Arabischer Frühling 2011

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Revolutionäre Aufstände fegten über den Nahen Osten

Einleitung: Die katastrophale Lage in Gaza folgt auf jahrelange düstere Ereignisse im gesamten Nahen Osten. Noch vor 13 Jahren war ein ganz anderes Ergebnis möglich. Der “Arabische Frühling” hätte die Region auf einen anderen Kurs bringen und Armut, Krieg und Verzweiflung beenden können.

Im Nahen Osten und in Nordafrika kam es zu Massenaufständen, die langjährige Diktatoren in Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen stürzten. Die gefürchteten Sicherheitskräfte konnten sie nicht retten. In Syrien überlebte Präsident Assad, indem er konfessionelle Spaltungen förderte und von Russland und dem Iran militärisch unterstützt wurde. Auch in Marokko, Algerien, Libanon, Jordanien, Irak, Bahrain, Kuwait, Oman, Sudan und Israel kam es zu Massenprotesten.

Doch trotz dieser Bewegungen überlebte die herrschende Klasse, indem sie einige alternde Diktatoren austauschte, ohne jedoch die Wirtschaft aus der Hand zu geben. Die Ausbeutung der Arbeiter*innenklasse und der armen Bevölkerung aus Profitgründen geht weiter. Armut, das Fehlen angemessener öffentlicher Dienstleistungen, kaum demokratische Rechte und jetzt auch noch Krieg sind die Folgen.

Hätte eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens errungen werden können? Welche Lehren können für künftige Kämpfe gezogen werden?

Am 17. Dezember 2010 wurden Wagen, Waren und Waage des 26-jährigen tunesischen Gemüsehändler Mohamed Bouazizi von den Behörden beschlagnahmt und er wurde öffentlich verprügelt.

von David Johnson, Socialist Party in England und Wales

Da er nach dem Kauf der Waren für den Tag verschuldet war, kein Geld hatte, um Beamte zu bestechen, und seine Familie von seinen Einnahmen abhängig war, stand er verzweifelt vor dem Rathaus und schrie: “Wie soll ich meinen Lebensunterhalt verdienen?” und zündete sich an.

Innerhalb weniger Stunden begannen in seiner Stadt Proteste. Angesichts von 30 Prozent Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption und polizeilicher Unterdrückung identifizierten sich Tausende mit der Notlage von Bouazizi.

Er starb fast drei Wochen später, als die Proteste bereits angeschwollen waren und sich über das ganze Land ausbreiteten. Alle Arbeiter*innen und Armen in Tunesien litten unter der Diktatur von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali, der seit 1987 an der Macht war.

Trotz repressiver Gesetze und Polizei, die auf Demonstrierende schoss, war Ben Alis Position am 14. Januar unhaltbar geworden. Zusammen mit anderen Mitgliedern der korrupten und märchenhaft reichen Familie Trabelsi floh er aus dem Land.

Die staatlich kontrollierten und privaten Medien zensierten die Nachrichten, aber die Ereignisse wurden im Satellitenfernsehen übertragen. Der Sturz Ben Alis elektrisierte Arbeiter*innen und Jugendliche in der gesamten Region. Auch sie identifizierten sich mit Bouazizi, da sie wie er unter autoritären Regimen litten, die die herrschenden Eliten schützten.

Diese Regime wurden ihrerseits von den USA und anderen imperialistischen Mächten finanziell und mit Militärgütern unterstützt. Die “demokratischen” Regierungen nahmen Polizeibrutalität, Scheinjustiz, Folter und Wahlfälschungen billigend in Kauf, um im Gegenzug ihre finanziellen Interessen in der Region zu schützen.

Historische Repression

Präsident Hosni Mubarak, zuvor Kommandeur der Luftwaffe, regierte Ägypten seit 1981. Während dieser Zeit galt ein “Notstandsgesetz”, das der Polizei weitreichende Befugnisse einräumte, die verfassungsmäßigen Rechte außer Kraft setzte und Zensur legalisierte. Politische Aktivitäten der Opposition wurden untersagt. Versammlungen von mehr als fünf Personen waren verboten. Unbefristete Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren und zivile Prozesse vor Militärgerichten wurden erlaubt.

Trotz dieser strengen Einschränkungen ließen sich Proteste und Streiks nicht ewig aufhalten. Im Jahr 2000, nach Ausbruch der zweiten palästinensischen Intifada (Aufstand), kam es in Ägypten zu Demonstrationen und Kundgebungen. Die Demonstrierenden skandierten Slogans wie “Wir haben dich nicht vergessen, Palästina; wir sind auch besetzt!”

Ägypten war nach Israel der größte Empfänger von US-Waffen im Nahen Osten. Als die USA und Großbritannien (unter “New Labour”) 2003 in den Irak einmarschierten, unterstützte Mubarak pflichtbewusst seine Unterstützer*innen in Washington. 40.000 Demonstrierende protestierten und besetzten zehn Stunden lang den Tahrir-Platz in Kairo. Die Kämpfe mit der Polizei wurden am nächsten Tag fortgesetzt. Zum ersten Mal waren auf den Straßen Sprechchöre gegen Mubarak zu hören.

Eine Gruppe von Aktivist*innen aus diesen Demonstrationen begann, sich gemeinsam zu organisieren, zumeist Studierende und linke Aktivist*innen. Ihre Kampagne “Kifaya” (Genug) trotzte mutig der polizeilichen Repression mit Protesten, die die Abschaffung des Notstandsgesetzes und volle demokratische Rechte forderten.

Da sie sich jedoch meist nicht mit Themen wie den zu niedrigen Löhnen, schlechten Schulen, Gesundheitsversorgung und Wohnraum befassten, erhielten sie nur wenig aktive Unterstützung von der breiteren Arbeiter*innenklasse. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit haben jedoch dazu beigetragen, den Lohnabhängigen genug Selbstvertrauen zu geben, um zurückzuschlagen.

Mubaraks Sohn Gamal, ein in den USA ausgebildeter Investmentbanker, der in das Kabinett seines Vaters aufgenommen wurde, setzte ein Privatisierungsprogramm durch. Die neuen Eigentümer griffen die seit langem geltenden Arbeitsbedingungen der Beschäftigten an. Ab 2004 nahmen die Streiks an Zahl und Militanz zu.

Neben anderen Hindernissen hatten die Beschäftigten auch mit der Gewerkschaftsführung zu kämpfen. Der ägyptische Gewerkschaftsbund war faktisch nur ein weiterer Teil des repressiven Staates. Seine Führer wurden vom Staat ernannt und kontrollierten die Mitglieder, statt für sie zu kämpfen. Dennoch hatte der Verband vier Millionen Mitglieder in Schlüsselindustrien.

Im Jahr 2006 brach in Mahalla al-Kubra, der größten Fabrik im Nahen Osten, ein Streik aus. 3.000 Arbeiterinnen begannen die Aktion und marschierten unter Sprechchören durch das riesige Gelände: “Hier sind die Frauen! Wo sind die Männer?” Der Rest der 27.000 Beschäftigten schloss sich ihnen an und forderte einen Bonus von zwei Monatslöhnen. Nach fünf Tagen einigten sie sich auf eine Prämie in Höhe von 45 Arbeitstagen.

Der Sieg stärkte das Selbstvertrauen der Lohnabhängigen weiter. Zwei Millionen beteiligten sich zwischen 2004 und 2010 an 3.000 Streiks und Arbeitskämpfen, in der größten Arbeiter*innenbewegung im Nahen Osten seit Jahrzehnten.

Die größte kollektive Aktion dieser Bewegung war der Streik von 55.000 Steuerbeamt*innen im Jahr 2007. Nach dreimonatigen Streiks und einem 13-tägigen Sitzprotest vor dem Finanzministerium, an dem sich täglich 5.000 Beschäftigte beteiligten, erreichten sie eine enorme Lohnerhöhung von 325 Prozent. Diese Arbeiter*innen gründeten daraufhin die erste unabhängige Gewerkschaft Ägyptens.

Die Mahalla-Beschäftigten bereiteten sich auf einen erneuten Streik am 6. April 2008 vor, bei dem sie u.a. eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns forderten. Der Streik wurde durch einen massiven Polizeieinsatz in der Fabrik verhindert, aber später in der Nacht kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen 40.000 Einwohner*innen (in einer Stadt mit 500.000 Einwohner*innen) und Sicherheitskräften. Die Polizei schoss scharf, während Plakate von Mubarak heruntergerissen und zerstört wurden, was sich 2011 landesweit wiederholte.

Am nächsten Tag besuchte der Premierminister die Fabrik, hielt eine Massenversammlung ab und kündigte einen 30-tägigen Lohnbonus an. Das Regime schwankte zwischen Repression und Zugeständnissen und versuchte, die Flammen zu löschen, die seinen Fortbestand bedrohten.

Da es keine Arbeiter*innenpartei gab, wurde das politische Vakuum teilweise von den Muslimbrüdern gefüllt. Ägyptens älteste und am besten organisierte Opposition gegen das Regime hatte sich über viele Jahre hinweg Unterstützung verschafft, indem sie soziale Dienste anbot und einige (sehr große) Lücken im Wohlfahrtssystem füllte. Trotz der Illegalität vermied die Führung der Bruderschaft meist Auseinandersetzungen mit der Polizei, indem sie wirtschaftliche Themen oder die direkte Konfrontation mit der Regierung vermied.

Die Preise für Lebensmittel und Getränke stiegen im Jahr bis März 2010 um 21 Prozent. Streiks, Sitzstreiks und Demonstrationen waren an der Tagesordnung. Arbeiterinnen (die inzwischen 40 Prozent der Belegschaft ausmachen) spielten oft eine herausragende Rolle. Mit einer Reihe bedeutender Siege wurden unbezahlte Löhne zurückgewonnen und Lohnerhöhungen durchgesetzt.

Nach der grausamen Ermordung des 28-jährigen Khaled Saeid, der von der Polizei aus einem Internetcafé gezerrt wurde, als er im Juni 2010 einen Post über die Korruption der Polizei veröffentlichte, demonstrierten 5.000 Arbeiter*innen und Jugendliche in Alexandria. Die Brutalität des Staates machte wütend, anstatt einzuschüchtern, wie es jahrzehntelang der Fall war.

Massenproteste

Nach den turbulenten Ereignissen, die mit dem Sturz Ben Alis in Tunesien endeten, riefen mehrere ägyptische Kampagnen zu Demonstrationen am 25. Januar 2011 auf und lösten damit die Ereignisse aus, die zum Sturz Mubaraks führten.

15.000 Menschen demonstrierten in Kairo und etwa 25.000 nahmen an mindestens acht weiteren Protesten teil. Die Proteste lösten sich nicht wie üblich nach wenigen Stunden auf, sondern wurden bis spät in die Nacht fortgesetzt, dem Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern, Schlagstöcken und Gummigeschossen durch die Polizei zum Trotz.

Jeden Tag kamen mehr Menschen zusammen und besetzten Plätze im ganzen Land. Anstatt ein paar hundert mutiger Demonstrierender, die vor den Angriffen der Polizei wegrennen, wie es in der Vergangenheit der Fall war, wehrten sich Tausende heldenhaft gegen die Polizei. Mit dem Rücken zur Wand wurde das Regime noch bösartiger. In den folgenden 18 Tagen wurden mindestens 846 Menschen durch die Polizei getötet und viele weitere verwundet.

Die meisten Angehörigen der Streitkräfte waren Wehrpflichtige aus armen Verhältnissen. Die höheren Offiziere konnten sich nicht darauf verlassen, dass sie auf die Menschenmassen schießen würden. Es wurden Appelle an die Soldaten gerichtet, sich an die Seite der Demonstrierenden gegen die Polizei zu stellen, aber keine klaren Aufforderungen, sich von den höheren Offizieren loszusagen, eine Soldatengewerkschaft zu gründen, um die niedrige Bezahlung zu beenden, Offiziere zu wählen und sich mit den Arbeitenden zusammenzuschließen, um eine neue sozialistische Gesellschaft aufzubauen.

Viele Arbeiter*innen nahmen teil, auch wenn sie meist nicht als organisierte Blöcke erschienen. Es begannen sich Streiks zu entwickeln. Aus Angst, die Bewegung könnte dazu führen, dass die Arbeitenden die Kontrolle über ihre Arbeitsplätze übernehmen, spaltete sich die herrschende Klasse zwischen Mubarak und denjenigen, die befürchteten, dass ihr gesamtes System beiseite gefegt werden würde, wenn sie ihn nicht absetzen.

Die Mittelschicht hatte sich entschlossen gegen sein Regime gewandt und sich mit den Arbeitenden zusammengetan, die begannen, diesen gewaltigen Ereignissen ihren Klassenstempel aufzudrücken. Der furchterregende Staatsapparat konnte diese revolutionäre Situation nicht unterdrücken.

Konkrete Fragen wurden im Verlauf der Revolution aufgeworfen, aber es gab keine politische Organisation, die klar vorschlug, was getan werden musste, um die Grundlage für einen sicheren Sieg zu schaffen.

Weder die Kapitalist*innenklasse noch die Arbeiter*innenklasse hatten die Situation vollständig unter Kontrolle. Die Massen besetzten den Tahrir-Platz. Aber der Staat kontrollierte immer noch Regierungsbüros, die ägyptische Nationalbank, die Börse, die Rundfunkzentrale und andere wichtige Gebäude in der Nähe.

Eine revolutionäre Partei hätte sich für die Übernahme dieser Gebäude eingesetzt und die dringende Bildung von demokratischen Betriebs- und Nachbarschaftsräten gefordert. Diese hätten sich zu einer Regierung aus Vertreter*innen der Arbeiter*innen, Kleinbauern und -bäuerinnen, sowie der Armen zusammenschließen können.

Diese hätte demokratische Rechte garantieren und ein echtes Parlament, eine revolutionäre verfassungsgebende Versammlung, organisieren können, um über die Zukunft Ägyptens zu entscheiden. Eine Mehrheit aus Arbeiter*innen, Kleinbauern und -bäuerinnen und Armen hätte ein demokratisch sozialistisches Programm umsetzen können. Die Verstaatlichung der wichtigsten Wirtschaftsbereiche unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innenklasse, hätte die Ausarbeitung eines sozialistischen Plans ermöglicht, welcher das System geändert hätte.

An Mubaraks Stelle?

Nachdem Mubarak am 11. Februar zum Rücktritt gezwungen worden war, klammerten sich hochrangige Offiziere der Streitkräfte aufgrund des Fehlens einer revolutionären Alternative an die Kontrolle der Regierung. Das CWI verteilte in Ägypten ein Flugblatt, in dem konkrete Schritte zur Sicherung des Sieges der Revolution skizziert wurden.

Bereits im März 2011 schränkte ein Gesetz, die erste einer Reihe gewerkschaftsfeindlicher Maßnahmen, das Streikrecht ein, und im Juni 2011 wurde der Versuch unternommen, Streiks ganz zu verbieten. Aufgrund der Stärke der Arbeiter*innenbewegung konnte dies jedoch nicht durchgesetzt werden. Die Streiks und Demonstrationen gingen weiter.

Diejenigen, die sich am stärksten an den Kämpfen vor 2011 beteiligt hatten, setzten sich intensiv für eine demokratische Verfassung und freie Wahlen ein. Diese demokratischen Forderungen mussten mit einem umfassenderen Programm verknüpft werden, um Probleme wie niedrige Löhne und fehlende öffentliche Dienste anzugehen.

Und für Millionen von Menschen, die als Tagelöhner oder Straßenhändler überlebten, beeinträchtigte die anhaltende Instabilität ihre Möglichkeiten, jeden Tag genug zu verdienen, um ihre Familien zu ernähren. Unzufriedenheit mit der Revolution, die keine wirklichen dauerhaften Veränderungen bewirkt hatte, nahm zu.

Im Jahr 2012 wurde ein neuer Präsident gewählt. Mohamed Morsi von der Muslimbruderschaft gewann, wenn auch nur mit 25 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang (bei einer Wahlbeteiligung von 46 Prozent) und 52 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang (52 Prozent Wahlbeteiligung).

Einer großen Mehrheit wurde schnell klar, dass sich nichts verbessern würde (außer den Berufsaussichten für die Mitglieder der Muslimbruderschaft). Innerhalb von zwölf Monaten sammelte eine Petition zum Sturz von Mubarak 22 Millionen Unterschriften, gefolgt von Demonstrationen mit bis zu 17 Millionen Teilnehmer*innen – sogar mehr als gegen Mubarak.

Aber noch immer gab es keine Arbeiter*innenpartei, die in den Betrieben verwurzelt war, mit einem sozialistischen Programm, das den Bedürfnissen aller Arbeiter*innen, Armen und der Mittelschicht entsprach, und mit einer Führung, die die Aufgaben verstand, die für die Arbeiter*innen erforderlich waren, um die Macht zu übernehmen und die Gesellschaft zu verändern.

Präsident Sisi

Wieder einmal füllten die Streitkräfte das Vakuum. Das Militär verhaftete Morsi im Juli 2013, ernannte einen Interimspräsidenten und ging rasch daran, die Bruderschaft zu zerschlagen. Hunderte ihrer Mitglieder wurden massakriert, während sie öffentliche Plätze besetzten, gebrandmarkt als “Terroristen”.

Der Vorsitzende der Föderation Unabhängiger Gewerkschaften wurde jedoch in der neuen Militärregierung zum Arbeitsminister ernannt, obwohl es innerhalb der Föderation erheblichen Widerstand gab. Damit übernahm er die Verantwortung für ihre Aktionen, bis er entlassen wurde, als General Abdel Fattah el-Sisi im März 2014 Präsident wurde. Und es dauerte nicht lange, bis auch Streikende verhaftet und als “Terroristen” angeklagt wurden. Im Jahr 2015 wurden Streikende im öffentlichen Dienst kriminalisiert. Die demokratischen Rechte wurden noch stärker eingeschränkt als unter Mubarak.

Sisi versuchte, die kränkelnde Wirtschaft mit Megabauprojekten wie der Erweiterung des Suezkanals und dem Bau einer neuen Hauptstadt anzukurbeln. Doch die Covid Pandemie hat die Tourismusbranche schwer getroffen. Abwertungen der Währung und der Ukraine-Krieg ließen die Lebensmittelpreise in die Höhe schnellen. Alle außer den Reichsten sind von der steigenden Inflation betroffen.

Die ägyptische Regierung ist hoch verschuldet und hat vier Hilfskredite des Internationalen Währungsfonds benötigt, die an strenge Bedingungen geknüpft waren. So mussten die Staatsausgaben für wichtige Lebensmittel- und Treibstoffsubventionen gekürzt und viele Unternehmen im Besitz des Militärs privatisiert werden.

Sisis Rückhalt in der Bevölkerung sinkt rapide und seine Unterstützung durch hochrangige Offiziere könnte bedroht sein, wenn sie ihre gut bezahlten Ruhestandsposten in den vom Militär geführten Unternehmen verlieren. Die Präsidentschaftswahlen sollten im Frühjahr 2024 stattfinden, aber Sisi hat sie auf den 10. bis 12. Dezember 2023 vorgezogen, weil er sie hinter sich bringen wollte, bevor er weitere Einschnitte vornimmt.

Über das Ergebnis muss er sich keine Sorgen machen. Ein Kandidat mit zwei Millionen Facebook-Follower*innen und einem Programm, das eine gewisse Abhilfe gegen den sinkenden Lebensstandard zu bieten scheint, wurde an der Kandidatur gehindert – und wird nun wegen Verstoßes gegen das Wahlgesetz angeklagt. Die verbleibenden drei anderen Kandidaten stellen keine ernsthafte Bedrohung für Sisi dar.

Doch fünf Tage nach der Ankündigung der vorgezogenen Wahlen brach in Gaza Krieg aus. Das war sicherlich nicht das, was Sisi wollte. Er hat Mubaraks Vereinbarungen mit der israelischen Regierung fortgesetzt, einschließlich von Gasverkäufen und der Einschränkung des Rafah-Übergangs zwischen Ägypten und Gaza.

Um den wachsenden Druck auf die Regierung zur Solidarität mit Palästina zu mildern, wurde am 20. Oktober offiziell eine Demonstration zur Unterstützung von Sisis Verurteilung des Krieges organisiert. Für die Staatsbediensteten wurden Busse bereitgestellt und auch die staatlichen Gewerkschaften organisierten ihre Mitglieder für die Teilnahme.

Dennoch marschierten Hunderte von Menschen zum Tahrir-Platz und durchbrachen die Polizeiabsperrungen. “Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit” wurde skandiert – der Slogan des Aufstands von 2011 – sowie Parolen für Solidarität mit Palästina. Weitere Demonstrationen wurden nicht zugelassen.

Die Bewegung, die letztlich Mubarak zu Fall brachte, hat gezeigt, dass Repression allein ein Regime, das die Reichen unterstützt, während der Rest leidet, nicht retten kann. Aber eine sozialistische Alternative muss aufgezeigt und aufgebaut werden. Dazu braucht es eine Partei, die in der Arbeiter*innenklasse verankert ist, mit Mitgliedern an allen wichtigen Arbeitsplätzen, Universitäten und in den Wohngebieten.

Alle Voraussetzungen für ein sozialistisches Ägypten und Tunesien waren 2011 gegeben, nur nicht die Existenz einer solchen revolutionären Partei. Wäre es der ägyptischen Arbeiter*innenklasse gelungen, die Macht zu übernehmen, hätte der Rest des Nahen Ostens und Nordafrikas folgen können, einschließlich der israelischen Arbeiter*innenklasse. Der Albtraum, der sich jetzt abspielt, hätte verhindert werden können. Es müssen jetzt Schritte unternommen werden, um solche Parteien aufzubauen, in Vorbereitung auf weitere Aufstände und revolutionäre Möglichkeiten, die sich im Nahen Osten und weltweit entwickeln werden.