Iran: Sinkender Lebensstandard führt zu Protesten und Streiks

Foto: Darafsh/CC

Für eine sozialistische Strategie der Arbeiter*innenbewegung

Kurz vor dem iranischen Neujahrsfest am 23. März beschloss das iranische Arbeitsministerium eine Erhöhung des Mindestlohns um 27 Prozent. Das klingt viel, aber mit dieser Entscheidung hat die Regierung ihr eigenes Gesetz gebrochen. Nach Paragraph 41 des Arbeitsgesetzes muss der Mindestlohn jährlich entsprechend der Inflation und den Kosten für einen Grundwarenkorb erhöht werden. Nach offiziellen Angaben hätte dies eine Erhöhung von mindestens 54,3 Prozent bedeutet, da die offizielle Inflationsrate derzeit so hoch ist.

Von Lukas Zöbelein, Mainz

Es ist jedoch davon auszugehen, dass das theokratisch-diktatorische Regime des Iran den tatsächlichen Anstieg systematisch unterschätzt. Aktivist*innen im Iran gehen von einer Inflationsrate zwischen 75 Prozent und hundert Prozent aus, selbst das offizielle Statistikamt des Iran hat berichtet, dass die Lebensmittelpreise im letzten Jahr um achtzig Prozent gestiegen sind.

Aber unabhängig davon, wie hoch die Inflationsrate derzeit ist, zeigt die so genannte Erhöhung des Mindestlohns, dass dieses Regime der Arbeiter*innenklasse, deren Lebensstandard immer weiter sinkt, nichts Gutes zu bieten hat. Mit dieser Entscheidung haben die politischen Agenten des theokratischen Regimes noch größere Teile der iranischen Arbeiter*innen in die Armut getrieben, wo doch bereits mindestens 75 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben.

Dies ist Teil des Hintergrunds der mächtigen Bewegung “Frau, Leben, Freiheit”, die von Frauen und jungen Menschen angeführt wurde und nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini durch die so genannte “Sittenpolizei” im vergangenen Jahr ausbrach. Diese Bewegung hat das Regime erschüttert und seine relative Isolation aufgezeigt. Das Regime überlebte durch eine Kombination aus Abwarten, bis die Bewegung abebbt, und brutaler Unterdrückung, einschließlich der Tötung von Demonstrant*innen und der Hinrichtung von Gefangenen, wenn es dies für notwendig hielt. Diese Unterdrückung hat zwar Wirkung gezeigt und zum derzeitigen Rückgang der Massenproteste beigetragen, aber sie hat das Regime nicht populärer gemacht.

Das hat die Arbeiter*innen in vielen Sektoren jedoch nicht davon abgehalten, gegen eine Erhöhung des Mindestlohns zu protestieren, die in Wirklichkeit eine reale Lohnkürzung bedeutet. So erklärte am 25. März eine Gruppe von Arbeiter*innen der Zuckerrohrfabrik Haft Tappeh, einem Betrieb mit einer langen Geschichte von Kämpfen, dass sie sich gegen diese Entscheidung wehren würden und rief alle Arbeiter*innen auf, sich den geplanten Protesten und Streiks anzuschließen.

Der am breitesten organisierte Schritt in diese Richtung wurde vom “Rat für die Organisation der Proteste von Vertragsarbeiter*innen der Ölindustrie” unternommen, dem es gelang, Arbeiter*innen aus 21 Unternehmen und Betrieben der petrochemischen Industrie am 21. April zu organisieren und zu mobilisieren. Diesem Streik schlossen sich Arbeiter*innen aus mindestens 100 Betrieben aus allen möglichen Sektoren an. Er hat auch gezeigt, dass die Forderungen nach einem Mindestlohn, von dem die Arbeiter*innen leben können, und nach besseren Arbeitsbedingungen, wie zum Beispiel die Regelung von zwanzig Arbeitstagen und zehn arbeitsfreien Tagen pro Monat, von den Arbeiter*innen in allen Sektoren der iranischen Arbeiter*innenklasse grundsätzlich geteilt werden. Es liegt auf der Hand, dass diese Forderungen angesichts der rasanten Inflation um die regelmäßige Anpassung des Mindestlohns an die Inflationsrate und um ein gut finanziertes Sozialversicherungssystem erweitert werden sollten.

Zu Beginn seiner Protest- und Streikkampagne für eine Erhöhung des Mindestlohns und für bessere Arbeitsbedingungen erklärte der Rat für die Organisation der Proteste von Vertragsarbeitern*innen in der Ölindustrie folgendes:

“Wir erklären, dass wir unsere Streiks fortsetzen werden, solange unsere Lohnforderung und unsere Forderung nach zwanzig Arbeitstagen und zehn Ruhetagen, die eine physische und soziale Notwendigkeit darstellen, unbeantwortet bleiben. Der Rat für die Organisation der Proteste der Erdölvertragsarbeiter*innen ruft alle Projektkolleg*innen, die in den Öl-, Gas- und Petrochemiezentren arbeiten, auf, sich den Streiks anzuschließen, in Einheit und Solidarität mit denjenigen, die sie initiiert haben.

Die streikenden Genossinnen und Genossen und die Kundgebungen sind zwei sich ergänzende Komponenten der Bewegung. Wir haben die Erfahrung der letzten zwei Jahre. 

Die Erfahrung der Generalversammlung von Hefeshjan im letzten Jahr ist eine gute Lektion und ein Modell für die Vorbereitung unserer Versammlungen und den Aufbau eines dauerhaften Konsenses darüber, wie wir unsere Streiks fortsetzen können.”

Es ist wichtig, dass in der Erklärung darauf hingewiesen wird, dass Streiks und Proteste die gemeinsamen Säulen des Widerstands und der Kampagnenarbeit sind. Da es in vielen iranischen Betrieben keine echten gewerkschaftlichen Strukturen gibt, die in der Lage wären, Streiks durchzuführen, ist es wichtig, auch die nicht organisierten Arbeiter*innen einzubeziehen. Dies ist gerade durch Proteste möglich, mit denen das Entstehen unabhängiger, auf der Arbeiter*innenklasse basierender Gewerkschaftsstrukturen gefördert werden kann. Angesichts der derzeitigen Schwäche echter Gewerkschaften und der Tatsache, dass es im Iran kein Streikgeld gibt, bedeutet dies, dass Proteste als einzige Möglichkeit für Arbeiter*innen gesehen werden, ihre politischen und wirtschaftlichen Forderungen hör- und sichtbar zu machen, vor allem wenn sie eine kurze Vorbereitungszeit haben. Darüber hinaus können solche Proteste auch zur Vorbereitung von Streiks in Unternehmen und Betrieben genutzt werden, deren Belegschaften noch nicht bereit sind, aktiv zu werden. Eine solche Vorbereitung ist notwendig, wenn man bedenkt, dass die Organisation und Durchführung eines Generalstreiks immer noch eine der wichtigsten Maßnahmen ist, die die iranische Arbeiter*innenklasse ergreifen kann, um eine Bewegung gegen das Regime aufzubauen.

Ölsektor

Im Ölsektor von Khuzestan und Busher versuchten die herrschende Elite und die Kapitalist*innen erneut, die Arbeiter*innen auf der Grundlage ihrer ethnischen Herkunft zu spalten, Methoden, die bereits bei früheren Streiks angewandt wurden. Um diesen streikbrechenden Methoden entgegenzuwirken, antworteten die Arbeiter*innen der Ölindustrie in diesen Gebieten mit folgender Erklärung:

“Der Streik der Arbeiter*innen des Ölprojekts ist immer noch stark und erfreulicherweise schließen sich jeden Tag mehr Kolleg*innen dem Streik an.

Aber in der Zwischenzeit werden, wie bei früheren Gelegenheiten, rückständige Methoden und reaktionäre Propaganda eingesetzt, um die Atmosphäre der Proteste zu verzerren und eine Spaltung in den protestierenden Reihen der Arbeiter*innen herbeizuführen, die gegen solche Bemühungen wachsam sein müssen. Beispiele dafür sind die Auflösung von Mahnwachen in einigen Gebieten im Namen der Bakhtiari [eine ethnische Gruppe], Bumi [Einheimische], usw.

Inzwischen leiden wir alle, die Arbeiter*innen aus allen Teilen des Landes, unter gemeinsamen Schmerzen und haben gemeinsame Feinde. Wir alle protestieren gegen die Armut, gegen die steigenden Kosten des täglichen Lebens und gegen die sich täglich verschlechternden Arbeits- und Lebensbedingungen. Was uns heute eint, sind die gemeinsamen dringenden Forderungen, um die wir uns versammelt haben, wie z.B. eine Lohnerhöhung von 79 Prozent, zwanzig Tage Arbeit und zehn Tage Ruhe.

Gleichzeitig stellen wir uns stolz der Tyrannei der Unternehmen und den sklavereiartigen Gesetzen in den Sonderwirtschaftszonen entgegen. Wir wollen die Unternehmen entmachten und uns von diesen Gesetzen in diesen Regionen befreien. Wenn wir heute in der Lage sind, unsere beiden dringenden Forderungen durch die Kraft unserer Einheit zu erfüllen, werden wir umso mächtiger sein, wenn wir beschließen, den Kampf für den Sieg gegen die Arbeitgeber fortzusetzen.

Während wir Arbeiter*innen uns seit langem auf Streiks vorbereiten und unsere Stimme gegen die Verschlechterung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen erheben, gibt es Bewegungen, die von “Kampagnen” sprechen und versuchen, unsere Proteste einzudämmen und unsere Wut auf Arbeitgeber und Regierung zu ersticken. Sie sagen, dass es nach dieser “Kampagne” keine Sommerstreiks mehr geben wird, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben. Es ist klar, dass hinter solchen Aussagen die oben genannten Kräfte stehen. Wir erklären mit Nachdruck, dass wir nicht Sklav*innen von Menschen sein werden, die behaupten, mit unserer Stimme zu sprechen.

Wir setzen uns für die Forderungen ein, die wir heute ankündigen, während unsere anderen Forderungen noch gar nicht beantwortet wurden, die wir aber weiter verfolgen. Wir werden uns gegen jede Aggression verteidigen, in jeder Phase, wenn es sich als notwendig erweist. Wir warnen unsere Genossinnen und Genossen, sich vor dieser Art von Intrigen zu hüten”.

Es ist wichtig, dass die obige Erklärung auf die Gefahr einer Spaltung der Streiks entlang ethnischer Linien hinweist und betont, dass alle Arbeiter*innen in diesem Konflikt die gleichen Interessen haben. Aber es ist auch notwendig, dass die Arbeiter*innenbewegung gegen jede ethnische Unterdrückung und für das Recht der Menschen auf Selbstbestimmung kämpft. Dies ist in einem Vielvölkerstaat wie dem Iran besonders wichtig, da die Machthaber im Iran immer wieder versuchen, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen.

Als Marxist*innen sind wir jedoch der Meinung, dass es mindestens genauso wichtig ist, dass die Streikenden nicht auf die “falschen Freund*innen” im In- und Ausland hereinfallen, die die Anti-Regime-Bewegung daran hindern wollen, den Kapitalismus herauszufordern.

Kurz vor dem 1. Mai veröffentlichte der Organisationsrat die folgende Erklärung:

“Wir nähern uns dem 1. Mai, dem Internationalen Tag der Arbeiter*innenbewegung.

Dies ist ein Tag der Solidarität und Einheit und ein Tag des Kampfes gegen das System, das uns blindlings in einen ungleichen Überlebenskampf führt.

Es ist ein System, das mit niedrigen Löhnen, verspäteter Lohnzahlung, unsicheren Arbeitsbedingungen, unzureichender Krankenversicherung, befristeten Verträgen und Dutzenden anderer unmenschlicher Maßnahmen das Leben und die Existenzgrundlage von uns und unseren Familien zerstört hat.

In diesem Jahr hat der Internationale Tag der Arbeiter*innen eine besondere Bedeutung im Vergleich zu den Vorjahren. Dieser Unterschied ergibt sich aus der Fortsetzung der Bewegung und der Revolution für ‘Frauen, Leben, Freiheit’. Dies ist eine Revolution der Befreiung, in der wir, die Arbeiter*innen, eine tragende Säule sind.

Unsere Worte sind die der Gesellschaft. Wir haben unsere Forderungen immer weiterverfolgt. Wir haben die Wünsche der Gesellschaft und den Schmerz des Volkes zum Ausdruck gebracht. Unser Schwerpunkt liegt weiterhin auf den wichtigen Bestimmungen der Charta der Mindestforderungen von zwanzig Organisationen, zu deren Unterzeichnenden wir gehören.

Wir, die Arbeiter*innen, haben immer auf freie Meinungsäußerung, Protest- und Streikrecht ohne jegliche Einschränkung gedrängt. Wir haben ein Ende aller Unterdrückung, Erniedrigung und Diskriminierung von Frauen gefordert. Wir haben den Hidschab als ein Mittel zur Unterdrückung der gesamten Gesellschaft bezeichnet. Wir haben uns gegen die Todesstrafe ausgesprochen. Wir betrachten die Rechte aller Bürger als gleichberechtigt, unabhängig von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder religiöser Überzeugung. Wir haben deutlich gemacht, dass wir uns in keiner Form der Machtausübung über unsere Köpfe beugen werden, weder am Arbeitsplatz noch im Leben oder in der Gesellschaft.

Um unsere Wünsche zu erfüllen, halten wir die Ratsverwaltung und die Ausübung des kollektiven Willens für die beste Form der Gemeindeverwaltung. All das sind unsere Gemeinsamkeiten mit der Bewegung “Frauen, Leben, Freiheit”, die sich gegen jede Art von Diskriminierung, Ausbeutung, Unterwerfung und Klassenunterdrückung ausspricht. Lasst uns gemeinsam, anlässlich des 1. Mai, mehr denn je unsere Entschlossenheit bekunden, mehr als hundert Jahre der Sklaverei und Unterdrückung der Arbeiter*innen und der gesamten Gesellschaft zu beenden.

Freund*innen! Derzeit befindet sich ein großer Teil unserer Projektpartner*innen in einem starken und breit angelegten Streik. Wir werden mit aller Kraft in den Streik treten. Jetzt streiken Tausende von uns in fast 100 Zentren, Unternehmen, Werkstätten und Komplexen. Wir haben eine große und weit verbreitete Bewegung für Löhne initiiert: eine Bewegung gegen Armut, Diskriminierung und Ausbeutung, die uns zu einem Leben unter der Menschenwürde gezwungen hat. Diese Bewegung darf nicht auf diesem Niveau bleiben. Die Forderung, die wir als Arbeiter*innen in diesem Projekt vorschlagen, ist die Forderung aller Arbeiter*innen. Unser Aufruf an alle Sektoren und alle Arbeiter*innen in der Ölindustrie und anderen Industrien lautet, sich dieser großen Bewegung des Kampfes für Löhne anzuschließen, und zwar mit Hilfe von kraftvollen landesweiten Protesten.

Wir werden das Vorenthalten der Löhne der Arbeiter*innen beenden. Das wurde vom Obersten Arbeitsrat genehmigt. Abgesehen davon, dass unsere offiziellen Genoss*innen der dritten Partei noch unbeantwortete Forderungen haben, kann der Streik bei der Verfolgung unserer Forderungen die Grundlage dafür bilden, dass sich die Arbeiter*innen der Ölindustrie zu einem landesweiten Streik zusammenschließen, um diese arroganten Unternehmer zu beseitigen und die Atmosphäre der Ölkasernen zu beenden. Lasst uns gestärkt auf den Platz gehen und die Stimme des Protests für alle Arbeiter*innen und alle Menschen gegen Armut, Sklaverei und Unsicherheit sein.

Wir Arbeiter*innen leiden Schmerzen auf nationaler Ebene. Lasst uns mit unseren Mitteln der landesweiten Streiks einen wirksameren Schlag gegen die Wurzeln der herrschenden Unterdrückung führen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist es, anlässlich des Internationalen Tags der Arbeit die Forderungen nach der sofortigen Freilassung der inhaftierten Arbeiter*innen und der während der achtmonatigen Revolution Verhafteten, ja aller politischen Gefangenen, zu unterstreichen. Mit unserem Aufruf zur Freilassung der politischen Gefangenen müssen wir die sofortige und bedingungslose Freilassung jedes einzelnen von ihnen betonen. Der 1. Mai, der Internationale Tag der Arbeit, ist der Tag des Protestes aller Arbeiter*innen und aller Völker. Am Vorabend dieses Tages sollten alle Teile der Gesellschaft ihre Forderungen nach einem Ende der Sklaverei und Ausbeutung mit leidenschaftlichen Versammlungen zum Ausdruck bringen. Wir müssen den Anbruch dieses großen Tages begrüßen.

Es lebe der 1. Mai, der Internationale Tag der Arbeiter*innen”

Die Tatsache, dass dieses Dokument die zentrale Rolle der Arbeiter*innenklasse im revolutionären Prozess, der derzeit im Iran stattfindet, betont und die Notwendigkeit einer erfolgreichen “Revolution der Befreiung” hervorhebt, ist ein wichtiger Schritt nach vorn. Dies unterscheidet diese Mai-Erklärung auch von der im Februar letzten Jahres veröffentlichten und in diesem Dokument erwähnten “Charta der Mindestforderungen”, in der die zentrale Rolle der Arbeiter*innenklasse im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung – d.h. den Kapitalismus – ganz klar vermieden wurde, was das Syndikat der Busfahrer von Teheran kritisch kommentiert hat.

Auf die Charta wollen wir hier nicht näher eingehen, da wir sie bereits kommentiert haben. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass der Rat, der die Streiks und Proteste organisiert, in seinem eigenen Dokument mehrfach über den Inhalt der Charta hinausgeht. In diesem Aufruf zum 1. Mai wird nicht nur die zentrale Rolle der Arbeiter*innenklasse als Kraft des Wandels hervorgehoben, sondern auch zur Organisierung und zu gemeinsamen Aktionen aufgerufen, was in der “Charta der Mindestforderungen” nicht enthalten ist.

Darüber hinaus formuliert diese Erklärung zum 1. Mai richtigerweise eine konkrete Alternative zur Herrschaft der Islamischen Republik und damit zur Herrschaft des iranischen Kapitals. Was das oben genannte Dokument jedoch nicht tut, ist zu skizzieren, wie diese Perspektive in die Realität umgesetzt werden kann. Dazu werden Streiks und ein Generalstreik, so wichtig er auch wäre, nicht ausreichen. Um eine grundlegende Veränderung zu erreichen, ist eine revolutionäre sozialistische Organisation mit einer Massenanhängerschaft in der Arbeiter*innenklasse erforderlich. Diese könnte die einzelnen Streiks und Bewegungen programmatisch miteinander verbinden und so zu einer vollständigen sozialistischen Revolution entwickeln, die in der Lage ist, die Herrschaft sowohl der religiösen Elite als auch der Kapitalisten zu brechen und, als Grundvoraussetzung dafür, vor allem das theokratische Regime des Iran auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern.

Es ist klar, dass der Iran verschiedene Wellen von Kämpfen erlebt. Nach den Streiks im April kam es im Mai und Juni zu Protesten von Rentner*innen wegen des sinkenden Lebensstandards, da sie wie viele andere Iraner*innen von der Inflation schwer getroffen wurden.

Wiederbelebung der Kämpfe der Arbeiter*innen

Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass im Iran seit 2017 eine Wiederbelebung der Kämpfe und Organisationen der Arbeiter*innen zu beobachten ist, die zwar einige Zugeständnisse errungen, aber das Regime noch nicht grundlegend untergraben haben. Vielen wird jedoch immer klarer, dass es nicht ausreicht, einfach nur zu protestieren. Die zunehmend brutale Bestrafung derjenigen, die sich an den von der Bewegung “Frau, Leben, Freiheit” ausgelösten Protesten beteiligt haben, durch Gefängnisstrafen und Hinrichtungen zeigt die Angst des Regimes und seine Entschlossenheit, weiter zu herrschen.

Dennoch kann das Regime die Opposition nicht vollständig zum Schweigen bringen und ist sich seiner schwachen Basis in der Bevölkerung bewusst, was sich bei den Wahlen 2021 gezeigt hat. Die Folge sind öffentliche Spaltungen innerhalb des Regimes sowie sein Bestreben, seine internationale Isolation zu verringern – durch das Abkommen mit Saudi-Arabien, die Versuche, das Atomabkommen von 2015 mit dem UN-Sicherheitsrat und Deutschland wiederzubeleben, sowie die jüngsten direkten Verhandlungen mit den USA.

Erklärungen wie diese von Arbeiter*innenorganisationen und Oppositionsgruppen spiegeln deutlich die Diskussionen und Debatten wider, die stattfinden, um Lehren aus den Kämpfen der letzten Jahre zu ziehen und einen Weg nach vorn zu finden. Wichtig ist, dass sich früher oder später neue Bewegungen entwickeln werden, die trotz ihrer individuellen Merkmale mit denselben allgemeinen Problemen konfrontiert sind wie frühere Kämpfe und so aus den Erfahrungen der Vergangenheit sowohl im Iran als auch international lernen können.

Im Oktober letzten Jahres, als die Bewegung “Frau, Leben, Freiheit” richtig in Schwung kam, fassten wir die politischen Fragen zusammen, mit denen sich die Arbeiter*innenbewegung nach Ansicht des CWI sowohl damals als auch heute konfrontiert sieht:

“Es ist klar, dass dieses Regime früher oder später fallen wird, entweder durch einen Sturz oder durch seine eigenen Spaltungen. Aber das wirft sofort die Frage auf: Was kommt dann?

Die derzeitige Bewegung ist klassenübergreifend in dem Sinne, dass sie verschiedene Elemente umfasst, die sich gegen die derzeitigen Machthaber stellen, doch sobald das Regime gestürzt oder auch nur stark geschwächt ist, wird sich die Frage stellen, wer die Macht übernimmt.

Unvermeidlich stellt sich in jeder Revolution die Frage, wer regiert. Es kann starke Rufe nach Einheit oder zumindest nach Einheit gegen die Kräfte des alten Regimes geben, die in Argumenten für die Bildung einer “vorübergehenden”, “provisorischen”, “Einheits”-Regierung zur “Sicherung” der Revolution, zur Organisation von Wahlen usw. vorgebracht werden. Sicherlich kann es eine Aktionseinheit gegen die Konterrevolution geben, aber das ist etwas ganz anderes als die Frage der Zusammenarbeit von Arbeiter*innenorganisationen mit pro-kapitalistischen Kräften in einer Regierung, die das kapitalistische System aufrechterhält.

“Die Arbeiter*innenbewegung muss ihre eigene Agenda festlegen, eine sozialistische Agenda, die die unmittelbaren Forderungen mit der Notwendigkeit verbindet, mit dem Kapitalismus zu brechen, damit die Arbeiter*innenklasse mit ihrer Macht den sozialistischen Wiederaufbau der Gesellschaft beginnen können. Heute muss die Revolution die Gelegenheit ergreifen, dies zu tun, und darf sich nicht nur darauf beschränken, die jahrzehntelange Unterdrückung durch die Konterrevolution zu beenden, die die arbeitenden Massen beiseite drängte und nach dem Massenaufstand, der die diktatorische Herrschaft des Schahs beendete, die Macht übernahm.

Unter den Bürgerlich-Liberalen, die sich gegen die Führung des Landes oder sogar gegen das gesamte Regime stellen, wird es diejenigen geben, die ein ‘normaleres’ kapitalistisches System ohne die Zwänge der obersten religiösen Führer und der Apparatschiks der islamischen Staatsbürokratie wollen. Der Fortbestand des Kapitalismus bedeutet jedoch, dass die grundlegenden Fragen, mit denen der Iran konfrontiert ist, nicht beantwortet werden. Es wird unweigerlich zu Klassenkämpfen kommen, da die Interessen der Kapitalist*innen und der Arbeiter*innenklasse miteinander in Konflikt geraten. Wenn die kapitalistische Macht nicht gebrochen wird, besteht die Gefahr einer Konterrevolution, wahrscheinlich nicht so wie 1979/80, aber möglicherweise wie in Ägypten 2013, wenn die herrschende Klasse versucht, ihre Position zu sichern.

Die iranische Arbeiter*innenklasse und Jugend darf sich keine Illusionen über die Rolle des westlichen Imperialismus machen. Im Bewusstsein der potenziellen Stärke der iranischen Arbeiter*innenklasse haben die westlichen Mächte lange versucht, Verbindungen zu iranischen Oppositionellen und Arbeiter*innenführern zu pflegen, um sie in eine prokapitalistische Umlaufbahn zu ziehen. Das sind falsche Freunde; sie mögen jetzt vorgeben, demokratische Rechte im Iran zu unterstützen, aber das haben sie zu Zeiten des Schahs nicht getan, und sie haben lange Zeit andere diktatorische Regime in Saudi-Arabien, Ägypten und anderswo in der Region unterstützt.

Die Alternative, für die die Arbeiter*innenbewegung eintreten muss, ist die Ablösung des gegenwärtigen Regimes durch eine provisorische Regierung, die sich aus Vertreter*innen der Arbeiter*innenklasse, der Jugend und der Armen zusammensetzt und sofort Maßnahmen zur Umsetzung der grundlegenden Forderungen der Revolution ergreift. Gleichzeitig muss sie die Entwicklung lokaler demokratischer Komitees fördern, die die Grundlage für ein neues Regime bilden können. Solche Gremien könnten die Grundlage für die Wahl einer revolutionären verfassungsgebenden Versammlung sein, die über die Zukunft des Landes entscheidet.

Um dies zu erreichen, muss es eine sozialistische Kraft, eine revolutionäre Partei geben, die für diese Ideen eintreten kann. Das war 1917 in Russland der Fall, als sich die Bolschewiki unter der Führung von Lenin nach der Februarrevolution weigerten, der pro-kapitalistischen provisorischen Regierung beizutreten, und sich stattdessen dafür einsetzten, in der Arbeiter*innenklasse die Mehrheit für die sozialistische Revolution zu gewinnen. Das ist das Beispiel, dem die iranischen Sozialist*innen folgen müssen. Eine solche Politik, die die Grundlage für die sozialistische Oktoberrevolution 1917 in Russland bildete, steht im Gegensatz zu den vielen “Allparteien”-Regierungen, die nach Revolutionen in anderen Ländern eingesetzt wurden und die dazu führten, dass sozialistische Chancen vertan wurden und der Kapitalismus weiter regierte.

Die sich anbahnende neue iranische Revolution ist eine enorme Entwicklung; sie beginnt bereits, Jugendliche und Arbeiter*innen in anderen Ländern zu inspirieren. Wenn sie erfolgreich ist, wird sie eine elektrisierende Wirkung auf den Nahen Osten und darüber hinaus haben. Die Energie und der Mut der jungen Menschen sind ein Beispiel für alle.

Was wir jetzt brauchen, ist eine Ausweitung der Bewegung und eine Klärung der konkreten Schritte, die notwendig sind, um sowohl die Repression zu besiegen als auch den Weg für eine wirkliche Befreiung von Unterdrückung und allen Übeln des Kapitalismus zu öffnen.”

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