Fünfzig Jahre nach dem Militärputsch in Chile

Foto: Carlos Figueroa/Wikimedia Commons

Interview mit dem chilenischen Sozialisten und Zeitzeugen Hugo Rodriguez

Vor 50 Jahren endete der revolutionäre Prozess der Unidad Popular (UP) [Volkseinheit] unter Präsident Allende in einem blutigen Putsch des Generals Augusto Pinochet. Unter dessen bis 1989 dauernder Diktatur wurde Chile zum neoliberalen Experiment. Vor vier Jahren gab es eine Massenbewegung, die Chile tief erschüttert hat. Sie ist zwar momentan wieder von der Bildfläche verschwunden, die Wut aber bleibt. Wir veröffentlichen hier ein Interview mit Hugo Rodriguez von Socialismo Revolucionario, der chilenischen Schwesterorganisation der Sol. 

Was ist dir von der revolutionären Periode während der Regierungszeit der Unidad Popular unter Allende in Erinnerung geblieben?

Ich war damals noch ein Kind, aber woran ich mich bezüglich dieser drei Jahre gut erinnere und was mich tief geprägt hat, scheint vielleicht etwas nebensächlich. Aber im Kontext der schlimmen wirtschaftlichen Verhältnisse damals war es sehr wichtig: Das Versprechen von einem halben Liter Milch für alle Kinder des Landes an jedem Tag der Woche. Das hat mich geprägt. Und das sage ich auch heute noch in Diskussionen, wenn Leute diese Zeit schwarz malen oder sagen, du warst ein Kind, du weißt doch gar nichts. Aber ich erinnere mich: während Allendes Regierungszeit gab es jeden Tag Milch. Mit dem Putsch aber verschwand sie, weil wir sehr arm waren. Außerdem erinnere ich mich an die kostenlose zahnärztliche Versorgung in der Schule, etwas, was heute fast unbezahlbar ist.

Was sind die Lehren, die wir aus dem Militärputsch gegen Allende ziehen sollten?

Für mich ist die zentrale Lehre aus der Periode der UP und dem Putsch, dass die Illusionen der reformistischen Parteien zwingend zu einem Desaster und zum Massaker an der Arbeiter*innenklasse führen. Die damals vorherrschende Idee war zu sagen: „Schaut, wir werden zum Sozialismus gehen, aber wir werden es auf unsere Weise machen. Auf dem chilenischen Weg. Wir werden kleine Schritte machen und Stück für Stück vorwärts gehen, um die Bourgeoisie (Kapitalist*innenklasse, A.d.Ü.) nicht zu erschrecken. Und eines Tages werden wir dann aufwachen und im Sozialismus sein”. Aber das ist nicht passiert. Dabei gibt es viele Erfahrungen, die gezeigt haben, dass, wenn du versuchst den Sozialismus zu erreichen, aber nicht bereit bist, den letzten Schritt zu gehen, die Reaktion angreifen wird.

Der Prozess während der UP war interessant, weil die etablierten Institutionen respektiert wurden und keine Revolution durchgeführt wurde. Und die Leute damals haben tatsächlich etwas gesehen, was es nie zuvor gab: Allende hat angefangen, seine Versprechen umzusetzen. Die Kandidat*innen versprachen sonst immer viel, aber haben unter Vorwänden alles sofort wieder fallen gelassen. Aber Allende hat beispielsweise das mit der Milch innerhalb der ersten Woche seiner Regierung eingeführt. Es wurde angefangen, an der Verstaatlichung des Kupfers und der Enteignung der großen Monopole zu arbeiten. Und die Leute sahen das und dachten: „Das ist wirklich unsere Regierung.” Aber sie sind dort nicht stehen geblieben. Sie sagten: „Ok, das ist unsere Regierung, die uns sagt, wir sind auf dem Weg zum Sozialismus – dann los geht’s.”

Das heißt, die Massen sind selbst aktiv geworden? Wie?

Dafür gibt es ein sehr bildhaftes Beispiel: Einige Bäuer*innen aus der Gegend um Santiago haben das Land übernommen und den Besitzer verjagt. Die Arbeiter*innen aus den Cordones Industriales [Von unten entstandene Räte mit Vertreter*innen aus lokalen Fabriken etc., A.d.Ü.] unterstützen sie dabei. Es gibt ein Interview mit Bäuer*innen, das in etwa so geht: 

Bäuer*innen: Das Land wird nicht bewirtschaftet, obwohl wir doch Lebensmittel brauchen. Also werden wir selbst säen und produzieren. 

Staatsbürokratie: Das ist ja alles richtig. Aber, was ihr macht, ist illegal. Der Besitzer wird uns verklagen, das müssen wir erst klären. Das wird aber bestimmt sechs Monate dauern.

B: Wir haben aber keine sechs Monate. Uns ist egal, ob das illegal ist. Illegal sollte eher sein, dass er sich weigert, das Land zu bewirtschaften. Wir übernehmen das jetzt.

S: Aber Genoss*innen, wir müssen alles im Rahmen der Gesetze machen. Weil wenn wir es nicht tun, bekommt Allende Probleme und wird juristisch abgesetzt

Führte das zu Konflikten mit der Regierung?

Die UP betonte immer wieder, dass es ein Prozess sei, aber praktisch hat der Kongress [Parlament] Allende überall ausgebremst. 1973 wurden 84 Gesetzesanträge gestoppt.  Überall sahen die Massen, dass die Gesetze ihnen verboten, zu tun, was sie für notwendig erachteten.

Zum Beispiel gab es eine Blockade durch die USA, die sich weigerte, Ersatzteile von Maschinen zu liefern, wodurch die Produktion gefährdet war. Was taten die Arbeitenden? Sie sagten: „Schaut, wir haben hier drei Maschinen, die gerade nicht benutzt werden können. Wir können die eine auseinanderbauen, um die anderen beiden zum Laufen zu bringen.” Die Arbeitenden fingen an, selbst Lösungen zu finden. Solche Prozesse fanden überall im Land statt: die Arbeitenden haben die Fabriken und die Kontrolle über die Produktion übernommen. Das war der Keim der Volksherrschaft. Aber dieser Prozess fand parallel zu dem der Regierung statt und befand sich im Widerspruch zu dieser. Sie war gegen die Gründung der Cordones Industriales, weil sie keine Kontrolle über diese hatte. Die Räte waren eine eigenständige Macht, die sich zunehmend in Bewegung setzte – jedoch ohne Orientierung. Sie waren die chilenische Form der Sowjets: verschiedene Gruppen von Unternehmen, deren Delegierte sich zusammen taten, die Produktion und die Verteilung der Lebensmittel organisierten. 

Es herrschte also eine Doppelherrschaft. Die Regierung jedoch wollte einen großen Teil der durch die Arbeitenden übernommenen Fabriken an die ursprünglichen Besitzer zurückgeben, um sie auf ihre Seite zu ziehen.

Die Arbeitenden auf der anderen Seite sagten, dass sie Waffen bräuchten. Die Massen hatten also den Staat und die administrative Macht schon hinter sich gelassen. Das Problem war das Aufeinandertreffen des bürgerlichen Staates mit den sozialistischen Initiativen von unten. Der bürgerliche Staat war nicht geeignet, um die von den Arbeitenden kommenden Maßnahmen umzusetzen. Die Arbeiter*innen begannen also zu verstehen, dass man diesen Staat überwinden muss Eine große Demo zur Unterstützung Allendes forderte beispielsweise die Abschaffung des Kongresses. Das alles waren Arbeitende, die meist nur die Grundschule besuchten, die nie „Staat und Revolution“ von Lenin, “Das Kapital”, das kommunistische Manifest gelesen haben. Sie haben in den Fabriken gelernt. Sie sind auf Probleme gestoßen und haben marxistische Schlussfolgerungen gezogen. Sie wurden Marxist*innen, ohne zu wissen, dass sie Marxist*innen waren. Das lag einfach an der Dynamik der Ereignisse.

Doch wie konnte es dann zu einem Putsch kommen?

Das passierte nicht von heute auf morgen. Als es die ersten Versuche gab, Allende zu stürzen, gingen die Massen auf die Straße, um ihn zu verteidigen und forderten Waffen und die Übernahme der Macht. Allende jedoch war nicht bereit, mit den Kapitalist*innen und ihrem Staat zu brechen. Doch dieser Zustand konnte nicht von Dauer sein, irgendwann waren die Massen müde und demoralisiert und der Putsch konnte schließlich stattfinden. Das Problem war, dass es keine revolutionäre Partei gab, die dieser Bewegung eine Führung geben konnte. Hätte es eine organisierte Kraft gegeben, die die Klasse während des Prozesses auf die Übernahme der Macht vorbereitet hätte, die die richtigen praktischen und politischen Vorschläge gemacht hätte, dann wäre die Revolution erfolgreich gewesen. Denn wie gesagt, die Massen waren eigentlich schon lange deutlich weiter als Allende. Doch ohne eine revolutionäre Partei kann sich das nicht ausdrücken.

Wie erklärst Du, dass Chile dreißig Jahre nach dem Fall der Diktatur 1989 vor vier Jahren wieder eine soziale Explosion erlebte?

Erstmal muss man wissen, dass Chile unter der Diktatur zum neoliberalen Experiment wurde. Das wurde auch in der Verfassung festgeschrieben. Der Gedanke war, dass es egal sein sollte, wer die Wahlen gewinnt, indem neoliberale Gesetze in der Verfassung verankert wurden. Diese blieb auch nach der Diktatur. So wurden große Teile der Wirtschaft tatsächlich erst danach privatisiert: das Gesundheits- und Trinkwassersystem, Stromproduktion und -netz, die Autobahnen, die Bildung. Alles ist heute privatisiert. Deswegen wurde Chile auch als das neoliberale Paradies gesehen, wo alles funktionierte und in dem das BIP von 5000 auf 25.000 Pesos pro Kopf gewachsen war. Aber das stimmt nicht für das ganze Land, sondern nur für etwa zwanzig Prozent der Gesellschaft, die etwas von diesem Wachstum haben.

Deswegen war der Slogan der sozialen Explosion auch “Es sind nicht dreißig Pesos, es sind dreißig Jahre”?

Genau! Die Herrschenden, die Institutionen, die Welt dachte, dass in Chile alles ruhig sei und sich nichts tun würde. Das traf auch auf viele Aktivist*innen mit weniger politischer Weitsicht zu. Aber wir sagten, es braut sich etwas zusammen. Irgendwas wird passieren, wir wissen nicht wann, aber irgendwann passiert etwas. Und schließlich war es die Fahrpreiserhöhung um dreißig Pesos, wo massenhaft Schüler*innen die U-Bahnstationen besetzt haben. Das ist das Gesetz der Dialektik: Es gibt kleine Veränderungen, bis es plötzlich einen qualitativen Sprung gibt und sich plötzlich alles verändert. Genau das passierte in jenem Oktober 2019. Wir sahen zwei Millionen Menschen in den Straßen Santiagos, aber auch von Arica im Norden bis Punta Arenas im Süden, über all die 5000 Kilometer, die Chile misst, gab es Demos in jedem Dorf. Der Präsident Piñera hatte Ausgangssperren verhängt und die Armee auf die Straße geholt, wie damals in der Diktatur. Doch die Jugend, die all das nicht kannte, ging trotzdem raus und widersetzte sich dem Militär, das größtenteils untätig blieb.

Wieso konnte der Prozess vom Establishment wieder eingefangen werden?

Wie damals zur Zeiten der UP ist das Hauptproblem in Chile wie auch in der ganzen Welt das Fehlen einer revolutionären Partei, die der Bewegung Orientierung bieten kann. Die Macht lag eine Woche lang auf der Straße, man hätte sie nur übernehmen müssen. Aber es gab niemanden, der das tun konnte. Einer der Slogans der großen Demos der sozialen Explosion war leider auch “El Pueblo unido marcha sin partido” [„Das vereinte Volk marschiert ohne Partei”]. Hintergrund ist, dass die Ablehnung gegenüber den etablierten Parteien so stark war, dass die Leute generell nichts von politischen Parteien mehr wissen wollten. Wir haben natürlich gesagt, dass das falsch sei. Es geht nicht um eine Partei, die die Revolution macht und bestimmt, sondern die eine Führung bietet. Die Revolution selbst müssen die Massen machen.

Welche Aufgabe siehst du für Marxist*innen heutzutage?

Unsere Aufgabe heute ist, einerseits unsere revolutionäre Organisation aufzubauen, mehr Menschen zu gewinnen und uns politisch zu bilden. Aber außerdem beteiligen wir uns am Aufbau einer breiten Organisation in einer Einheitsfront mit anderen Kräften. Das heißt, sich um ein paar zentrale Punkte zu organisieren, über die wir Einigkeit haben und um die wir arbeiten. Vor einem Jahr gab es ein Treffen von circa zehn Organisationen und Parteien, um einen solchen Aufbauprozess zu beginnen, auf nationaler Ebene zu arbeiten und Leute einzubinden. Die Idee ist es, eine legale Partei zu haben, mit der wir auf der Wahlebene, aber auch außerhalb arbeiten können. Wir wissen nicht, was aus dem Projekt wird und sagen auch nicht, dass es die Lösung aller Probleme sein wird. Aber wir sind guter Dinge, weil wir schon seit einem Jahr in guten Diskussionen mit den beteiligten Organisation sind. Wir kämpfen dabei darum, sich klar zum Sozialismus zu bekennen, weil die Geschichte gezeigt hat: Im Kapitalismus ist keine grundsätzliche Veränderung möglich.

Das Interview führe Claire Bayler von der Independent Socialist Group aus den USA.

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