Historischer Materialismus und Klassenbewusstsein
In der vorigen Ausgabe haben wir uns mit einem Aspekt des Historischen Materialismus, dem Klassenkampf, beschäftigt. In dieser Ausgabe vertiefen wir einen weiteren Aspekt: wie sich unser Bewusstsein entwickelt. Wieso verhält sich der Mensch so, wie er es tut? Was ist der Ursprung seiner Ideen und Schlussfolgerungen.
von Jens Jaschik, Dortmund
Die kapitalistische Gesellschaft besteht aus zwei sich feindlich gegenüberstehenden Klassen: Einerseits der Arbeiter*innenklasse, die nichts zu verkaufen hat als ihre Arbeitskraft. Zu ihr gehört die große Mehrheit unserer Gesellschaft. Die andere Klasse ist die Bourgeoisie oder Kapitalist*innenklasse, welche die Arbeiter*innenklasse ausbeutet und sich den Mehrwert – kurz gesagt den Profit, den die Kapitalist*innen aus den von den Arbeiter*innen produzierten Produkten – aneignet.
In seinem Vorwort zur Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ schreibt Karl Marx „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihren Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ (Mit dem ersten Teil des Zitats, Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, Basis und politischem Überbau, wird sich ein weiterer Artikel in der nächsten Ausgabe befassen.)
Herrschende Ideologie
Diese Analyse von Marx wird auf oft die Aussage „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ reduziert. Gegner*innen des Marxismus machen sich diese Vereinfachung zu nutze, um zu „beweisen“ Marx habe sich geirrt, schließlich hat die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse trotz ihres Seins kein Arbeiter*innenbewusstsein. Aber es ist ein gesellschaftliches Sein, das das Bewusstsein bestimmt. Die Arbeiter*innenklasse ist in ständiger Interaktion mit der Gesellschaft als Ganzes. Das gesellschaftliche Verhältnis, das sich aus ihrer Stellung im Produktionsprozess ergibt, bestimmt insgesamt das Bewusstsein. Arbeiter*innen sind auch Verkäufer*innen einer Ware (ihrer Arbeitskraft) auf dem Markt (dem Arbeitsmarkt), die mit anderen Verkäufer*innen konkurrieren.
Nicht zuletzt sind die herrschenden Ideen immer die Ideen der Herrschenden. Die Kapitalist*innen haben – mit Hilfe ihrer politischen Helfershelfer*innen – die Kontrolle über Staat, Parlamente, Medien, Gerichte, Schulen, Universitäten und vielem mehr, um ihre Ideologie zu verbreiten. Konkurrenz-Denken, Ellbogen-Gesellschaft und die Idee, dass jeder seines eigenes Glückes Schmied ist, gehören zur Muttermilch des Kapitalismus.
Rolle der Arbeiter*innenklasse
Aber weder gesellschaftliches Sein noch das Bewusstsein sind statisch, sondern in ständiger Bewegung. Die Gesellschaft besteht aus Widersprüchen und an diesen Widersprüchen zerreibt sich das falsche Bewusstsein. In „Das Elend der Philosophie erklärt Marx: „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter gewandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für die Massen eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist die Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf (…) findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen.“
Klassenbewusstsein bedeutet sich darüber bewusst zu sein, dass man als Arbeiter*innen in einer gemeinsamen Situation steckt und gemeinsame Interessen hat. Im Kampf um diese Interessen entwickelt sich das Klassenbewusstsein weiter. Es wird immer deutlicher, dass man einem starken Gegner gegenübersteht und es notwendig ist, sich zu organisieren. Organisationen sind der materielle Ausdruck von Klassenbewusstsein.
Die Hammerschläge der Ereignisse (Krisen, Kriege, Katastrophen) werden zu immer radikaleren Schlussfolgerungen führen. Der Kampf zur Verteidigung der Interessen, wird immer mehr zu einem politischen Kampf. Die Arbeiter*innen schaffen den Reichtum in der Gesellschaft und sind auf Grund ihrer Stellung im Produktionsprozess als einzige Klasse fähig, kollektive Erfahrungen zu sammeln und kollektive Kampforganisationen zu schaffen, die den Kapitalismus überwinden können. Marxist*innen müssen dazu beitragen, dass sich ein solches sozialistisches Klassenbewusstsein entwickelt.