Hamas und der palästinensische nationale Befreiungskampf

Foto: Hadi Mohammad (CC: Creative Commons Attribution 4.0 Internationa)

Eine marxistische Analyse

Die israelische Armee verwüstet den Gazastreifen. Ganze Gemeinden werden zerstört und ganze Familien ausgelöscht. Das Ausmaß der Vertreibung der Menschen aus ihren Häusern deutet auf eine ethnische Säuberung hin. Israelische Bomben treffen Krankenhäuser und Schulen, in denen Verzweifelte Schutz suchen. Im Westjordanland haben Razzien, Morde und Repressionen stark zugenommen. Ob der israelische Staat so weit geht und die Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen vertreiben wird, ist immer noch eine offene Frage. Was jedoch nicht in Frage steht, ist die völlige Gleichgültigkeit der politischen und militärischen Führung Israels gegenüber dem von ihr verursachten Leid. Auch die führenden Köpfe der westlichen imperialistischen Mächte, insbesondere der USA und Großbritanniens, erteilen der Welt eine neue und schamlose Lektion in Heuchelei.

von Sean Figg, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI)

Die nationale Unterdrückung des palästinensischen Volkes über mehr als ein Jahrhundert gehört zu den schrecklichsten Verbrechen des Weltkapitalismus. Der israelische Staat führt seit fünfzehn Jahren einen Krieg des staatlichen Terrors gegen die Bevölkerung von Gaza. Die Folgen der jüngsten Phase sind noch nicht vollständig absehbar. Auf der ganzen Welt hat der Krieg die politische und soziale Polarisierung vertieft. Die Spannungen zwischen den imperialistischen und regionalen Mächten der Welt haben sich verschärft. Überall im Nahen Osten bringt die brennende Wut der Massen über das Leid der Palästinenser*innen ihre Wut über Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption zum Vorschein. Die herrschenden Klassen schauen aus Furcht vor neuen politischen und sozialen Explosionen zu. Für den palästinensischen nationalen Befreiungskampf war das Jahr 2023 ein Wendepunkt. Das Terrain, auf dem er sich in Zukunft entfalten wird, hat sich grundlegend verändert.

Der Vorwand für den jüngsten Angriff des israelischen Staates war der von der Hamas geführte Angriff auf Israel am 7. Oktober. Der Durchbruch der “Sicherheitsbarriere” im Gazastreifen und die Angriffe auf israelische Militärbasen haben das angeblich “unbesiegbare”, hochmoderne israelische Militär als verwundbar dargestellt. Einige werden dies als einen militanten Schlag gegen nationale Unterdrückung bejubeln, insbesondere in der neokolonialen Welt, in der das Erbe kolonialer Unterwerfung und nationaler Unterdrückung noch immer deutlich spürbar ist und wo militärische Interventionen der ehemaligen Kolonialmächte einen andauernden Schatten werfen. Ein Schlag gegen den israelischen Staat kann von einigen als ein Schlag gegen die imperialen Oberherren gesehen werden, die ihn unterstützen und die Welt immer noch zur Verteidigung ihrer Interessen kontrollieren.

Das wahllose Abschlachten von Zivilist*innen, das der von der Hamas geführte Angriff ebenfalls mit sich brachte, wird einige derjenigen schockiert und abgestoßen haben, die ansonsten eine militärische Auseinandersetzung mit dem israelischen Staat befürworten. Für viele kann dies jedoch mit dem Gefühl einhergehen, dass der 7. Oktober, obwohl er schrecklich war, kein “größeres Verbrechen” darstellte, das über den wiederholten Massakern des israelischen Staates an palästinensischen Zivilist*innen stand. Dies kann auch mit dem Gefühl verbunden sein, dass, selbst wenn die Methoden der Hamas “zu weit” gingen, zumindest jemand etwas unternommen hat.

Viele werden jedoch noch Fragen zur “Bilanz” des Anschlags vom 7. Oktober haben. Es kann den Anschein haben, dass er einige wichtige Erfolge erzielt hat. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit richtet sich wieder auf die Notlage der Palästinenser*innen. Die “Normalisierung” der Beziehungen zwischen dem israelischen und dem saudi-arabischen Regime ist zumindest vorläufig gescheitert. Hunderte von palästinensischen Gefangenen wurden im Austausch für die bei dem Anschlag entführten Geiseln freigelassen. Und nach zwei Monaten Kampf ist die Hamas immer noch unbesiegt und fügte der israelischen Armee viele Opfer zu. Aber zu welchem Preis? Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts sind bereits 22.000 Palästinenser getötet worden, noch mehr sind (schwer) verwundet worden und über 80 % der Bevölkerung des Gazastreifens sind vertrieben worden. Welche Bedeutung hat das alles im Rahmen des umfassenderen Kampfes für die nationale Befreiung und Selbstbestimmung der Palästinenser*innen? Die Annäherung an dieses Ziel ist das Kriterium, an dem sich alle Organisationen und ihre Methoden, Ideologien, Programme, Strategien und Taktiken messen lassen müssen. In diesem Artikel wird erläutert, warum der Anschlag vom 7. Oktober kein Schritt nach vorn war.

Permanente Revolution

Marxist*innen erklären, dass die nationale Unterdrückung des palästinensischen Volkes tief mit dem komplexen Geflecht der Klassenbeziehungen des Kapitalismus im Nahen Osten verwoben ist. Die herrschenden kapitalistischen Klassen der Region wehren sich gegen die Vorherrschaft der imperialistischen Mächte über den Weltkapitalismus im Allgemeinen und die Vorherrschaft des US-Imperialismus über ihre Region im Besonderen. Sie sind in einer abhängigen Position innerhalb des globalen kapitalistischen Systems gefangen und schwanken zwischen Unterwerfung unter den Imperialismus und begrenzter Konfrontation mit ihm. Die Kombination aus wirtschaftlicher Unterentwicklung und weitgehender Abhängigkeit von Ölexporten bedeutet, dass die soziale Basis dieser neokolonialen kapitalistischen Klassen schwach ist. Da sie nicht in der Lage sind, eine umfassende wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu bieten, blicken sie mit Angst auf die armen Massen, die ihre Paläste umgeben. Die Massenaufstände des “Arabischen Frühlings” von 2011, die diese Regime herausforderten, haben diese Befürchtungen bestätigt. Diese Regime sind daher nicht in der Lage, den palästinensischen Befreiungskampf konsequent zu unterstützen.

Die israelische herrschende Klasse konnte mit Unterstützung des (westlichen) Imperialismus eine stärkere soziale Basis für ihre Herrschaft schaffen. Sie beaufsichtigte die Entwicklung einer fortschrittlichen High-Tech-Wirtschaft, die es ihr ermöglichte, einen höheren Lebensstandard und einen stärkeren Wohlfahrtsstaat als andere Länder in der Region zu bieten. Diese Errungenschaften für die Bevölkerung sind jedoch in den letzten Jahrzehnten in Gefahr geraten. Dies hat Teile der israelischen herrschenden Klasse dazu veranlasst, sich mehr und mehr auf die “Unsicherheit” der jüdischen Arbeiter*innenklasse zu stützen und ihr anzubieten, sie vor “existenziellen” Bedrohungen zu “schützen”, die sie selbst heraufbeschworen hat, vor allem die nationale Unterdrückung des palästinensischen Volkes. Doch die Massenproteste in Israel in den Monaten vor dem Anschlag vom 7. Oktober haben bestätigt, dass auch die israelische herrschende Klasse ständig einen Balanceakt mit den Massen vollführt und unter ihren eigenen internen Spaltungen leidet.

Dieser prekäre Status quo, der ständig zu zerbrechen droht, hat die nationale Unterdrückung der Palästinenser*innen festgeschrieben. Um also eine echte Befreiung Befreiung und Selbstbestimmung der Palästinenser*innen zu erreichen, müssen die aktuellen Klassenverhältnisse überwunden werden. Damit ist die sozialistische Revolution eine zentrale Frage im nationalen Befreiungskampf der Palästinenser*innen. Denn auf Grundlage von kapitalistischen Verhältnissen kann es keine Lösung geben.

Die Arbeiter*innenklasse ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die in der Lage ist, den Kampf für echte nationale Befreiung und Selbstbestimmung zu gewinnen, weil sie die einzige gesellschaftliche Kraft ist, die die sozialistische Revolution anführen kann. Die Schlüsselrolle der Arbeiter*innen in der Produktion schafft ein Bewusstsein für ihre gemeinsamen Klasseninteressen, das sie dazu veranlasst, den Sozialismus – die demokratische Kontrolle und Planung der Wirtschaft auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums – als den Weg zur Verwirklichung dieser Interessen zu erkennen.

Selbst wenn die Arbeiter*innenklasse eine Minderheit in der Gesellschaft ist, wie es in der neokolonialen Welt immer noch der Fall sein kann, erlaubt ihr der Zusammenhalt und die Einheit, die Massenorganisationen und kollektive Aktionen ermöglichen, die armen Massen zu mobilisieren und hinter sich zu führen. Keine andere Klasse kann diese Rolle in der neokolonialen Welt der imperialistischen Ära und insbesondere im Nahen Osten spielen. Wenn die Arbeiter*innenklasse gegen nationale Unterdrückung vorgeht, wird sie auch gezwungen sein, sich mit der Klassenausbeutung auseinanderzusetzen, unter der sie ebenfalls leidet. Der nationale und der soziale Kampf können miteinander verschmelzen, wenn die Arbeiter*innenklasse für eine Gesellschaft kämpft, die alle ihre Probleme lösen würde. Die sozialistische Revolution wird aus dem Streben der Arbeiter*innenklasse erwachsen, sich von beiden Jochen zu befreien, die sie in Knechtschaft halten. Dies sind die Kerngedanken von Leo Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die in den über hundert Jahren seit ihrer Veröffentlichung immer wieder durch die Realität bestätigt wurde. Der wiederholte Verrat am palästinensischen Volk durch verschiedene Gruppen von feudalen und prokapitalistischen Führungskräften über ein Jahrhundert hinweg ist eine weitere tragische Bestätigung.

Die palästinensische Arbeiter*innenklasse muss sich selbst an die Spitze des Befreiungskampfes stellen, da dies der einzige Weg ist, um das palästinensische Volk dem Ziel der nationalen Befreiung und Selbstbestimmung näher zu bringen. Der von der Hamas angeführte Angriff vom 7. Oktober hat trotz anfänglicher Unterstützung nichts dazu beigetragen, das Verständnis der Arbeiter*innenklasse für ihre zentrale Rolle im Kampf für nationale Befreiung und Selbstbestimmung zu schärfen, noch hat er auf die dringende und grundlegende Aufgabe des Aufbaus unabhängiger Klassenorganisationen hingewiesen. Durch seine brutalen Methoden hat der Anschlag die nationalen und religiösen Spaltungen zwischen der palästinensischen und der israelischen Arbeiter*innenklasse verstärkt. Der Angriff vom 7. Oktober hat daher den palästinensischen Befreiungskampf in keiner Weise vorangebracht. Vielmehr bestätigt er die tiefe Sackgasse, in der sich der Kampf befindet. Diese Sackgasse ist eine Folge der Klassenkräfte, die den nationalen Befreiungskampf geprägt und seine Führung bisher dominiert haben, einschließlich – und das ist entscheidend – des Klassenursprungs und des Klassencharakters der Hamas selbst, aus denen sich ihre Methoden, Ideologie, ihr Programm, ihre Strategie und Taktik ergeben. Diese sind nicht in der Lage, die nationale Befreiung und Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes zu erreichen.

Ursprünge

Die unmittelbaren Wurzeln der Hamas liegen in einer früheren Sackgasse, in die der palästinensische nationale Befreiungskampf in den 1970er Jahren geraten war. Im Jahr 1967 wurden die Armeen Ägyptens, Jordaniens und Syriens von den israelischen Verteidigungskräften besiegt. Das Westjordanland und der Gazastreifen wurden besetzt und Ostjerusalem annektiert. Auch der Versuch, dies in einem neuen Krieg rückgängig zu machen, endete 1973 mit einer Niederlage. Jegliche palästinensische Hoffnung, dass die nationale Befreiung durch eine Niederlage Israels in einem konventionellen Krieg erreicht werden würde, zerschlug sich.

Auch der palästinensische Guerillakampf befand sich trotz großer Popularität in einer Sackgasse. Dieser war 1965 von der Fatah begonnen worden. Bis 1971 hatte Israel 15.000 Kämpfer in Lagern auf der Sinai-Halbinsel gefangen gehalten. Im selben Jahr wurde die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), inzwischen ein Zusammenschluss verschiedener bewaffneter Gruppen, die jedoch von der Fatah dominiert wurden, von dem Regime, das eine Revolution befürchtete, gewaltsam aus ihren jordanischen Stützpunkten vertrieben. Die PLO organisierte sich im Libanon neu, doch der Bürgerkrieg, der 1978 zu einer teilweisen und 1982 zu einer vollständigen israelischen Invasion und einer langfristigen Besetzung des Südens des Landes führte, ließ sie nicht ruhen. Die PLO-Führung und Tausende ihrer verbliebenen Kämpfer zogen sich nach Tunesien zurück, so dass ihre Guerillas keine direkte militärische Front an den Grenzen Israels hatten. Die Vorstellung, dass die nationale Befreiung durch den Guerillakampf erreicht werden könnte, erschien immer utopischer. Obwohl der Guerillakampf der PLO einen ganz anderen Charakter als der bewaffnete Widerstand der Hamas hatte, litt er an derselben grundlegenden Schwäche: Er stützte sich nicht auf die Organisation und Massenmobilisierung der palästinensischen Arbeiter*innenklasse und der armen Massen.

Da keine Organisation in der Lage war, diese Niederlagen zu erklären oder einen überzeugenden Weg aus der Sackgasse des Befreiungskampfes aufzuzeigen, wuchs in einer Schicht die Demoralisierung. Dies wurde durch die wachsende Desillusionierung gegenüber der Fatah und der PLO noch verstärkt, da Korruption immer mehr zu einem Problem wurde. Die PLO wandte sich auch entschiedener der “Unvermeidbarkeit” von Verhandlungen mit Israel zu. Sie schien jedoch zu bereit, grundlegende Kompromisse einzugehen, die das Selbstbestimmungsrecht in einem künftigen palästinensischen Staat einschränken würden. Im Westjordanland und im Gazastreifen wurde das Leben durch die israelische Militärbesatzung dramatisch verändert. Angesichts der scheinbar permanenten nationalen Unterdrückung und der unbefristeten israelischen Militärbesetzung entwickelten sich unweigerlich Gefühle der Hilflosigkeit und Verzweiflung. Trotz der anhaltenden breiten Unterstützung der PLO und der Fatah öffnete sich ein politischer Raum für eine Reaktion gegen die Organisationen der PLO und den säkularen linken panarabischen Nationalismus, der sie leitete. Rückschläge und Niederlagen in nationalen Befreiungskämpfen können selbst innerhalb einer unterdrückten Nation zu Reaktionen führen.

In einer Situation, in der die Gegenwart ein Alptraum war und der Weg zu einem künftigen palästinensischen Staat versperrt schien, konnte die Idee, sich auf die Gewissheiten der Vergangenheit zu stützen, an Boden gewinnen. Nationale Unterdrückung stärkt oft die religiöse Identität, insbesondere wenn der Unterdrücker eine andere Religion hat. Für eine muslimische religiöse Schicht erlaubte dies, diese Stimmung in das Gewand des Islam zu kleiden. “Die Menschen kehrten zu ihrer Religion zurück…”, reflektierte Mahmoud Zahar, einer der Gründer der Hamas, über diese Zeit.

Dies war der Hintergrund für das Erstarken rechtsgerichteter islamistischer politischer Organisationen im Westjordanland und im Gazastreifen. Sie war Teil eines breiteren Trends in der Region. Der säkulare linke panarabische Nationalismus mehrerer führender Staaten, insbesondere Ägyptens unter Nasser, hatte es nicht geschafft, die Bedürfnisse und Bestrebungen der Massen zu erfüllen. Wirtschaftliche und politische Krisen hatten sich entwickelt, weil es diesen Regimen nicht gelungen war, das Großgrundbesitzertum und den Kapitalismus zu stürzen. Die iranische Revolution von 1979, bei der die Führung letztlich an die Kräfte des rechten politischen Islams fiel, verstärkte diesen Trend enorm.

Der Vorläufer der Hamas

1973 gründete “Scheich” Ahmed Yassin in Gaza die al-Mujamma’ al-Islami oder das Islamische Zentrum als Zweig der Muslimbruderschaft, die sich international gegen den säkularen linken panarabischen Nationalismus stellte. Dies war der unmittelbare Vorläufer der Hamas. Die Führung stellte die Mujamma als eine religiöse und soziale Bewegung dar. Sie behauptete, Politik und Konfrontation mit den israelischen Besatzungsmächten abzulehnen. In der Praxis verfolgte die Mujamma-Führung jedoch eine eindeutige politische Agenda. Das Haupthindernis für die Rückkehr des palästinensischen Volkes auf den “wahren Weg des Islam” waren nach Ansicht der Mujamma-Führung die säkularen, linken und “kommunistischen” Kräfte der PLO und die Anziehungskraft, die sie und ihre Ideen vor allem auf die Jugend ausübten. In den 1970er und 1980er Jahren entwickelte sich die Mujamma zu einem Pol, um den sich die organisierte Reaktion in den besetzten Gebieten kristallisierte.

Die Mujamma-Führung machte sich daran, die PLO-Organisationen, die bis zu diesem Zeitpunkt den nationalen Befreiungskampf angeführt hatten, zu untergraben und schließlich zu verdrängen. Dies erforderte die Konsolidierung einer sozialen Basis, die die Mujamma-Führung durch die Einrichtung von Sozial- und Wohlfahrtsprogrammen relativ erfolgreich aufbauen konnte. Dazu gehörten Sportvereine, Waisenhäuser, Kliniken, Stipendienprogramme sowie Sozialleistungen und -pakete. Sie bekämpften auch Kriminalität und Drogen.

Diese Initiativen entstanden jedoch nicht im luftleeren Raum und trugen dazu bei, soziale Bedürfnisse zu befriedigen, die zuvor nicht erfüllt worden waren. Die Organisationen der PLO verfügten über ein eigenes Netz von Sozial- und Wohlfahrtsorganisationen. Auch das UNRWA, das 1949 zur Unterstützung der palästinensischen Flüchtlinge eingerichtet worden war, war sehr aktiv. Die Mujamma-Führung verfolgte eine bewusste Politik zur Verdrängung dieser Organisationen. Mit der israelischen Besatzung wurden die Sozial- und Wohlfahrtsprogramme der PLO-Organisationen in den Untergrund gedrängt. Im Gegensatz dazu gewährten die israelischen Behörden der Mujamma 1978 mit grünem Licht von ganz oben, aus dem Büro des Premierministers, einen “offiziellen Status”, was bedeutete, dass sie offen arbeiten konnte. Dies geschah nicht zufällig, sondern die israelischen Behörden sahen darin eine Möglichkeit, die soziale Basis der PLO zu untergraben.

Die Renovierung und Erweiterung von Moscheen in den besetzten Gebieten, insbesondere in Gaza, spielte ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der Sicherung des Einflusses der Mujamma. Mit finanzieller Unterstützung der Golfdiktaturen verdreifachte sich die Zahl der Moscheen in Gaza von 200 im Jahr 1967 auf 600 im Jahr 1987. Im Westjordanland stieg die Zahl von 400 auf 750. Moscheen waren wichtige soziale Zentren, die weniger unter der Beobachtung der israelischen Besatzungsmacht standen. In ihrem Buch aus dem Jahr 2010 beschreiben die Wissenschaftlerin Beverley Milton-Edwards und der Journalist Stephen Farrell von der New York Times, wie “die Moschee zu dem Ort wurde, an dem Ehen geschlossen, Familienstreitigkeiten geschlichtet und beigelegt, Clan-Konflikte beigelegt, Schüler*innen und Studierende gelernt haben, um ihre Chancen auf gute Prüfungsergebnisse zu verbessern, wo Nachrichten über Arbeitsmöglichkeiten in Israel und im Ausland ausgetauscht wurden, wo Kinder in die Welt der muslimischen Gelehrsamkeit eintauchten und wo ein Gefühl der Sicherheit entstand.” Durch ihre Sozial- und Wohlfahrtsprogramme und ihre führende Position in den Moscheen war die Mujamma-Führung in der Lage, sich auf Teile der Arbeiter*innenklasse und der armen Massen zu stützen, die ihr als soziale Basis für die Verfolgung ihrer politischen Agenda dienten.

Die Mujamma-Führung kämpfte auch um die Kontrolle über die Studentenvereinigungen und die Berufsverbände der Mittelschicht (Rechtsanwälte, Ärzte, Ingenieure usw.) sowie über die Handelskammern. Politische Parteien waren in den besetzten Gebieten verboten, was bedeutete, dass das politische Leben über diese Organisationen ablief. Dadurch erhielten die Wahlen zu wichtigen Führungsgremien eine größere Bedeutung. Sie fungierten als Stellvertreter, um die Unterstützung der verschiedenen politischen Organisationen zu testen. Ein Kampf um die Vorherrschaft an der Islamischen Universität von Gaza sowie an anderen Bildungseinrichtungen war von entscheidender Bedeutung. Bis Anfang der 1980er Jahre war es der Mujamma-Führung gelungen, sieben der dreizehn Mitglieder des Universitätssenats abzusetzen, oft durch Vorladung in die Büros der israelischen Besatzungsbehörde. Nachdem die Islamische Universität von Gaza unter ihre Kontrolle gebracht worden war, wurde sie zu einer wichtigen Rekrutierungsquelle für die Mujamma und später für die Hamas.

Die Mujamma-Führung war bereit, zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele Gewalt anzuwenden. Im Januar 1980 organisierte sie einen Angriff auf die Büros der PLO-nahen Organisation „Roter Halbmond“, die Kliniken betrieb. Ein Augenzeuge, der in Milton-Edwards & Farrell zitiert wird, beschrieb: “Ich hörte Geschrei auf der Straße, also ging ich raus und sah eine große islamistische Demonstration, [Tausende von] Menschen mit Bärten, die ihre Parolen riefen. Am Ende der Demonstration stand ein israelischer Militärjeep, der sich nicht daran störte”. Der ehemalige Präsident der Islamischen Universität von Gaza beschrieb, wie “die Israelis alle schädlichen Aktivitäten der Mujamma gegen die Bevölkerung ignorierten … Überfälle auf Einzelpersonen auf der Straße, Razzien in Häusern von Führern nationalistischer Gruppen … Sie schickten etwa 500 bewaffnete Mujamma-Anhänger zu mir und bedrohten mich … und forderten mich auf, [Gaza] zu verlassen …”. Milton-Edwards & Farrell fassen diese Zeit in Gaza wie folgt zusammen: “Nach dem Freitagsgebet wurden brennende Fackeln in die Höhe gehalten, als Mujamma-Schläger Bibliotheken, Zeitungsbüros, Billardhallen und Bars in Brand setzten. Sie zündeten Kinos und Cafés an, schlossen Schnapsläden und führten Einschüchterungskampagnen in der Gemeinde und auf den Universitätsgeländen durch.”

Der israelische Staat nutzte die Entstehung und das Wachstum des rechten politischen Islam. Vor allem im Kontext des ideologischen Kampfes zwischen Links und Rechts im Kalten Krieg konnte er als Gegengewicht zum links-säkularen Nationalismus der PLO gefördert werden. Im Westjordanland und im Gazastreifen gab es eine konservative gesellschaftliche Elite, zu der die Führung der Mujamma Verbindungen hatte. Diese Elite war ideologisch gegen die säkularen und “modernen” Ideen, die den Befreiungskampf bis dahin dominiert hatten, und wurde durch das Erstarken des rechten politischen Islams in anderen Teilen der Region ermutigt. Der israelische Staat ermutigte und förderte die Mujamma, um den palästinensischen Widerstand gegen die Besatzung zu spalten und zu schwächen und die Idee eines eigenständigen palästinensischen Staates zu untergraben. Aber der israelische Staat hat weder die Mujamma noch im weiteren Sinne die Hamas gegründet.

Die soziale Basis der Hamas

In den 1970er Jahren wurde das Hochschulwesen in den besetzten palästinensischen Gebieten erheblich ausgeweitet und die Zahl der Stipendien für Universitäten in anderen Teilen der Region erhöht. In einer Studie von 2007 befragte der amerikanische Wissenschaftler Loren D. Lybarger Hamas-Aktivisten zu ihrem sozialen Hintergrund. Besonders hervorstechend waren die Nachkommen von Landbesitzerfamilien, die nach 1948 vertrieben wurden, und die Kinder der Mittelschicht, vor allem aus dem Westjordanland, die seit der israelischen Besetzung 1967 unter neuem Druck standen. Der erweiterte Zugang zur Bildung für Jugendliche aus diesem Milieu weckte Erwartungen auf wirtschaftlichen Aufstieg und soziale Mobilität. Die militärische Besetzung und die begrenzte wirtschaftliche Entwicklung in den besetzten Gebieten schränkten die Möglichkeiten jedoch stark ein. Viele qualifizierte Ärzte, Ingenieure und andere Fachleute konnten sich und ihre Familien nur durch ungelernte Arbeit in Israel ernähren und schlossen sich aus Unmut den Armeen von Tagelöhnern an, die Israel zu dieser Zeit zuließ, was ihre Erwartungen zunichte machte.

Die relativ sicheren Arbeitsplätze in der Bürokratie des UNRWA und die Sozial- und Wohlfahrtsprogramme der PLO konnten für einige eine Aufstiegsmöglichkeit bieten. Aber die politische Zugehörigkeit – mit anderen Worten die Gönnerschaft – war entscheidend für den Zugang zu diesen Stellen. Als die Mujamma-Führung ihre eigenen Sozial-, Wohlfahrts- und Moscheeausbauprogramme einführte, konnte sie auch als Vehikel für die Bestrebungen dieser sozialen Schicht dienen. Diese Programme wurden von einer jüngeren Generation selbständiger Fachleute geleitet. Der Ausbau der Moscheen bedeutete eine Zunahme der Möglichkeiten, in geistlichen Positionen zu arbeiten, die mit sozialem Status und Autorität verbunden waren. Milton-Edwards und Farrell schreiben, dass “… die Führungskräfte der Mujamma der Inbegriff von Laienpredigern waren, denen die theologische Ausbildung an den weltberühmten muslimischen Seminaren weitgehend fehlte…”. Die politische Kontrolle über die Bildungseinrichtungen und Berufsverbände, um die die Mujamma-Führung kämpfte, eröffnete ihr auch den Zugang zu relativ sicheren und privilegierten Verwaltungsposten in ihrer Bürokratie.

Diese soziale Schicht bildete das Rückgrat der Führung, der mittleren Kader und der aktiven Mitglieder der Mujamma. Ihr Klassenbewusstsein und ihre Klassenbestrebungen sollten die Bewegung prägen. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt als Vermittler zwischen den palästinensischen Massen und den äußerst begrenzten Ressourcen der Gesellschaft. Dies erhob diese Schicht jedoch über die Arbeiter*innenklasse und die armen Massen. Marxist*innen würden sie als kleinbürgerliche Schicht bezeichnen, wenn auch eine, die im Schmelztiegel der nationalen Unterdrückung geschmiedet und durch militärische Besatzung und Krieg geprägt wurde. Die Mujamma konnte natürlich nicht jeden Einzelnen zufrieden stellen. Aber die Vorstellung, dass die Mitgliedschaft eines Tages die Tür zum sozialen Aufstieg öffnen würde, konnte sich allmählich entwickeln und dazu beitragen, die Bewegung weiter aufzubauen und eine soziale Basis für den rechten politischen Islam zu konsolidieren. Diese relativen Privilegien, so begrenzt sie auch waren, prägten das Verhältnis dieses Kleinbürgertums zur Arbeiter*innenklasse und zu den armen Massen.

Klasse und nationale Unterdrückung

Keine Klasse in der palästinensischen Gesellschaft hat eine “normale” Entwicklung durchlaufen oder kann eine solche durchlaufen. Unter Bedingungen extremer nationaler Unterdrückung, militärischer Besatzung und Krieg kann der Klassenkampf teilweise unterdrückt werden. Aber die Widersprüche zwischen den Klassen, in die die palästinensische Gesellschaft letztlich gespalten ist, werden nicht beseitigt und bleiben entscheidend für die Gestaltung der Gesellschaft und ihrer Entwicklung.

Vor 1948 war die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung bäuerlich. Als ihr Land beschlagnahmt wurde, um Israel zu gründen, wurden sie vertrieben. Die meisten wurden von der UNRWA als “registrierte Flüchtlinge” in den ständigen Flüchtlingslagern im Westjordanland, im Gazastreifen und in den Nachbarländern untergebracht. Selbst bis zum Vorabend des israelischen Terrorkriegs gegen Gaza in 2023 waren zwei Drittel der Bevölkerung des Gazastreifens registrierte Flüchtlinge, die in acht von der UNRWA betriebenen Lagern lebten. Die Arbeitslosigkeit im Gazastreifen lag bei 45 %, und die Bewohner*innen waren in hohem Maße von Sozialhilfe und Unterstützung abhängig.

Die Einstellung dieser sozialen Schicht hat sich im Laufe der Zeit und über die Generationen hinweg verändert. In den ersten Jahrzehnten nach der Nakba war das “Recht auf Rückkehr” eng mit dem Wunsch verbunden, in die Dörfer zurückzukehren und die kleinbäuerliche Landwirtschaft wieder aufzunehmen. Trotz des Verlusts landwirtschaftlicher Fertigkeiten im Laufe der Generationen ist dieses Bestreben nicht völlig verschwunden. Der bäuerliche Widerstand gegen den britischen Kolonialismus und die jüdische Einwanderung in den 1920er, 30er und 40er Jahren nahm die Form von bewaffneten Banden oder Fedaja an, die den Feind in einer primitiven Version des Guerillakriegs überfielen. In einem Volk, dem die Erfahrung und das Beispiel einer Massenorganisation der Arbeiter*innenklasse und ihre Methoden der Massenmobilisierung vorenthalten wurden, konnte die Erinnerung daran als Modell für den Widerstand überleben. Dies wurde von der PLO zur Unterstützung ihres Guerillakampfes und später von der Hamas für ihre Version des bewaffneten Kampfes ausgenutzt. Lybarger identifizierte die “Nachkommen ehemaliger Teilpächter” aus den Flüchtlingslagern, d.h. entklassifizierte Bauern, als den dritten und letzten bedeutenden sozialen Hintergrund der Hamas-Kader.

Die Flüchtlingslager waren jedoch nicht nur eine Müllhalde für die Opfer des Imperialismus. Sie wurden als Reservoir für un- und angelernte Arbeitskräfte genutzt, je nach den wechselnden Anforderungen der lokalen, israelischen, regionalen und weltweiten Wirtschaft. Dadurch hat sich die Einstellung, insbesondere der jüngeren Generationen, in Richtung der Erwartung eines Lebens durch Lohnarbeit und in Richtung der Organisations- und Kampfmethoden der Arbeiter*innenklasse verschoben. Es gibt eine kleine, aber wichtige Arbeiter*innenklasse. Bei einer palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und im Gazastreifen von knapp 5,5 Millionen Menschen gibt es 1,1 Millionen Lohnarbeiter*innen. In den Monaten vor dem Krieg von 2023 gehörten dazu 150.000, die in Israel oder israelischen Siedlungen arbeiteten, oft als Bauarbeitende. Obwohl sie eine Minderheit sind, bilden sie die stärkste Klasse in der palästinensischen Gesellschaft und spielen eine entscheidende Rolle im Kampf um nationale Befreiung und Selbstbestimmung. Dies wurde durch ihre Rolle in der ersten Intifada bestätigt, die bis heute die größte Kampfansage an die palästinensische nationale Unterdrückung darstellt. Es gab dabei auch bedeutende Streiks, insbesondere im öffentlichen Sektor.

Erste Intifada

1987 brach die erste Intifada aus, als sich die palästinensische Arbeiter*innenklasse und die armen Massen gegen die nationale Unterdrückung erhoben. Sie breitete sich rasch in den besetzten Gebieten aus und sollte in den nächsten sechs Jahren immer wieder aufflammen. Die jungen Kader und Aktivisten der Mujamma wurden von der militanten Stimmung erfasst, die die gesamte palästinensische Gesellschaft erfasste. Als Reaktion darauf führte Scheich Jassin eine Reorganisation der Mujamma an und gründete die Harakat al-Muqawama al-Islamiyya, die Islamische Widerstandsbewegung oder Hamas (arabische Abkürzung).

Unter dem Banner der Mujamma hatte die kleinbürgerliche soziale Basis des rechten politischen Islam die konservative Reaktion gegen den nationalen Befreiungskampf angeführt. Unter dem Druck der Arbeiter*innenklasse und der armen Massen in der ersten Intifada vollzog diese soziale Schicht eine 180-Grad-Wende. Unter dem Banner der Hamas reihte sie sich nun in die Reihe der Organisationen ein, die an der Spitze des Befreiungskampfes stehen. Derartige Umschwünge liegen im Klassencharakter des Kleinbürgertums begründet. Da ihr das soziale Gewicht fehlt, um die Richtung des Klassenkampfes grundlegend zu beeinflussen, tendiert sie entweder zur arbeitenden oder zur kapitalistischen Klasse, je nachdem, wie das Gleichgewicht der Klassenkräfte ist und wie diese ihre Bedingungen und ihr Bewusstsein prägen. Als sich die palästinensische Arbeiter*innenklasse und die armen Massen in der ersten Intifada bewegten, hinterließen sie tiefe Spuren im instabilen Boden der kleinbürgerlichen sozialen Basis des rechten politischen Islam.

Die Gründer der Hamas waren jedoch nicht in der Lage, den nationalen und sozialen Bestrebungen der Massen einen klaren Klasseninhalt zu geben. Dies spiegelte sich im “Pakt” der Hamas von 1988 wider, in dem sie ihrer Auslegung des Islams einen Nationalismus überstülpte. Artikel 12 besagt:

“DerNationalismus ist aus Sicht der [Hamas] ein fester Bestandteil der religiösen Ideologie. Es gibt keinen höheren Gipfel des Nationalismus und keine tiefere Hingabe als den Dschihad, wenn ein Feind auf muslimischem Territorium landet. Der Kampf gegen den Feind wird zur individuellen Verpflichtung eines jeden muslimischen Mannes und einer jeden muslimischen Frau.”

Obwohl die Hamas immer noch als “einer der Flügel” der Muslimbruderschaft dargestellt wurde, hatte sie einen radikalen ideologischen Bruch mit deren Ideen vollzogen. Diese hielten den Islam im Allgemeinen für unvereinbar mit der “westlichen Idee” des Nationalstaates. Die ideologische Entwicklung des rechten politischen Islams als Reaktion auf die erste Intifada veranschaulicht, wie Religion bestimmte Klassen- und politische Agenden widerspiegelt. Auf dieser neuen ideologischen Grundlage legte die Hamas ein Programm zur nationalen Befreiung vor, das auf der Zerstörung Israels und der Schaffung eines islamischen Staates auf dem Gebiet des “historischen” Palästina, d. h. in den Grenzen des alten britischen Kolonialmandats, beruhte. Die Strategie zur Umsetzung dieses Programms wäre der “Dschihad“, also ein heiliger Krieg. Die Taktiken des Dschihad würde sich im Laufe der Jahre ändern, aber keine würde auf der Organisation und Massenmobilisierung der Arbeiter*innenklasse und der Armen beruhen.

Der neue Nationalismus der Hamas spiegelte die soziale Basis ihrer Führungsschichten wider – es war ein kleinbürgerlicher Nationalismus, der die Klassenwidersprüche innerhalb der palästinensischen Gesellschaft herunterspielte oder leugnete. Er schweigt daher über den Klassencharakter der künftigen befreiten Gesellschaft. Der Hamas-Pakt zum Beispiel sprach nur vage von “gegenseitiger sozialer Verantwortung”, um diesem zentralen Thema auszuweichen. Sie war daher auch nicht in der Lage, die Arbeiter*innenklasse als die einzige gesellschaftliche Kraft zu identifizieren, die in der Lage ist, die nationale Befreiung zu erreichen, und ein Programm für ihre Organisation und Massenmobilisierung vorzulegen.

Rivalen

Die erste Intifada überraschte alle palästinensischen politischen Organisationen. Die PLO-Führung versuchte, ihre Führungsrolle zu behaupten. Ihre historische Autorität ermöglichte es ihr, sich eine führende Position innerhalb der Strukturen der Massenbewegung zu sichern, die zur Führung und Koordinierung des Kampfes entstanden waren. Doch die Hamas-Führung war entschlossen, sie herauszufordern. Die Hamas weigerte sich, die Führung der PLO zu akzeptieren, gab alternative Erklärungen heraus und rief während der gesamten ersten Intifada zu konkurrierenden Streiks und Demonstrationen auf. Anstatt sich mit der Initiative der Massen zu koordinieren, setzte die Hamas ihre “Massen”-Aktionen durch Einschüchterung und Gewalt durch. Milton-Edwards & Farrell beschreiben: “Als Hamas-Aktivisten dem palästinensischen Volk Handels- und Generalstreiks aufzwangen, berichteten viele, dass israelische Soldaten dabei zusahen.” Im Gegensatz dazu setzte die israelische Armee bei Massenaktionen der PLO “… ihre ganze Kraft ein, um Geschäfte zu öffnen, Streiks zu brechen, Streikende zu verhaften und sie auf andere Weise zu bestrafen.”

Es kam zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, da die Hamas die Position der Fatah und der PLO herausforderte. Dies eskalierte nun zu erheblichen bewaffneten Zusammenstößen. Aber die Massen reagierten auf das Klima der Angst und die Spaltung, die die Hamas-Führung immer weiter vorantrieb. Zu verschiedenen Zeitpunkten wurden Schlichtungsausschüsse eingesetzt, um zu versuchen, die Gewalt zu beenden. Die Hamas musste den Anschein erwecken, mit diesen zu kooperieren. In einer Massenbewegung wie der Intifada ist der Drang zur Einheit enorm. Daher mussten die PLO- und die Hamas-Führung vorsichtig gegeneinander vorgehen und sich weitgehend in den Rahmen der Massenmobilisierungen – Streiks, Märsche, “Tage der Wut” usw. – einfügen. – die dem Kampf von den Massen aufgezwungen wurden.

Während der ersten Intifada konnte die Hamas-Führung ihre soziale Basis stärken. Ihre Militanz verschaffte ihr bei einigen Jugendlichen Respekt. Die Tatsache, dass die PLO zu diesem Zeitpunkt eine Verhandlungslösung mit Israel anstrebte, bedeutete, dass sie eine gewisse Bremse für den Kampf darstellte und versuchte, ihn in Grenzen zu halten, um diesen Weg nicht zu versperren. Die PLO erschien konservativ gegenüber der Hamas, die jegliche Zugeständnisse an die Befreiung des gesamten “historischen” Palästina strikt ablehnte. 1991 beschritt die Hamas-Führung schließlich den Jahrzehnte zuvor von den PLO-Organisationen eingeschlagenen Weg und gründete ihren eigenen bewaffneten Flügel, die Qassam-Brigaden. Dies sollte die soziale Basis der Hamas unter den armen Massen in den nächsten Jahrzehnten weiter stärken und als Beschäftigungsquelle für ungelernte Jugendliche dienen, zumal die Arbeitslosigkeit stark anstieg. Im Dezember 2008 waren die Qassam-Brigaden allein im Gazastreifen 20.000 Mann stark.

In den ersten Jahren der ersten Intifada förderten die israelischen Behörden weiterhin den rechtsgerichteten politischen Islam. Dies führte zu Kontakten auf hoher Ebene, da der israelische Staat versuchte, eine “alternative Adresse” zur PLO zu schaffen. Laut Milton-Edwards & Farrell wurden “Hamas-Führer bei hochrangigen Treffen mit Israelis gefilmt”. Doch ein Hamas-Anschlag, bei dem zwei israelische Soldaten getötet wurden, beendete dies, und es kam zu einem ersten größeren Durchgreifen, einschließlich der Verhaftung von Scheich Jassin. Er wurde 2004 vom israelischen Staat ermordet.

Oslo und seine Nachwirkungen

Im Verlauf der ersten Intifada änderte sich die internationale Lage grundlegend. Bis 1991 war der Kapitalismus in Osteuropa und in der Sowjetunion wiederhergestellt worden bzw. befand sich im Aufbau. Vor allem die Sowjetunion hatte die PLO finanziell und militärisch unterstützt und ihr diplomatischen Schutz gewährt, oft über regionale Verbündete. Dies war nun nicht mehr der Fall. Dies bedeutete auch einen weiteren ideologischen Rückschlag für den bereits diskreditierten säkularen Linksnationalismus der PLO. Im Jahr 1990 unterstützte die PLO die Invasion Kuwaits durch das irakische Hussein-Regime. Dies entfremdete die Golfdiktaturen zumindest vorübergehend, so dass die PLO von den Herrschern, die sie zuvor unterstützt hatten, politisch isoliert war und so wenig Geld wie nie zuvor erhielt. Der US-Imperialismus, als damalige Weltsupermacht unangefochten, ergriff die Gelegenheit, den Druck auf den israelischen Staat und die PLO zu erhöhen, um eine “Lösung” für den nationalen Konflikt zu finden und die Intifada zu beenden, die seinen wichtigsten regionalen Verbündeten destabilisierte.

1993 wurden die Osloer Verträge zwischen dem israelischen Staat und der PLO unterzeichnet. Darin erklärte sich die PLO bereit, die Existenz Israels in den Grenzen von vor 1967 anzuerkennen und den bewaffneten Kampf zu beenden. Im Gegenzug würde Israel die militärische Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens beenden und die Einrichtung einer autonomen Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) als ersten Schritt auf dem Weg zu einem unabhängigen palästinensischen Staat zulassen. Andere Fragen sollten jedoch erst in künftigen Verhandlungen geklärt werden. Dazu gehörten das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, der Status der nach 1967 errichteten jüdischen Siedlungen im Westjordanland und im Gazastreifen sowie der Status von Jerusalem. In der Zwischenzeit würde die “Hauptstadt” der Palästinensischen Autonomiebehörde Ramallah im Westjordanland sein.

Die Hamas-Führung lehnte das Oslo-Abkommen in seiner Gesamtheit ab und versuchte, es zum Scheitern zu bringen, indem sie unter anderem ihre erste Kampagne von Selbstmordattentaten gegen israelische Zivilisten startete. Doch die überwältigende Stimmung der palästinensischen Massen nach jahrelangem Kampf und jahrzehntelanger Unterdrückung bestand darin, Arafat und der PLO den Vorzug zu geben und Oslo eine Chance zu geben. Die Einführung der heimlichen und individuellen Taktik der Selbstmordattentate durch die Hamas war ein stillschweigendes Eingeständnis dieser Tatsache. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine Massenunterstützung für den Widerstand gegen Oslo. Folglich sank die Popularität der Hamas in den 1990er Jahren. Bei den ersten Wahlen zur neuen Palästinensischen Autonomiebehörde im Jahr 1996 rief die Hamas zum Boykott auf. Dies wurde mit überwältigender Mehrheit ignoriert. Die Massen waren entschlossen, ihre neuen demokratischen Rechte trotz ihrer Beschränkungen zu nutzen. Der PLO-Dachverband wurde aufgelöst, und seine einzelnen Organisationen traten getrennt an. Jassir Arafat und die Fatah gewannen die Wahlen deutlich.

Im Laufe der 1990er Jahre gerieten die Post-Oslo-Verhandlungen jedoch in eine Sackgasse. Die israelische herrschende Klasse hatte nicht die Absicht, die von den Massen in der ersten Intifada erzwungenen Schritte in Richtung eines unabhängigen palästinensischen Staates zu “vollenden”. Innerhalb der israelischen Gesellschaft wurde ein politischer Rechtsruck zugunsten der Politiker und Parteien gefördert, die gegen Oslo waren. Die erste Amtszeit von Benjamin Netanjahu als Premierminister dauerte von 1996 bis 1999. Die Selbstmordattentate der Hamas trugen wesentlich dazu bei. Milton-Edwards & Farrell befragten einen Hamas-Militärkommandeur der mittleren Ebene. Er bestätigte, dass die Stärkung der israelischen Rechten kein zufälliges Nebenprodukt der Bombenkampagne war, sondern ein bewusstes Ziel: “Die Hamas-Führung dachte, dass die Militäroperationen zugunsten des Likud und gegen die Linke wirken würden.”

Dennoch bedeutete die Schaffung der Palästinensischen Autonomiebehörde eine grundlegende Veränderung des Terrains des Befreiungskampfes. Die Schaffung eines palästinensischen kapitalistischen Quasi-Staats machte die Klassenwidersprüche der palästinensischen Gesellschaft deutlicher sichtbar. Sie trug massiv dazu bei, die Illusionen in der Fatah zu zerstören, da sich eine aufstrebende kapitalistische Elite deutlicher herauskristallisieren konnte. Die Korruption nahm überhand. In Ramallah entstanden neue Villen für die politische Elite der Fatah, die in Limousinen und Geländewagen zu ihren Büros fuhr. Klientelnetzwerke wuchsen und wurden durch die Kontrolle der Fatah über den Zugang zu den neuen Stellen in der Bürokratie und den Sicherheitsapparaten der PA gestärkt.

Vor Ort im Westjordanland und im Gazastreifen wuchs die Frustration. Das Leben wurde nicht besser. Die nationale Unterdrückung wurde kaum gelindert, und die erwartete “Friedensdividende” in Form eines steigenden Lebensstandards für die Masse der Bevölkerung blieb aus. Es wurde immer deutlicher, dass der israelische Staat seine Versprechen von Oslo brach. Ein vollständiger militärischer Rückzug fand nicht statt. Die israelischen Siedlungen blieben bestehen und wurden nach einer kurzen Unterbrechung wieder weiter ausgebaut. Demütigende und strafende Razzien wurden fortgesetzt. Der erste Zaun um den Gazastreifen wurde errichtet. Das Einverständnis der Fatah, den bewaffneten Kampf einzustellen, anscheinend ohne Gegenleistung, wurde als Entwaffnung des Volkes angesichts der anhaltenden nationalen Unterdrückung angesehen.

Schlimmer noch, die von der Fatah geführte PA war nun für die innere Sicherheit verantwortlich. Der israelische Staat und der US-Imperialismus übten unerbittlichen Druck auf die von der Fatah geführte PA aus, als “ausgelagerter Polizist” zu agieren. Zwischen den neuen Sicherheitsdiensten der Palästinensischen Autonomiebehörde und der amerikanischen CIA und dem israelischen Shin-Bet wurden enge Verbindungen geknüpft. Die aus Guerillakämpfern hervorgegangenen Polizisten spielten nun eine Rolle bei der Unterdrückung palästinensischer Gruppen wie der Hamas, die den bewaffneten Kampf fortsetzten. Sie unterdrückten aber auch Proteste gegen die anhaltende nationale Unterdrückung, die von den Massen selbst ausgingen. Der Verrat durch die Organisation, die jahrzehntelang als Anführerin des nationalen Befreiungskampfes anerkannt war, hat in der palästinensischen Gesellschaft ein großes politisches Vakuum hinterlassen.

Zweite Intifada & Gaza

Im Jahr 2000 brach eine zweite Intifada aus, als die Frustration über die gebrochenen Versprechen von Oslo zunahm. Sie entwickelte jedoch einen anderen Charakter als die Massenproteste der ersten Intifada. Neben der Infrastruktur der israelischen Besatzung waren nun auch die Einrichtungen der Palästinensischen Autonomiebehörde Ziel der Wut der Massen, als Polizeistationen und Gerichte angegriffen wurden. Eine neue Welle der israelischen staatlichen Repression wurde ausgelöst. Die Hamas begann eine neue Welle von Selbstmordattentaten gegen israelische Zivilist*innen. Auch andere bewaffnete Gruppen, darunter die Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden der Fatah, nahmen den bewaffneten Kampf wieder auf. Trotz der Bekanntheit und Berühmtheit der Selbstmordattentate der Hamas konzentrierte sich der israelische Staat weiterhin auf die Fatah, die PLO und die Palästinensische Autonomiebehörde. Die zweite Intifada wurde genutzt, um die Fatah-Führung und insbesondere Jassir Arafat zu isolieren und zu unterwerfen. Er starb im Jahr 2004.

Bis 2005 war die zweite Intifada erloschen. Der bewaffnete Kampf, der von Gruppen und Einzelpersonen auf undemokratische Weise geführt wurde, insbesondere Selbstmordattentate, konnte die Sackgasse des nationalen Befreiungskampfes nicht durchbrechen. Vielmehr vertiefte er sie, indem er die Massenmobilisierung, die sich zu Beginn der zweiten Intifada zu entwickeln begonnen hatte, durchkreuzte. In Ermangelung dessen und vor dem Hintergrund des klaffenden politischen Vakuums, das nun herrschte, gab es jedoch eine gewisse Unterstützung der Bevölkerung für die Bombenkampagne der Hamas.

Im August 2005 beschloss der israelische Staat den Rückzug aus dem Gazastreifen, einschließlich der Evakuierung der dortigen 8.000 Siedler. Die Hamas-Führung konnte dies als einen Sieg für ihre Taktik darstellen. Die Realität, d. h. die Faktoren, die für die Entscheidung des israelischen Staates ausschlaggebend waren, waren jedoch viel komplizierter. Dennoch wurden Siegeskundgebungen organisiert. Auf Spruchbändern der Hamas in Gaza-Stadt war zu lesen: “Jerusalem und Westjordanland nach Gaza”.

Im Jahr 2005 boykottierte die Hamas erneut die Präsidentschaftswahlen, bei denen Mahmoud Abbas von der Fatah zum Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde gewählt wurde. Doch eine große Debatte über die Wahltaktik war bereits im Gange. Es wurde beschlossen, bei den Kommunalwahlen 2005 Kandidaten aufzustellen. Die Hamas gewann die Kontrolle über 48 Gemeinden gegenüber 56 Gemeinden der Fatah. Bei den Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat (PLC), dem quasi-nationalen Parlament der Palästinensischen Autonomiebehörde, 2006 errang die Hamas mit 74 Sitzen die Mehrheit in der 132 Sitze umfassenden Legislative. Der Anteil der Hamas an den nationalen Wahlen war jedoch geringer. Sie erhielt 44 % der Stimmen, kam aber auf 56 % der Sitze. Interne Rivalitäten innerhalb der Fatah hatten dazu geführt, dass zwei Kandidatenlisten aufgestellt wurden – eine offizielle Liste und eine “unabhängige” Liste. Dies führte zu einer Spaltung der Fatah-Stimmen. Die offizielle Fatah-Liste erhielt zwar 41 % der Stimmen, kam aber nur auf 36 % der Sitze.

Meinungsumfragen, die vor den Wahlen 1996 durchgeführt wurden, sahen die Unterstützung für die Hamas bei nur etwa 10 % und das “Vertrauen” in Scheich Jassin bei nur 3 %. Die Wahlen 2005 und 2006 bedeuteten daher einen Durchbruch in der Unterstützung für die Hamas. Doch dieser Durchbruch war nur sehr bedingt möglich. Die palästinensischen Massen waren weit davon entfernt, der Hamas die Unterstützung zu geben, die Arafat und die Fatah in den 1990er Jahren genossen hatten.

Bei den Wahlen zum PLC 2006 trat die Hamas nicht unter ihrem eigenen Namen an, sondern unter dem breiteren Banner von “Wandel und Reform”. Unter den Kandidaten befanden sich sowohl bekannte Gesichter aus den Sozial- und Wohlfahrtsprogrammen der Hamas als auch Nicht-Hamas-Kandidaten aus demselben Milieu. Das Programm von „Wandel und Reform“ konzentrierte sich auf die Korruption der Fatah. Ihre Kandidaten präsentierten sich als unbestechlich und fromm und rühmten sich ihrer guten sozialen Arbeit. Die Position der Hamas zum nationalen Befreiungskampf und im Grunde ihr Fehlen eines Weges nach vorn wurden bewusst in den Hintergrund gestellt.

Das Ausmaß, in dem das Votum für „Wandel und die Reformen“ ein Votum gegen die Korruption und die Klientelpolitik der Fatah war sowie ihr Versagen bei der Verbesserung des Lebensstandards und ihren Verrat am Befreiungskampf, ist entscheidend für die Erklärung – und Bewertung – des Erfolgs der Hamas. Ein Lehrer begründete seine Wahl für die Hamas mit folgenden Worten über die Fatah-Herrschaft: “Selbst die Benzingutscheine, Telefonkarten und Lebensmittelhilfen, die als Spenden an arme Familien geschickt wurden, haben diese nie erreicht. Es ging alles an Clan- und Familienmitglieder. Das hat nichts mit Religion zu tun. [Bei der Wahl für die Hamas] geht es um unsere täglichen Bedürfnisse”. Ein anderer Hamas-Wähler kommentierte: “Die Leute haben nicht unbedingt für die Hamas gestimmt, weil sie an die Ideologie oder an die Ansichten der Hamas glaubten. Viele von ihnen haben für die Hamas gestimmt … als ein Racheakt an die Fatah. Aufgrund all dem, was sie erlitten haben, Korruption, Missbrauch, all diese Jahre. Sie wollten der Fatah also eine Lektion erteilen: Seht her, wir werden für die Hamas stimmen.” (Zitiert in Milton-Edwards & Farrel, 2010.)

Der israelische Staat und der westliche Imperialismus weigerten sich, das Wahlergebnis von 2006 zu akzeptieren. Unter ihrem Druck lehnte die Fatah das Angebot der Hamas zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit ab. Die Fatah verweigerte die Finanzierung des Gazastreifens, wo die Hamas am stärksten vertreten war, und wies ihre Anhänger*innen in den Sicherheitskräften und der Bürokratie der PA an, nicht zu kooperieren. In den folgenden Monaten scheiterten die Versuche, eine politische Verhandlungslösung zu finden, vor allem an der Unnachgiebigkeit der Fatah, aber auch an der vollen Rückendeckung des israelischen Staates und des westlichen Imperialismus. Sie waren entschlossen, das Wahlergebnis von 2006 zu kippen. Damit wurde bestätigt, dass selbst die den Palästinenser*innen in Oslo zugestandene partielle Selbstbestimmung auf der Grundlage des Kapitalismus eine Farce war.

Am 11. Juni 2007 begann die Hamas eine fünftägige bewaffnete Operation, um ihre Basis in Gaza zu sichern. Fatah-Aktivisten wurden vertrieben und die Sicherheitskräfte und die Bürokratie der Palästinensischen Autonomiebehörde wurden gesäubert. Die Bewohner*innen des Gazastreifens gingen auf die Straße und forderten ein Ende der Gewalt, ähnlich wie der Widerstand gegen die internen Kämpfe in der ersten Intifada. Als Reaktion auf die Flucht der Fatah verhängte der israelische Staat eine fast vollständige Blockade des Gazastreifens, die von Ägypten an der Südgrenze unterstützt wird und bis heute andauert. Innerhalb eines Jahres führte Israel seinen ersten Staatsterrorkrieg gegen das nun isolierte, von der Hamas geführte Staatsgebilde. In den Jahren 2012, 2014 und 2021 wurden weitere Staatsterrorkriege geführt.

Hamas an der Macht

Die Belagerung verstärkte die Abhängigkeit der palästinensischen Bevölkerung von den von der Hamas verwalteten Sozial- und Wohlfahrtsprogrammen, auf die die Hamas nun ein nahezu vollständiges Monopol ausübte, massiv. Die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen der Blockade ruinierten den Lebensunterhalt und erhöhten die Arbeitslosigkeit, was die Abhängigkeit von den Arbeitsplätzen, die die Hamas über ihren bewaffneten Flügel, sowie in der Bürokratie und den Diensten der Palästinensischen Autonomiebehörde im Gazastreifen, die nun unter ihrer alleinigen Kontrolle stand, noch verstärkte. Wie zuvor die Fatah konnte die Hamas durch die Kontrolle über die Palästinensische Autonomiebehörde, auch wenn sie auf den Gazastreifen beschränkt war, ihre soziale Basis weiter festigen.

Trotz der extremen Einschränkungen ihrer Fähigkeit, “normal” zu regieren, zeigen die Methoden der Hamas ein Verständnis für ihre schwache politische Position. Die Abspaltung des Gazastreifens vom Westjordanland ist bei der Arbeiter*innenklasse und den armen Bevölkerungsschichten zutiefst unpopulär. Sie wird weithin als katastrophaler Schritt weg von einem unabhängigen Staat angesehen. Unter dem Druck dieser Stimmung hat die Hamas sorgfältig darauf geachtet, nicht als verantwortlich für einen dauerhaften politischen Bruch zwischen den palästinensischen Gebieten angesehen zu werden.

Die Hamas hat den Rahmen der Palästinensischen Behörde beibehalten und regiert innerhalb der Grenzen ihrer Verfassung, des palästinensischen Grundgesetzes. Die Hamas behauptet, den demokratischen Rahmen zu unterstützen, und hat die gesetzgebende Versammlung des Gazastreifens am Laufen gehalten, obwohl die Hamas-Abgeordneten in Abwesenheit der Fatah-Abgeordneten allein sitzen. Zuweilen hat die Hamas ihre Sicherheit garantiert, wenn sie bereit sind, zurückzukehren. Seit 2006 haben im Gazastreifen jedoch keine Wahlen mehr stattgefunden. Im Westjordanland haben nur Kommunalwahlen stattgefunden.

Im Allgemeinen hat die Hamas-Führung nicht versucht, ihre konservative soziale Agenda durch gesetzliche Änderungen umzusetzen, beispielsweise durch die Einführung einer Version der “Scharia” oder des islamischen Rechts. Dies würde von einer großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden. Dennoch wird Druck auf die Bevölkerung ausgeübt, damit sie sich an ihre soziale Agenda hält.

Bei den Wahlen 2006 warb die Hamas im Wahlkampf um die Unterstützung von Frauen und veranstaltete unter anderem Kundgebungen nur für Frauen – mit einigem Erfolg. Die Sozial- und Wohlfahrtsprogramme der Hamas waren wichtig, um eine gewisse Unterstützung unter den am meisten unterdrückten und geknechteten Frauen zu gewinnen. Eine Frauenrechtlerin, die von Milton-Edwards & Farrell zitiert wird, beklagte: “Ich kann es nicht wagen, mit Frauen über den Hijab zu sprechen, wenn sie keine Milch für ihre Kinder finden, und ich kann nicht mit Frauen über Freiheitsfragen sprechen, wenn sie ihre Kinder nicht ernähren können. Das wäre so, als ob wir über Luxusgüter sprechen würden. Wenn es wirtschaftliche Stabilität gibt, können wir diese Themen behandeln”. Dies bestätigt, wie wichtig es ist, ein Klassenprogramm zur Bekämpfung der Geschlechterunterdrückung und aller anderen Formen der Unterdrückung aufzustellen.

Die Hamas-Regierung vertritt jedoch keine fortschrittliche Position in Bezug auf Frauenrechte oder LGBT+-Rechte. Das Bildungswesen ist nach Geschlechtern getrennt, und Frauen müssen den Hijab tragen, aber es gibt keine formalen Einschränkungen in der Ausbildung oder im Beruf. Das Gerichtssystem wurde umstrukturiert, um die traditionelle und clanbasierte Schlichtung einiger Streitigkeiten und Straftaten zu stärken. Dies geschah zum Teil aus Not heraus, nachdem die Fatah ihre Anhänger, die das Justizsystem besetzen, einschließlich aller Richter, in den Streik geschickt hatte. Dies hat die konservativen und patriarchalischen Eliten gestärkt, die die Gerichte nutzen, um die soziale Kontrolle über Frauen zu verstärken.

Die Hamas-Regierung hat sich in eine autoritäre Richtung entwickelt. Nach der Spaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde hat die Hamas-Regierung ebenso wie die Fatah im Westjordanland ihre eigenen Polizeisondereinheiten geschaffen, die der direkten Kontrolle der Organisation unterstehen. Mit Anklängen an die “polizeiliche Überwachung” des Kampfes durch die Fatah ging die Hamas-Regierung im ersten Jahr ihres Bestehens dazu über, rivalisierende Milizen zu kontrollieren, indem sie darauf bestand, dass diese sich an ihre Entscheidungen über Raketenbeschuss und Waffenstillstände halten oder mit ihrer Unterdrückung rechnen müssen. Wer mit nicht genehmigten Waffen angetroffen wird, kann hingerichtet werden.

In den Jahren der Hamas-Herrschaft hat es in Gaza mehrere Protestwellen gegen die Hamas gegeben. Keine hat bisher die Ausmaße der ersten Intifada erreicht, aber sie waren auch nicht unbedeutend. Vor allem bei einer neuen Generation von Jugendlichen, die unter der Hamas-Regierung herangewachsen sind, ist die Frustration über die Armut, den Mangel an Möglichkeiten und die Isolation von der Welt enorm. Die Hamas wird als zumindest teilweise verantwortlich für das Leid angesehen. Proteste gab es 2011, 2014, 2019 und erst kürzlich im August 2023. Bei den letzten beiden Protestwellen ging es um den Lebensstandard und um den Slogan “Wir wollen leben”. Die Proteste wurden von der Polizei streng überwacht, manchmal gewaltsam aufgelöst, und die Organisatoren wurden schikaniert und sogar inhaftiert. Die Hamas-Regierung wird nicht zulassen, dass sich eine unabhängige Bewegung der Arbeiter*innenklasse und der Armen oder gar der Jugend herausbildet.

Neue Sackgasse

Das ist der Hintergrund, der erklärt, warum es möglich war, dass sich die brodelnde Wut der palästinensischen Massen auf die nationale Unterdrückung teilweise durch das Prisma der Hamas widerspiegeln konnte. Möglich war dies nur aufgrund des riesigen politischen Vakuums, das durch die Kapitulation der Fatah und der anderen halblinken Organisationen der PLO entstanden ist. Die Politik verabscheut ebenso wie die Natur ein Vakuum, das sich dadurch ausgedehnt hat, weil eine unabhängige politische Organisation der Arbeiter*innenklasse, die ein sozialistisches Programm für den Befreiungskampf vertritt, nicht entstanden ist und den Raum nicht ausfüllen konnte. Diese Umstände sind jedoch völlig unzureichend, um die Führung des nationalen palästinensischen Befreiungskampfes automatisch der Hamas zuzuschreiben.

Der Klassencharakter der Hamas-Führung bedeutet, dass man ihr den palästinensischen Befreiungskampf ebenso wenig anvertrauen kann wie der Fatah-Führung. Die jahrzehntelange Rivalität zwischen ihnen könnte die entscheidenden Faden der Klassenkontinuität verschleiern, doch die Führung des palästinensischen nationalen Befreiungskampfes wurde durchweg vom kleinbürgerlichen Nationalismus dominiert. Dieser hat verschiedene Formen angenommen, die durch das Kräfteverhältnis der Klassen in der palästinensischen Gesellschaft, in der Region und weltweit geprägt sind. Der rechte religiöse Nationalismus der Hamas, einschließlich der Förderung antisemitischer Haltungen gegenüber der israelisch-jüdischen Bevölkerung, war ein reaktionärer Rückschritt gegenüber dem historischen säkularen linken panarabischen Nationalismus der Fatah. Vor allem bis Oslo sind Marxist*innen an die Fatah anders herangegangen als an die Hamas. Dennoch haben beide den gleichen wesentlichen Klassencharakter.

Auch die Fatah ist aus einer kleinbürgerlichen palästinensischen Schicht hervorgegangen. Sie wurde von einer früheren Generation von Studierenden und Berufstätigen gegründet, die in den 1950er Jahren in Ägypten und anderswo in der Region Studentengewerkschaften organisierten. Die Fatah-Führung weigerte sich auch, die Klassenwidersprüche der palästinensischen Gesellschaft anzuerkennen und wich damit der Frage nach dem Klassencharakter eines künftigen unabhängigen Palästinas aus. Im Gründungsdokument der Fatah ist stattdessen vage von einem unabhängigen palästinensischen Staat die Rede, in dem die “Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beendet wird”. Die Fatah-Führung schlägt einen “säkularen” Staat und die Hamas-Führung einen “islamischen” Staat vor. Beide wären jedoch kapitalistische Staaten. Die Fatah- und die Hamas-Führung haben dies durch ihre Unterstützung des palästinensischen Grundgesetzes aus Oslo bestätigt, in dem es ausdrücklich heißt, dass “das Wirtschaftssystem in Palästina auf den Grundsätzen der freien Marktwirtschaft beruhen soll.”

Die Methode des bewaffneten Kampfes der Fatah-Führung unterscheidet sich von der der Hamas. Aber für beide ist er ein Ersatz für die Organisation und Massenmobilisierung der Arbeiter*innenklasse und der armen Massen. Beide sind misstrauisch gegenüber ihrer unabhängigen Aktivität und versuchen je nach den Umständen, sie zu kontrollieren und zu beeinflussen, gegen sie zu manövrieren oder sie aktiv zu unterdrücken.

Das Fehlen eines Klassenansatzes setzt sich auf regionaler Ebene fort. Die Fatah-Führung manövrierte endlos zwischen den herrschenden kapitalistischen Klassen des Nahen Ostens hin und her und suchte die Unterstützung der einen und dann der anderen. Sie wandte sich wiederholt von der Arbeiterklasse und den armen Massen ab, die unter diesen Regimen litten, als sie sich gegen sie erhoben. Die Hamas-Führung orientiert sich an kapitalistischen Regimen wie das iranische und das katarische und ist von ihnen abhängig. Die Hamas-Führung hat der Massenbewegung gegen das iranische Regime, die 2022 begann, den Rücken gekehrt. Für beide Führungen sind die Klassenwidersprüche in der israelischen Gesellschaft ein geschlossenes Buch.

Die Fatah-Führung, die mit ihrer gesamten Herangehensweise an den Befreiungskampf in eine Sackgasse geraten war, wandte sich schließlich an den Imperialismus, insbesondere an den US-Imperialismus, um von der israelischen herrschenden Klasse eine Verhandlungslösung zu erhalten. Das Ergebnis war Oslo und die Katastrophen, die in den letzten dreißig Jahren über das palästinensische Volk hereingebrochen sind, und bestätigte, dass es auf der Grundlage des Kapitalismus keine Lösung gibt. Doch auch die Hamas-Führung hat sich zunehmend um eine Verhandlungslösung mit dem israelischen Kapitalismus und dem Weltimperialismus bemüht. Bereits 1997 bot die Hamas-Führung eine Hudna an, einen langfristigen Waffenstillstand in ihrem Dschihad gegen die Existenz Israels, wobei sie in der Zwischenzeit einen unabhängigen palästinensischen Staat auf dem bereits in Oslo im Prinzip zugestandenen Gebiet akzeptierte. Nach seinem Wahlsieg 2006 bekräftigte Usama al-Mazini, Mitglied des Dialogausschusses der Hamas, erneut: “Wir akzeptieren einen Staat an der Grenze von 1967, ohne die Legitimität der Besatzung anzuerkennen. Sie können ihren Staat auf dem Gebiet von 1948 haben, aber ich erkenne ihn nicht an…”. Aber das Leben der Arbeiter*innenklasse und der armen Massen würde sich durch dieses Wortspiel nicht grundlegend ändern. Um eine Brücke dafür zu bauen, gab die Hamas 2017 ein neues Dokument mit allgemeinen Grundsätzen und Politiken heraus, in dem sie versuchte, ihre Positionen zu “modernisieren”. Darin wurden “demokratische Grundsätze” wie “freie und faire Wahlen” gelobt, Frauenrechte, Gewerkschaftsrechte usw. befürwortet und der Antisemitismus in ihrem Gründungspakt gestrichen.

Die Hamas-Führung hat wiederholt Versöhnungsgespräche mit der Fatah aufgenommen, die von den regionalen Führungsklassen vermittelt wurden. Sie hat angeboten, die Führung des Gazastreifens aufzugeben und einer Regierung des Nationalen Konsenses beizutreten, wobei sie auch vorschlug, sich – zum ersten Mal – einer reformierten PLO anzuschließen. Die politische Wiedervereinigung des Gazastreifens und des Westjordanlandes ist jedoch ein Gräuel für die ultrarechten Regierungen, die die israelische Politik seit der Machtübernahme durch die Hamas dominieren. Für sie ist die Aufrechterhaltung dieser Teilung von zentraler Bedeutung, um einen unabhängigen palästinensischen Staat zu verhindern. Die israelischen Regierungen haben interveniert, um die Umsetzung von Vereinbarungen zwischen Fatah und Hamas zu blockieren, einschließlich des Zeitplans für ihre Staatsterrorkriege. Auch der westliche Imperialismus hat es vorgezogen, die Fatah weiterhin zu unterstützen. Dies waren die Haupthindernisse, die die Hamas-Führung davon abhielten, der Fatah auf dem Weg der Anpassung an den israelischen Kapitalismus und den Weltimperialismus zu folgen. Die Hamas-Führung scheint vor allem den Wunsch zu haben, eine akzeptierte Fraktion der palästinensischen politischen Elite zu werden, um so ihren Platz in der herrschenden Klasse der Region einzunehmen. Gleichzeitig hat sie jedoch versucht, ihre Unterstützerbasis zu erhalten, indem sie als Anführerin des Widerstands gegen die nationale Unterdrückung angesehen wird. In diesem Widerspruch gefangen, der sie zur Planung des Anschlags vom 7. Oktober veranlasste, sind die Aussichten für die Hamas-Führung heute ungewiss und ändern sich rasch.

Organisation der Klasse

Der kleinbürgerliche Klassencharakter der Hamas-Führung macht sie unfähig, im Sturm der Klassenwidersprüche in der palästinensischen Gesellschaft, in der Region und weltweit einen unabhängigen Anker zu setzen. Unter dem Druck von mehreren Fronten wird sie in viele Richtungen gedrängt und gezogen. Dies ist die materielle Grundlage für den widersprüchlichen Charakter der Hamas – eine reaktionäre innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Agenda neben dem militanten Widerstand gegen nationale Unterdrückung. Doch die Hamas kann den nationalen Bestrebungen der palästinensischen Arbeiter*innenklasse und der armen Massen nur hinterherlaufen. Sie ist nicht in der Lage, das Programm zu verabschieden, das notwendig ist, um sie voranzubringen. Das liegt daran, dass die kleinbürgerliche Hamas-Führung, die sich auf ihre rechtsgerichtete religiös-nationalistische Ideologie stützt, nicht nur nicht in der Lage ist, ein Vehikel für die Führung des Befreiungskampfes durch die Arbeiterklasse zu sein, sondern auch aktiv versucht, diesen zu blockieren.

Der Einfluss des kleinbürgerlichen Nationalismus auf den palästinensischen nationalen Befreiungskampf muss gebrochen werden. Dazu muss sich die Arbeiter*innenklasse an die Spitze ihres eigenen Befreiungskampfes stellen und den armen Massen den Weg weisen. Dazu müssen neue Klassengrundlagen für den Befreiungskampf geschaffen werden. Unabhängige Organisationen der Arbeiter*innenklasse – Gewerkschaften, Gemeinde- und Jugendorganisationen – müssen weiter aufgebaut und durch eine Partei vereinigt werden. Diese müssen sich auf die Methoden der Massenmobilisierung gegen nationale Unterdrückung stützen, unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiter*innenklasse und der armen Massen. Die notwendigen Elemente des bewaffneten Kampfes gegen die israelische Staatsaggression müssen ergänzend dazu organisiert werden. Der Schwanz muss aufhören, mit dem Hund zu wedeln.

Es müssen klare Klassengrenzen gezogen werden. Die herrschenden kapitalistischen Klassen der Region und die imperialistischen Mächte sind alle Feinde einer echten nationalen Befreiung und Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes. Der Befreiungskampf muss sich die Unterstützung der Arbeiter*innenklasse suchen. Die Arbeiter*innenklasse in der gesamten Nahostregion, auch in Israel, spielt dabei eine Schlüsselrolle. Und auch die Arbeiter*innenklasse in den imperialistischen Ländern muss sie unterstützen. Nur durch vereinten Klassenkampf und Solidarität können die kapitalistischen Klassengrundlagen der palästinensischen nationalen Unterdrückung zerstört werden.

Eine klare Klassenpolitik gegenüber der israelischen Gesellschaft ist unerlässlich. Der israelischen herrschenden Klasse muss die Möglichkeit genommen werden, sich bei ihrer Unterdrückung der Palästinenser*innen auf die israelische Arbeiter*innenklasse zu stützen. Um dies zu ermöglichen, muss die israelische Arbeiter*innenklasse auch ihre eigenen unabhängigen Klassenorganisationen aufbauen. Die Arbeiter*innenklasse, die den palästinensischen Befreiungskampf im Westjordanland und im Gazastreifen anführt, müsste die Klasseneinheit über die nationale Kluft hinweg fördern. Während sie das Recht auf Selbstbestimmung für das palästinensische Volk fordert, muss sie gleichzeitig das Recht der israelischen Jud*innen auf Selbstbestimmung unterstützen, bis hin zu einem eigenen Staat, solange sie es für notwendig halten. Die einzige Klassenbasis, auf der zwei Staaten friedlich koexistieren könnten, in denen die Völker beider Staaten wirkliche Selbstbestimmung genießen und die Rechte von Minderheiten garantiert werden, ist die Grundlage von Arbeiter*innen- und Armenregierungen, die die sozialistische Transformation der Gesellschaft einleiten und die Notwendigkeit einer sozialistischen Konföderation aufzeigen. Dies würde eine demokratische Wirtschaftsplanung in den Bereichen ermöglichen, in denen man sich einig ist, dass sie für beide Seiten von Nutzen ist. Auf dieser Grundlage wäre es den Arbeiter*innenorganisationen möglich, eine demokratische Einigung darüber zu erzielen, wo die Grenzen liegen und welchen Charakter sie haben sollen.

Die Massenorganisationen der arbeitenden Klasse, die notwendig sind, um den nationalen Befreiungskampf der Palästinenser*innen politisch aufzurüsten und voranzutreiben, gibt es noch nicht. Wie sie entstehen, sich entwickeln und stärken können, sind die wichtigsten taktischen Fragen, die sich heute stellen. Dazu gehört auch, wie sie sich zu den bestehenden palästinensischen Organisationen, einschließlich der Hamas, verhalten. Jede Form von politischer “Einheitsfront” wäre ein fataler Fehler. Es wird jedoch von entscheidender Bedeutung sein, die Unterstützung vor allem der Jugend und aller Arbeiter*innen zu gewinnen, die sich derzeit an die Hamas wenden, einschließlich des Kampfes an ihrer Seite in konkreten Fragen, in denen Übereinstimmung besteht. Diese Fragen können erst dann in vollem Umfang angegangen werden, wenn der gegenwärtige Angriff des israelischen Staates endet und das neue Terrain des Befreiungskampfes klarer wird.

Die israelische herrschende Klasse wird erneut feststellen, dass es unmöglich ist, die nationalen Bestrebungen der Palästinenser*innen militärisch zu zerstören. Eine neue Generation von Palästinenser*innenn wird heranwachsen, die den Staffelstab des Kampfes übernehmen wird, wo immer er fällt. In der gesamten Region wird man versuchen zu verstehen, wie die Schwelle zur Katastrophe erneut überschritten werden konnte. Die brutalen neuen Erfahrungen werden dazu führen, dass alte Annahmen und Gewissheiten in Frage gestellt werden. Die Geschichte des Befreiungskampfes bis zu diesem Punkt wird neu untersucht werden. Sie müssen dabei die Ideen des Marxismus entdecken und für eine Klassenlösung der nationalen Unterdrückung gewonnen werden, was den Kampf für ein sozialistisches Palästina und Israel, in einem sozialistischen Nahen Osten und einer sozialistischen Welt bedeutet.