Erzwingungsstreik im öffentlichen Dienst für 500 Euro und 12 Monate Laufzeit!
500.000 Kolleginnen und Kollegen haben sich an den Warnstreiks im öffentlichen Dienst beteiligt! Beim so genannten Megastreiktag kamen mehr als 38.000 streikende EVG-Mitglieder von der Bahn dazu.
von Angelika Teweleit, Berlin
Die Beteiligung an den Warnstreiks übertrifft den großen elftägigen Erzwingungsstreik im öffentlichen Dienst von 1992 mit 330.000 Beteiligten. Damals gehörten noch Post und Bahn und alle Verkehrsbetriebe dazu. Auch jetzt war der Effekt enorm: Streichung von Flügen, Einstellung der Bahnverkehrs und des ÖPNV, Verschiebung planbarer Operationen an Krankenhäusern, sich auftürmender Müll, geschlossene Kitas und vieles mehr. Der erste koordinierte Streiktag von ver.di und EVG seit langem war ein großer Fortschritt und hat deutlich gemacht, welche potentielle Macht die Beschäftigten haben, auch im öffentlichen Dienst. Stehen die Räder still, kann auch die Wirtschaft nicht mehr weiter laufen. Es ist die Masse der lohnabhängig Beschäftigten und nicht die Klasse der Besitzenden und Konzernchefs, die das gesellschaftliche Leben am Laufen halten.
Kampfbereitschaft
Immer klagten die Streikenden Politikerinnen und Vertreter*innen der „Arbeitgeber“seite an, dass sie während der Pandemie von ihnen beklatscht und nun verhöhnt werden. So heizte die Vereinigung der kommunalen Arbeitgber (VKA) mit ihren Forderungen nach Lohnkürzungen im Falle wirtschaftlicher Schieflage bei Krankenhäusern und Notlagentarifverträge bei den Sparkassen die Stimmung noch an. Die Festgeldforderung nach 500 Euro mehr monatlich zeigt die Wut, aber auch das gewachsene Selbstbewusstsein von vielen Beschäftigten. Dieses Selbstbewusstsein speist sich aus dem weit verbreiteten Personalmangel im öffentlichen Dienst, der durch die vergleichsweise niedrigen Löhne hausgemacht ist. „Personalmangel bedeutet, dass die Beschäftigten zusätzlich unter extremer Arbeitsbelastung leiden, wodurch viele wiederum in Teilzeit flüchten – es ist ein Teufelskreis, den die Arbeitgeber*innen in Kauf nehmen. Denn auch im Gesundheitswesen geht es nicht um die Gesundheit, sondern nur noch um Profite“, erklärt Anne Pötzsch, Intensivpflegekraft und Teamdelegierte für ver.di aus dem Vivantes Klinikum Neukölln.
Mitgliederzuwachs
Aufgrund der Preissteigerungen wuchs der Druck auf alle Beschäftigten. Die Warnstreikmobilisierungen wurden durch vorherige Unterschriftensammlungen und in einigen Betrieben mit Organizing-Projekten vorbereitet. Das und die Aussagen der ver.di-Spitze, diesmal auch bis zum Erzwingungsstreik zu gehen, hat zu großen Erfolgen beim Mitgliederwachstum geführt: allein in den Monaten von Januar bis März wurden etwa 70.000 Neueintritte in ver.di verzeichent. Diese Erfolge können aber nur weitere Früchte bringen, wenn auch die Ergebnisse aus den Tarifbewegungen gut sind. Das war zum Beispiel bei der Post nicht der Fall, wo trotz einem eindeutigen Ergebnis bei der Urabstimmung für Erzwingungsstreik ein kampfloser schlechter Kompromiss vereinbart wurde. Viele Mitglieder bei der Post sind jetzt frustriert, einige werden ver.di wieder verlassen. Das zeigt, dass es nicht ausreicht, nur über Organizing-Projekte neue Mitglieder zu gewinnen. Statt Sozialpartnerschaft muss es eine konsequente kämpferische Ausrichtung geben. “Die Kolleginnen und Kollegen wollen ein deutliches Lohnplus und die Forderung erfüllt sehen. Wenn hier ein fauler Kompromiss geschlossen wird, gibt es für ver.di in unserem Betrieb ein großes Problem und der Aufbau der Gewerkschaft wird wieder weit zurückgeworfen“ sagt Carlos Seefeld, Streikdelegierter bei den Berliner Verkehrsbetrieben.
Kämpferische Ausrichtung bedeutet deshalb die Bereitschaft, einen Erzwingungsstreik konsequent bis zum Ende zu führen, anstatt davor zurückzuschrecken. Und es muss heißen, dass die Streikenden selbst das Heft in der Hand haben und zu jedem Zeitpunkt demokratisch entscheiden können, was die nächsten Schritte im Arbeitskampf sind.
Angst vor Eskalation
Auch, wenn bei den Warnstreik-Demonstrationen viele kämpferische Reden von Andrea Kocsis, Frank Werneke und anderen zu hören waren und hier mit Erzwingungsstreik gedroht wurde, ist das leider kein Garant dafür, dass es auch in der Praxis so umgesetzt wird. Das Postergebnis hat gezeigt, dass die ver.di-Führung in Wirklichkeit Angst vor einer großen Streikbewegung hatte. Diese Angst speist sich nicht daraus, dass es nicht möglich gewesen wäre, mit einem Streik mehr herauszuholen. Es bestand zudem die lange nicht dagewesene Chance, die Tarifrunden bei Post, Bund und Kommunen und der Bahn zu koordinieren – also all jene Beschäftigten, die 1992 in einer Tarifrunde zusammen streikten. Es ist vielmehr die Angst vor genau einer solchen starken Streikbewegung, die dazu führte, dass die ver.di-Führung die Notbremse zog. Denn eine solche Bewegung könnte sich schnell so steigern, dass sie außer ihre Kontrolle gerät.„Außer Kontrolle“ bedeutet, die Erwartungen der Basis würden gesteigert, es könnten weitergehende Forderungen aufkommen. Zudem würden in einem Erzwingungsstreik all die Ansätze für neue, frische und kämpferische Aktivenstrukturen, wie sie gerade in Ansätzen entstehen, potenziert. Das würde bedeuten, dass die jetzige Ausrichtung auf moderate Abschlüsse, Sozialpartnerschaft und Co-Magagement in Frage gestellt würde. Eine gemeinsame Streikbewegung dieser großen Bereiche würde die gemeinsame Stärke und das Potenzial deutlich machen. Und sie würde die Idee eines Generalstreiks zumindest als Möglichkeit ins Bewusstsein rücken.
Sozialpartnerschaft
Die Angst vor solchen Szenarien und einem Kontrollverlust ist darin begründet, dass die ver.di-Bürokratie politisch ihre Aufgabe auch in einer Befriedung der Klassengegensätze sieht. Denn die oberen ver.di-Funktionär*innen akzeptieren die Logik der kapitalistischen Marktwirtschaft. Innerhalb dieser versuchen sie, einen gewissen Anteil vom Kuchen für die Beschäftigten zu sichern, aber nur soweit es die Kassenlage erlaubt. Allerdings richtet sich die Kassenlage nach politischen Erwägungen. So steckt die Ampelregierung viel Geld in die Rüstung, was die Kassen von Rheinmetall und anderen Konzernen klingeln lässt. Die Steuerpolitik stellt sicher, dass nicht die immensen Reichtümer der oberen ein Prozent angetastet werden oder die Profite von Konzernen. In einem Kapitalismus, der sich in einer lang anhaltenden Krise befindet, und wo sich die Konkurrenz unter den Konzernen sowie auch den kapitalistischen Mächten immer mehr verschärft, schwindet auch der Verteilungsspielraum. Das heißt, um Profite und die Konkurrenzfähigkeit zu sichern, werden die Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten angegriffen. Auch im öffentlichen Dienst wird – entgegen aller heuchlerischer Bekundungen von angeblicher Wertschätzung – in Wirklichkeit die Zange angelegt. Löhne werden gedrückt, die Arbeitsbelastung steigt weiter und der dringend notwendige Ausbau des öffentlichen Dienstes – bessere Gesundheitsversorgung, bessere Schulen, mehr Personal etc – für all das ist angeblich kein Geld da. Dieser Politik mit Sozialpartnerschaft zu begegnen, bedeutet Lohnverzicht, Akzeptanz von schlechteren Arbeitsbedingungen und Personalmangel.
Kämpferischer Kurs
Deshalb muss es einen Kurswechsel in den Gewerkschaften geben, ein Ende der Sozialpartnerschaft, denn für die Unternehmer*innen und Regierenden ist sie sowieso in Wirklichkeit Geschichte. Es braucht konsequente Strategien, um mit Mobilisierung von Mitgliedern, Aufbau der Gewerkschaft und Streiks Erfolge zu erkämpfen. Dies wäre in dieser Tarifrunde möglich. Dabei darf es keine Illusion in eine angeblich neutrale Schlichtungsstelle geben.
Alle Erfahrung zeigt, dass Schlichtung dazu genutzt wird, die Dynamik aus dem Arbeitskampf zu nehmen und öffentlichen Druck auf die Beschäftigten aufzubauen, ein vermeintlich neutrales Urteil von außen als Streitschlichtung zu akzeptieren und die Hetze gegen den Streik zu vestärken. In diesem Zusammenhang wird nun auch vermehrt das Streikrecht im öffentlichen Dienst infrage gestellt. Doch eins muss klar sein: Im Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen gibt es im Kapitalismus keine neutrale Instanz. Stattdessen entscheiden alleine die Kräfteverhältnisse, die sich durch einen Arbeitskampf ergeben. Entscheidende Fragen sind dabei: Wie stark sind die Gewerkschaften? Entsteht der Kapitalseite wirtschaftlicher Schaden? Nimmt der politische Druck auf die Regierenden zu? Kann ein Streik durchgehalten werden? Organisieren die anderen Gewerkschaften und Fachbereiche Solidarität in der gesamten arbeitenden Bevölkerung?
Erzwingungsstreik
Ein erfolgreicher Erzwingungsstreik im öffentlichen Dienst ist möglich und nötig. Dafür muss aber auch Druck von unten auf die ver.di Führung, die Vertreter*innen in der Schlichtungskommission und in der Bundestarifkommission gemacht werden. Es wurden Resolutionen eingebracht, um deutlich zu machen, dass Kolleg*innen nicht mit einem Schlichterspruch abgespeist werden wollen. So forderten die Delegierten beim Arbeitsstreik in Leipzig am 31.3.: „Keine Annahme eines Schlichterspruches unterhalb der Forderungen durch die ver.di-Vertreter*innen in der Schlichtungskommission; Einleitung der Urabstimmung über das Ergebnis der Schlichtung und einen möglichen Erzwingungsstreik.“ Die Beteiligung an den Warnstreiks macht deutlich, dass die Kampfkraft vorhanden ist. Klar ist auch, dass ein Erzwingungsstreik kein Spaziergang ist.
Gewerkschaftliche Solidaritätskampagne
Insbesondere würde versucht, massiv die öffentliche Meinung gegen den Streik aufzubringen. Das wird aber immer der Fall sein. Dies darf kein Grund sein, um davor zurückzuschrecken. Stattdessen muss man sich auch hierauf mit aller Konsequenz vorbereiten. Das heißt, dass die gesamte Organisation von ver.di wie auch die übrigen Gewerkschaften im DGB gefragt sind, konkret Solidarität zu organisieren. Das bedeutet, Informationen an Belegschaften in anderen Betrieben zu verteilen, bei Versammlungen Streikende sprechen zu lassen, Solidaritätsbesuche bei Streikposten zu organisieren und das Bewusstsein in anderen Belegschaften aufzubauen, dass dieser Streik von enormer Bedeutung für alle anderen hat. Wird er gewonnen, dann sind die Voraussetzungen für weitere Tarifkämpfe in anderen Bereichen viel besser. Die Gewerkschaft wird insgesamt gestärkt. Es könnte zu einem Mitgliederstrom in die Gewerkschaften kommen. Außerdem muss der Zusammenhang hergestellt werden, dass natürlich die Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern, die Betreuung und Erziehung der Kinder in den Kitas, die Zuverlässigkeit im öffentlichen Personennahverkehr und vieles mehr von guten Arbeitsbedingungen und Löhnen in öffentlichen Dienst abhängen. Denn ohne das wird es immer weniger Personal in diesen Bereichen geben, was noch bis zur Rente aushalten kann. Der Aufbau von Solidarität für einen Streik sollte unmittelbar beginnen.
Kommt es zur Urabstimmung im öffentichen Dienst, so gibt es auch die große Chance, die Tarifbewegungen mit der EVG weiter zu koordinieren. Wie kraftvoll dies sein kann, hat der Warnstreiktag nur angedeutet. Gemeinsam kann hier eine große Kraft aufgebaut werden.
Kämpferische Vernetzung aufbauen
Für eine konsequent kämpferische Ausrichtung ist es nötig, in den Betrieben Kräfte zu sammeln, um die Gewerkschaft entsprechend zu erneuern. Im Verlauf der Streiks haben sich frische Ansätze gebildet für kämpferische Betriebsgruppen. Diese sollten sich vernetzen und regelmäßig austauschen. Es braucht eine gewerkschaftspolitische und personelle Alternative in ver.di. Der jetzige Streikfrühling könnte ein guter Anfang sein. Mitglieder der Sol helfen, diese Ansätze weiter zu stärken und eine systematische Vernetzung aufzubauen. Dabei zeigen wir auch die Notwendigkeit einer politischen Perspektive auf, die über den Kapitalismus hinaus geht und die so genannten Sachzwänge, die sich aus der Klassengesellschaft und der Profitlogik dieses Systes ergeben, nicht akzeptiert.