschlichen Revolution zur Befreiung des Volkes von allen Formen der Unterdrückung, Diskriminierung, Ausbeutung, Tyrannei und Diktatur” erlebt und dass es “innerhalb des bestehenden politischen Systems unmöglich und unvorstellbar ist, sich eine realisierbare Vision zur Lösung dieser Krise vorzustellen”.

Dies fasst die heutige Situation treffend zusammen und erkennt implizit an, dass neben dem Kampf für die “Minimalforderungen” der Charta eine Änderung des gesamten Systems notwendig ist. Es ist richtig und wichtig zu betonen, dass unter der politischen Herrschaft des theokratischen Regimes im Iran eine fortschrittliche politische Entwicklung des Landes nicht möglich sein wird. Wie das Teheraner Busfahrersyndikat jedoch feststellte, wird die Frage des “kapitalistischen Systems und seiner Regierung” nicht erwähnt, was bedeutet, dass die Frage der Zukunft des Kapitalismus offen gelassen wird. Sozialist*innen argumentieren, dass ein wirklich soziales, ökologisches und auf Geschlechtergleichheit basierendes System im Iran oder anderswo nicht möglich ist, wenn nicht auch die kapitalistische Grundlage der Herrschaft des iranischen Regimes gebrochen wird. Dies wirft die Frage auf, wie die sich entwickelnde Bewegung zu der sozialistischen Revolution werden kann, die notwendig ist, um den Weg für eine sozialistische Transformation der iranischen Gesellschaft zu öffnen.

Die Charta listet zwar wichtige Forderungen auf, die es zu erkämpfen gilt, beschreibt aber nur allgemein und vage eine alternative Gesellschaft.

“Die Proteste finden vor dem Hintergrund großer und moderner sozialer Bewegungen und dem Aufstieg einer unbesiegbaren Generation statt, die entschlossen ist, einer jahrhundertelangen Geschichte der Rückständigkeit und Marginalisierung ein Ende zu setzen und für eine moderne, wohlhabende und freie Gesellschaft im Iran zu kämpfen”.

Während diese allgemeinen Ziele klar sind, sagen die Unterzeichner*innen nicht eindeutig, ob sie glauben, dass dies unter dem Kapitalismus erreicht werden kann oder nicht. Für Sozialist*innen ist die Notwendigkeit, das theokratische Regime des Iran auf den Müllhaufen der Geschichte zu schicken, klar und ein äußerst wichtiger Ausgangspunkt, der die Möglichkeit eröffnet, mit dem Kapitalismus zu brechen. Ein Schlüssel ist jetzt natürlich die Schaffung einer Massenbewegung, die das Regime untergräbt, isoliert und stürzt, aber dann stellt sich die Frage, was an seine Stelle tritt?

Die Charta erwähnt die grundlegenden Fragen, aber, wie das folgende Zitat zeigt, leider in einer sehr abstrakten Weise: “Wir rufen alle, denen Freiheit, Gleichheit und Emanzipation am Herzen liegen, auf, diese Mindestforderungen in den Betrieben, Universitäten, Schulen, Nachbarschaften, auf der Straße und auf der internationalen Bühne zu erheben. Gemeinsam können wir das Ziel der Freiheit erreichen”.
Das CWI vertritt die Auffassung, dass zur Erreichung dieser Ziele der Sturz des Kapitalismus erforderlich ist. Um die Bewegung aufzubauen, die dies erreichen kann, muss eine Arbeiter*innenmassenpartei aufgebaut werden, die dafür kämpft, Unterstützung für das Programm der sozialistischen Revolution zu gewinnen.

Der Aufbau von Unterstützung für die Charta ist mit der Schaffung von Orten und Strukturen verbunden, an denen sie demokratisch diskutiert werden kann und eine gemeinsame Kampagne zur Verbreitung der Forderungen organisiert werden kann. Die Gremien, die die Charta unterstützen, sollten versuchen, die neuen Strukturen, die im Zuge der revolutionären Jugendbewegung entstanden sind, in den Aufbau solcher breiteren demokratischen Strukturen einzubeziehen. Eine demokratische Diskussion über die Charta und die nächsten Schritte der Bewegung ist unerlässlich. Die Charta sollte nicht als etwas betrachtet werden, das nicht diskutiert und, falls gewünscht, geändert werden kann. Trotz der unvermeidlichen Schwierigkeiten, die die Unterdrückung durch die Islamische Republik mit sich bringt, sind eine solche Organisierung und Diskussion unerlässlich. Die Führung in diesem Kampf ist wichtig, aber sie kann nicht von oben nach unten erfolgen; die Reihen der Bewegung müssen einbezogen werden und die Möglichkeit haben, Entscheidungen zu treffen.

In der Einleitung der Charta sprechen sie sehr deutlich davon, dass im Iran eine Revolution stattfindet, aber in unseren Augen formulieren sie nicht klar genug, was ihrer Meinung nach organisatorisch notwendig ist, um diese Revolution siegreich zu machen.

Ja, der Iran befindet sich in einem revolutionären Prozess. Allerdings müssen wir feststellen, dass die revolutionäre Jugendbewegung, die im September letzten Jahres begann, im Moment eine Flaute erlebt, was sich aber schnell ändern kann. Im Moment ist es besonders wichtig, dass weitere Schritte unternommen werden, um sich auf lokaler Ebene in Betrieben, Gemeinden und Bildungseinrichtungen zu organisieren und dass regionale und iranweite Organisationsansätze entwickelt werden. Solche Strukturen müssen notwendigerweise demokratische Prinzipien haben, um eine echte Alternative zum völlig undemokratischen politischen System des theokratischen Regimes und der früheren Monarchie darzustellen.

Die zweite Forderung der Charta: “Uneingeschränkte Meinungs-, Rede- und Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Gründung politischer Parteien, Gründung lokaler und nationaler Gewerkschafts- und Bürger*innenorganisationen, Versammlungsrecht, Streiks, Demonstrationen, soziale Netzwerke und audiovisuelle Medien” ist angesichts der starken Einschränkungen durch das derzeitige Regime sehr wichtig. Es ist jedoch notwendig, eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie diese Forderungen ihrer Meinung nach durchgesetzt werden können. Erstens müssen sich die iranischen Arbeiter*innen und verarmten Massen dringend selbst organisieren, und zwar unabhängig vom Regime und von den Kapitalist*innen, die zwar das Regime kritisieren, aber einfach ein “normaleres” kapitalistisches System wollen und nicht eines, das von einer Clique religiöser und militärischer Führer kontrolliert wird.

Punkt vier ist besonders wichtig, da die aktuelle Bewegung durch die Ermordung von Jina (Mahsa) Amini ausgelöst wurde und sich durch eine große Beteiligung von Frauen, insbesondere jungen Frauen, auszeichnet. “Unverzügliche Erklärung der vollständigen Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern in allen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und familiären Bereichen. Sofortige Erklärung der vollständigen Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern in allen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und familiären Bereichen, die bedingungslose Beseitigung und Abschaffung diskriminierender Gesetze und Konventionen gegen sexuelle und geschlechtliche Beziehungen und Orientierungen, die Anerkennung der LGBTQIA + Regenbogengesellschaft, die Entkriminalisierung aller geschlechtlichen Beziehungen und Orientierungen und die bedingungslose Anerkennung der Rechte der Frauen, über ihren Körper und ihr Schicksal zu bestimmen und jede Form der patriarchalen Kontrolle über sie zu verhindern.”

Diese Forderungen sind sehr wichtig, können aber nicht garantiert werden, solange der Kapitalismus und die Kontrolle durch die herrschende Klasse fortbestehen. Die jüngste Entscheidung, das Recht auf Abtreibung in den USA abzuschaffen, und die Verbote von Abtreibungen in einer zunehmenden Zahl von US-Bundesstaaten zeigen, wie Frauenrechte zurückgedrängt werden können.

In Punkt acht der Charta wird versucht zu skizzieren, welches Regierungssystem an die Stelle der Islamischen Republik treten soll: “Abbau aller Unterdrückungsorgane, Beschneidung der Reichweite des Staates und direkte und ständige Beteiligung des Volkes an den Angelegenheiten des Landes durch lokale und nationale Räte. Zu den Grundrechten der Wählerinnen und Wähler sollte es gehören, dass sie jederzeit alle staatlichen oder nichtstaatlichen Beamt*innen abwählen können.”

Es ist gut, dass die Charta dies tut, da sie ein Bild davon vermittelt, wie der Iran nach dem Sturz des Regimes aussehen könnte. Tatsache ist aber auch, dass es, zumindest nach unserer Kenntnis, derzeit nicht in allen Städten und Regionen des Irans solche Räte oder räteähnliche Strukturen gibt, die die in diesem Punkt der Charta beschriebenen Aufgaben wahrnehmen könnten. Um darauf hinzuwirken, ist es daher notwendig, dass den Punkten in Ziffer 8 die Forderung nach der Einrichtung von Rätestrukturen vorangestellt wird, idealerweise mit einer kurzen Erläuterung, wie diese auf allen Ebenen strukturiert und vernetzt sein sollten. Unserer Meinung nach würde eine solche Entwicklung dazu beitragen, das Vertrauen und das Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse sowohl im Kampf gegen das Regime als auch für einen Bruch mit dem kapitalistischen System zu stärken.

In einigen Teilen ist diese Charta jedoch ein Versuch, revolutionäre sozialistische Ideen und liberale pro-kapitalistische Ideen miteinander in Einklang zu bringen, was letztendlich dazu führen kann, dass pro-kapitalistische Kräfte in der Lage sind, den Fortbestand des Kapitalismus nach dem Sturz dieses Regimes zu sichern.

Dies ist auch das Ziel der westlichen imperialistischen Mächte, die vorgeben, “Freundinnen” des iranischen Volkes zu sein. Im Gegenteil, sie sind nicht die “Freundinnen” der iranischen oder irgendeiner anderen Arbeiter*innenklasse der Welt. Wie alle Imperialist*innen werden die westlichen Mächte von ihrer Suche nach Profiten und strategischen Vorteilen angetrieben. Man kann ihnen nicht trauen, denn sie setzen sich nicht konsequent für Demokratie und Menschenrechte ein. Sehen wir uns nur ihre Unterstützung für das brutale saudische Regime an, das nicht einmal vorgibt, demokratisch zu sein! Saudis, die kritische Twitter-Kommentare über das Regime veröffentlichen, werden zu 15 bis 45 Jahren Gefängnis verurteilt. Letztes Jahr wurden in Saudi-Arabien mindestens 147 Menschen hingerichtet, 81 davon an einem einzigen Tag, aber die westlichen Mächte sagten nichts. Es sollte eine Kampagne durchgeführt werden, um alle Illusionen zu zerstören, dass die westlichen imperialistischen Staaten oder die königliche Familie Pahlavi beim Sturz des theokratischen Regimes behilflich sein könnten.

Angesichts des enormen Ausmaßes von Korruption und Plünderung ist es nur natürlich, dass die Charta dies in Punkt neun behandelt: “Konfiszierung des Eigentums von Einzelpersonen und staatlichen, halbstaatlichen und privaten Institutionen, die das Eigentum und den gesellschaftlichen Reichtum des iranischen Volkes durch direkte Plünderung oder staatliche Pacht in Geiselhaft genommen haben. Der aus diesen Konfiszierungen gewonnene Reichtum sollte dringend für die Modernisierung und den Wiederaufbau des Bildungswesens, der Rentenkassen, der Umwelt und für die Bedürfnisse der Regionen und Teile des iranischen Volkes verwendet werden, die während der Regime der Islamischen Republik und der Monarchie ihrer Chancengleichheit und ihres Zugangs zu Einrichtungen beraubt wurden.”

Diese Forderung ist neben der Verstaatlichung der wichtigsten Wirtschaftssektoren eine wichtige Maßnahme. Die Frage, wer diese Reichtümer kontrolliert, muss jedoch eindeutig geklärt werden, und es muss dargelegt werden, wie diese Kontrolle und Verwaltung aussehen soll. Um mit dem Kapitalismus zu brechen, sollten diese Unternehmen, wie auch andere verstaatlichte Unternehmen, von demokratischen Organen der Arbeiter*innenklasse kontrolliert und verwaltet werden. Denn die Arbeiter*innenklasse kann am besten entscheiden, wie das Bildungssystem wieder aufgebaut werden soll, wo in Umwelt- und Naturschutz investiert werden soll und für welche anderen Projekte Geld ausgegeben werden soll. Wie in Punkt 8 erwähnt, müssen Räte geschaffen werden, die auf demokratischer Basis darüber diskutieren und entscheiden.

Leider endet die Charta mit einer gut gemeinten, aber utopischen Bemerkung. Sie fordert die “Normalisierung der Außenbeziehungen auf höchster Ebene mit allen Ländern der Welt auf der Grundlage von Gerechtigkeit und gegenseitigem Respekt, das Verbot des Erwerbs von Atomwaffen und das Streben nach Weltfrieden.”

Sicherlich ist die Forderung nach Aufhebung der Sanktionen gegen das iranische Volk dringend, aber in der gegenwärtigen Zeit zunehmender weltweiter Spannungen basiert die Außenpolitik aller großen Weltmächte nicht auf “Gerechtigkeit und gegenseitigem Respekt … und dem Streben nach Weltfrieden”.

Gegenwärtig verurteilen die westlichen Mächte die russische Invasion in der Ukraine, schweigen aber, wenn sich am 19. März der zwanzigste Jahrestag der von den USA und Großbritannien angeführten Invasion im Irak nähert. Die einzige Möglichkeit, die Ziele der Charta zu erreichen, ist ein Bruch mit dem Kapitalismus. Eine sozialistische Revolution im Iran würde nicht nur im Nahen Osten, sondern in der ganzen Welt ein Beispiel setzen. Heute leiden Hunderte von Millionen Menschen unter den Auswirkungen der aktuellen kapitalistischen Krise, unter Umweltkatastrophen und den Konflikten und Kriegen, die der Kapitalismus hervorbringt. Ein Beispiel für einen Ausweg, dafür, wie die arbeitenden Menschen ihr Leben in die Hand nehmen und die Zukunft in ihrem Interesse planen können, würde ein schnelles Echo finden.

Doch obwohl die Charta viele positive Forderungen enthält, scheint sie zu versuchen, klassenübergreifend zu arbeiten, unter Einbeziehung der Kapitalist*innen, die gegen das theokratische Regime sind, und dabei die Fortsetzung des Kapitalismus zumindest vorläufig zu akzeptieren. So endet die Charta mit keinem Wort über den Kapitalismus oder die Notwendigkeit, ihn zu stürzen:

“Wir sind der Ansicht, dass die oben genannten Mindestforderungen sofort umgesetzt werden können, da das Land über potenzielle und tatsächliche Bodenschätze verfügt und es im Iran eine informierte und fähige Bevölkerung sowie eine Generation motivierter junger Menschen gibt, die ein glückliches, freies und wohlhabendes Leben genießen wollen. Diese Forderungen können mit den richtigen Maßnahmen und der richtigen Entschlossenheit erfüllt werden”.

Dies scheint zu akzeptieren, dass das Wirtschaftssystem, das heißt der Kapitalismus, nach dem Sturz des iranischen Regimes unangetastet bleibt. Leider ist dies ein Weg in die Katastrophe; Bewegungen, die auf halbem Wege stehen bleiben, die ein repressives Regime stürzen, aber den Kapitalist*innen die Kontrolle über die Wirtschaft und die Staatsmacht überlassen, werden letztendlich besiegt. Auf unterschiedliche Weise ist dies die Lehre aus den Ereignissen im Iran 1953, dem “Arabischen Frühling” 2011 und vielen anderen Kämpfen und Revolutionen auf der ganzen Welt.

Unserer Meinung nach ist es ein Fortschritt, dass diese Charta eine Diskussion darüber eröffnet hat, was die Arbeiter*innenklasse im Iran in der gegenwärtigen Situation fordern sollte und welche Rolle sie generell im revolutionären Prozess im Iran spielt.

Marxist*innen im Iran sollten sich an diesen Debatten beteiligen und gleichzeitig daran arbeiten, eine Organisation aufzubauen, die auf der Grundlage eines revolutionären marxistischen Programms, das die aktuellen Forderungen mit dem Kampf für eine Arbeiter*innenregierung und eine sozialistische Revolution verbindet, in die laufenden Prozesse eingreifen kann. Das CWI bietet allen interessierten Arbeiter*innen und jugendlichen Aktivist*innen Unterstützung und Solidarität bei dieser Arbeit sowie eine kontinuierliche Diskussion und den Austausch von Erfahrungen an.

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