Interview mit der Internationalen Organisation der Arbeiterpartei der Türkei (TIP)
Seit 2017 existiert in der Türkei mit der TIP (Arbeiterpartei der Türkei) eine neue politische Kraft mit sozialistischem Anspruch, deren Unterstützer*innen sich nun auch in Deutschland organisieren. Wir veröffentlichen hier ein Interview mit der Internationalen Organisation der TIP, in dem diese die Partei vorstellt.
Hier und hier finden sich Artikel der Sol und des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) über die Türkei, in denen wir uns auch kritisch mit der Kampagne der TIP bei den diesjährigen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auseinandersetzen. Wir begrüßen die Gründung der TIP und sehen darin eine Chance, sozialistische Arbeiter*innen und Jugendliche zu organisieren, ihre politischen Interessen kämpferisch zum Ausdruck zu bringen und ein Forum für die notwendige Debatte über den Weg zu einer sozialistischen Veränderung anzubieten. Gleichzeitig wollen wir mit den Genossinnen und Genossen der TIP über diese Fragen und ein sozialistisches Programm sowie die richtige Taktik und Strategie für die Türkei in Diskussion kommen.
Die TIP ist eine relativ neue sozialistische Partei in der Türkei. Kannst Du uns in wenigen Worten sagen, weshalb Ihr Euch 2017 gegründet habt und was Eure wichtigsten Ziele sind?
Die 2017 gegründete Arbeiterpartei der Türkei (TİP) ist eine junge sozialistische Partei, deren Wurzeln jedoch auf die erste Arbeiterpartei der Türkei zurückgehen. Die erste TİP, eine der bedeutendsten Organisationen in der Geschichte der türkischen Arbeiterbewegung, wurde 1961 von Führern der Arbeiterklasse gegründet und unter Beteiligung der sozialistischen Intellektuellen konsolidiert. Dadurch gewann sie die Unterstützung von Millionen von Arbeitern und erlangte somit 15 Sitze im türkischen Parlament.
Mit diesem Einzug der Partei bei den Wahlen 1965 ins Parlament, prägte sie mit ihrem Einfluss auf die damalige Arbeiter- und Jugendbewegung die politische Geschichte des Landes. Die heutige TİP versteht sich als Erbe dieser Tradition. Ein weiteres wichtiges Erbe, das wir für uns beanspruchen, ist der Gezi- Aufstand von 2013.
Der Geist der revolutionären Solidarität und des vereinten Kampfes, der durch den Gezi-Aufstand geschaffen wurde, führte zu dem größten Volksaufstand in der Geschichte des Landes, bei dem Millionen von Menschen gegen die AKP-Regierung auf die Straße gingen. Diese Erfahrungen, Lehren und das Vermächtnis sind die wichtigsten Grundsteine, auf denen unsere Partei aufgebaut ist. Die von diesen beiden wichtigen Quellen gespeiste Arbeiterpartei der Türkei (TIP) ist eine partizipative, sozialistische Volkspartei, die sich den Prinzipien der sozialistischen Demokratie verpflichtet und eine sozialistische Revolution anstrebt, um eine Türkei der Freiheit, Gleichheit und des Friedens zu errichten. TİP kämpft in erster Linie dafür, dem politisch-islamistischen Regime der AKP ein Ende zu setzen, das seit zwanzig Jahren wie ein Albtraum über das Land hereinbricht. Aber auch dafür sie für ihre Verbrechen gegen das Volk zur Verantwortung zu ziehen. Die TİP, die nicht nur dem Namen nach, sondern auch ihren Mitgliedern und ihrem Programm nach eine Arbeiterpartei ist, steht für
- die Rechte der Arbeiter und des Volkes gegenüber der Obrigkeit,
- Gleichheit gegen alle Formen der ethnischen, religiösen und sexuellen Diskriminierung,
- Freiheit und Gerechtigkeit gegen Unterdrückung und Tyrannei,
- Säkularismus statt islamische Reaktion,
- Unabhängigkeit statt Imperialismus,
- Brüderlichkeit und gemeinsamer Kampf des türkischen und des kurdischen Volkes gegen Faschismus und Chauvinismus,
- eine geplante, sozialistische Wirtschaft statt der kapitalistischen Wirtschaft
- die Freiheit der Frauen und der LGBT+-Personen gegen das Patriarchat,
- Leben und Natur gegen die vom Kapitalismus verursachte Zerstörung.
Einer Eurer Abgeordneten sitzt in der Türkei im Gefängnis. Was wird ihm vorgeworfen?
Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen am 14. Mai als Abgeordneter der TİP gewählt wurde, wird immer noch gefangen gehalten. Er war 2022 verhaftet und wegen seiner Beteiligung am Gezi-Aufstand zu 18 Jahren Gefängnis wegen “Beihilfe zum Umsturzversuch” verurteilt worden. Der Fall ist noch vor dem Obersten Gerichtshof anhängig, was bedeutet, dass das Urteil der unteren Instanz noch nicht rechtskräftig ist, weshalb Can formal nicht verurteilt ist. Die türkische Verfassung gewährt den gewählten Abgeordneten gesetzgeberische Immunität, was auch bedeutet, dass die Vollstreckung eines strafrechtlichen Urteils gegen einen Abgeordneten, sei es vor oder nach seiner Wahl, bis zum Ende seiner Amtszeit im Parlament aufgeschoben wird. Trotz dieser eindeutigen Verfassungsbestimmung und mehrerer Präzedenzfälle, in denen gewählteAbgeordneten nach ihrer Wahl aus dem Gefängnis entlassen wurden, wird Can Atalay weiterhin gefangen gehalten. Auch wenn versucht wird, diese Tatsache juristisch zu erklären, sind sowohl das ursprüngliche Urteil gegen Can als auch die Entscheidung, ihn im Gefängnis zu behalten, eher auf politische Erwägungen zurückzuführen. In den letzten 20 Jahren hat die AKP-Regierung die Justizorgane zu eigenen einfachen politischen Werkzeugen diskreditiert. Nachdem sie ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verloren hat, ist die Justiz nur noch ein Diener der Regierung, um deren Verbrechen zu beschönigen und die Opposition zu unterdrücken.
Unsere Anwälte haben die notwendigen rechtlichen Schritte eingeleitet, damit Can freigelassen wird und seinen Sitz im Parlament einnehmen kann, aber wir sind uns bewusst, dass die Lösung auf der Straße und nicht im Gerichtssaal gesucht werden muss.
Gibt es Möglichkeiten, die Kampagne für seine Freilassung auch in Deutschland zu unterstützen?
Wir führen eine umfassende Kampagne für die Freilassung unseres Abgeordneten Can Atalay durch öffentliche Demonstrationen, Kampagnen in den sozialen Medien, Presseerklärungen, Sitzstreiks usw., nicht nur in der Türkei, sondern auch international. So haben wir mehrere Demonstrationen in vielen europäischen Ländern abgehalten, darunter Großbritannien, die Niederlande, die Schweiz, Frankreich, Belgien, Österreich, Tschechien und Deutschland. Als sozialistische Partei erwarten wir von unseren Genossen und anderen linken/sozialistischen Parteien, Gruppen und Einzelpersonen Solidarität mit unseren Bemühungen, die eklatante Ungerechtigkeit der AKP-Regierung aufzudecken und sie zur Einhaltung des Gesetzes zu zwingen. Sie können unsere Sache unterstützen, indem Sie sich an unseren Demonstrationen beteiligen und das Thema in die deutsche Öffentlichkeit tragen.
Ihr habt nun begonnen, auch in Deutschland TIP-Gruppen zu gründen. Wie weit seit Ihr da und was sind Eure Pläne für Aktivitäten in Deutschland?
Wie wir alle wissen, leben in Deutschland Millionen von türkischstämmigen Arbeitsmigranten. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die TİP innerhalb dieser Gemeinschaft zu organisieren und haben bei unseren Bemühungen einige Fortschritte erzielt. Da wir eine junge politische Partei sind, verfügen wir im Gegensatz zu einigen anderen politischen Organisationen leider nicht über langjährige Erfahrungen, Organisationen und Kontakte innerhalb der traditionellen türkischen Gemeinschaft in Deutschland und allgemein in Europa. Im Wesentlichen interessieren sich Migranten der neueren Generation, junge, gut ausgebildete Arbeiter mit Universitätsabschluss für die Arbeiterpartei der Türkei.
Vor allem bedingt durch politischen Entwicklungen in der Türkei schließen sich immer mehr neue Menschen unserer Partei im Ausland an. Nachdem wir vor ein paar Jahren mit nur einer Handvoll Menschen bei Null angefangen haben, sind wir jetzt Hunderte und wachsen weiter. Während wir versuchen, mehr Menschen einzubeziehen und die Zahl der Mitglieder zu erhöhen, bemühen wir uns auch darum, die TİP als eine gut funktionierende, solide sozialistische Organisation in Deutschland aufzubauen. Es wäre nicht falsch zu sagen, dass wir derzeit den Grundstein für eine substanzielle politische Tradition legen, die in den kommenden Jahren wachsen und gedeihen soll. Da wir eine türkische politische Partei sind, die versucht, sich im Ausland unter den Arbeitsmigranten zu organisieren, besteht unsere Agenda hauptsächlich aus Themen mit Bezug zur Türkei. Das liegt auch daran, dass wir in den Ländern, in denen wir jetzt leben, nicht tief verwurzelt sind und dass unsere Mitglieder hauptsächlich junge Migranten sind, die noch starke Bindungen an ihr Heimatland haben. Davon abgesehen ist die TİP auch eine sozialistische Partei, die sich an marxistisch-leninistischen Grundsätzen, einschließlich des Internationalismus, orientiert. Wir glauben an Brüderlichkeit, Solidarität und den gemeinsamen Kampf der Arbeiter aller Länder, unabhängig von Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit oder Religion. In diesem Sinne betrachten wir immigrierte Arbeiter als integralen Bestandteil der Arbeiterklasse ihrer Gastländer. Auch wenn wir derzeit nicht in der Lage sind, nennenswerte konkrete Schritte zur Teilnahme an Arbeiter- und Volksorganisationen und Kämpfen in unseren Wohnorten zu unternehmen, sind wir fest entschlossen, das zu tun, was der Internationalismus erfordert.
Habt Ihr schon Euer Verhältnis zur Partei DIE LINKE oder anderen Organisationen diskutieren können?
Wie oben erwähnt glauben wir an revolutionäre Solidarität und gemeinsame Kämpfe auf der Grundlage klar definierter Prinzipien. Wir betrachten Die Linke und andere linke deutsche Organisationen als unsere Freunde und Genossen.
Selbstverständlich bedeuten Kameradschaft und Solidarität gegenseitige Unterstützung sowie konstruktive revolutionäre Kritik. Wir stehen ihnen bei allem zur Seite, was sie richtig machen, und wir würden unsere revolutionäre Kritik an dem äußern, was wir für falsch halten. Wir sind entschlossen, gute Beziehungen zu Freunden und Kameraden zu pflegen, die je nach den Besonderheiten der Situation unterschiedliche Formen annehmen können.
