Naher Osten vor der Eskalation?

Iranische Luftschläge gegen Israel und der Krieg gegen Gaza

Der iranische Vergeltungsangriff auf Israel leitet eine neue, gefährlichere Phase des Gaza-Konflikts ein, der sich zu einem umfassenden regionalen Krieg im Nahen Osten ausweitet, was globale Auswirkungen hätte. In Wirklichkeit gibt es bereits einige Merkmale eines regionalen Krieg, wenn auch noch nicht zwischen Staaten.

Von Robert Bechert, Internationales Sekretariat des CWI (16.4.2024)

Für viele Israelis wird der Raketen- und Drohnenangriff eine Bestätigung dafür sein, dass der Iran der ernsthafteste Gegner ist. Unter Palästinenser*innen und andere Menschen im Nahen Osten wird es begrüßt werden, dass nach sechs Monaten der blutigen Zerstörung des Gazastreifens endlich jemand zurückschlägt.

Dieser Schritt markiert eine Abkehr von Irans asymmetrischem Konflikt mit Israel, der oft über Verbündete ausgetragen wurde, hin zu einer direkten Konfrontation. Ungeachtet der iranischen Behauptung, Washington vorab über den Angriff informiert zu haben, und der Behauptung, das Ziel seien nur israelische Einrichtungen gewesen, die in die Zerstörung des iranischen Konsulats in Damaskus am 1. April verwickelt waren, ist dies eine wichtige Entwicklung.

Sie widerlegt die Vorstellung, dass Israel zu stark sei, um angegriffen zu werden. Das iranische Regime sandte eine Botschaft an die israelische Führung, dass es bereit ist, auf künftige Angriffe direkt zu reagieren. Darüber hinaus haben einige Militärkommentatoren erklärt, dass ohne die Vorwarnung, die Israel erhalten hat, mehr der Geschosse ihre Ziele getroffen hätten.

Das israelische Regime hat erklärt, dass es reagieren werde, was höchstwahrscheinlich in irgendeiner Form geschehen wird. Aber es ist noch nicht klar, wie und wann. In dieser Situation stehen die israelischen Machthaber vor einem Dilemma: Wie können sie die Abschreckung wiederherstellen, d.h. die Vorstellung, dass Israel zu stark für einen Angriff ist, ohne einen größeren Krieg zu provozieren? Es gibt in der israelischen herrschenden Klasse offene Spaltungen wegen dieser Frage, was durch die Frage symbolisiert wird, ob „Rache ein Gericht ist, das man am besten kalt serviert”, oder ob man angesichts der sich entwickelnden Krise jetzt handeln müsse.

Die israelischen Falken mögen zuversichtlich sein, dass sie die Unterstützung einiger arabischer Regime haben, denn Jordanien half den iranischen Luftangriff abzuschießen. Aber diese Regime stehen selbst unter dem Druck der Bevölkerung, die Palästinenser*innen zu unterstützen, die im Gazastreifen und im Westjordanland angegriffen werden. Dabei kam es kürzlich zu Demonstrationen in Jordanien und Ägypten. Somit rücken die jüngsten Ereignisse die Aussicht auf einen regionalen Krieg näher.

Die Reaktion vieler Muslim*innen in der ganzen Welt kann auch eine Unterstützung jeglicher Opposition gegen den israelischen Staat sein. Obwohl es unter den Palästinenser*innen eine beträchtliche christliche Minderheit gibt, wird dieser Konflikt oft in religiösen Begriffen gesehen. Dies ist nicht verwunderlich angesichts dessen, dass viele israelische Politiker*innen und Militärs Zitate aus dem Alten Testament verwenden, um sowohl ihre Kriegsführung im Gazastreifen zu rechtfertigen als auch den Anspruch, der in der Gründungserklärung von Netanjahus Likud-Partei enthalten ist, dass es „zwischen dem Meer und dem Jordan (Fluss) nur israelische Souveränität geben wird”.

Pulverfass

Der Nahe Osten ist eine wahre Zunderbüchse, und die westlichen Mächte fürchten vor allem, dass sowohl der wachsende internationale Zorn der Bevölkerung über den Gaza-Krieg als auch eine mögliche Ausweitung des Krieges im Nahen Osten ihren Einfluss und ihre Macht in der Region und darüber hinaus untergraben würden.

In gewisser Weise ähnelt die heutige Lage im Nahen Osten der Lage vor dem Ersten Weltkrieg, als sich die Spannungen zwischen den europäischen Mächten verschärften und die Kriegsgefahr immer konkreter wurde. Die Wahrscheinlichkeit eines Krieges wurde immer deutlicher, und die Frage war nicht „ob”, sondern „wann” und „wo”. Im Jahr 1912 sah es eine Zeit lang so aus, als könnte ein europäischer Krieg ausbrechen. Doch während dieser 1912 nicht stattfand, begann zwei Jahre später der Erste Weltkrieg.

Die relative Schwächung der Position der USA in der Welt hat dazu geführt, dass sie von anderen Mächten herausgefordert werden und nicht in der Lage sind, ihre Wünsche durchzusetzen, wie es in der unmittelbaren Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Fall war. Diese Herausforderung ist auf den Aufstieg Chinas zurückzuführen, aber auch auf die Bereitschaft anderer Staaten wie Indien und Brasilien, ihre eigenen Interessen zu verfolgen, was auch bei den Ölproduzenten im Nahen Osten zu beobachten ist.

Die Biden-Regierung fürchtet einerseits, was Netanjahus extrem rechte Regierung tun wird, und will andererseits Israels Rolle als wichtigster Verbündeter des westlichen Imperialismus in der Region bewahren.

So sehen wir, wie die westlichen Mächte wiederholte Versprechen, Israel zu verteidigen, mit Druck und Bitten gegenüber der israelischen Regierung verbinden, ihr Handeln zu mäßigen. Die israelische Regierungskoalition, bestehend aus Netanjahu und den extrem rechten Nationalist*innen, ist jedoch nicht bereit, mitzuspielen. Diese extrem rechten Minister könnten den Iran provozieren wollen, um die USA zum Eingreifen zu bewegen. Darüber hinaus scheint Netanjahu nur wenig auf das zu hören, was Washington sagt. Es scheint, dass die Zerstörung des iranischen Konsulats in Damaskus am 1. April die USA überrumpelt hat. Vielleicht hofft er, lange genug an der Macht zu bleiben, um seine Position zu retten, falls Trump die US-Wahlen im November gewinnt. Aber es ist klar, dass es in Israel zwar weiterhin Unterstützung für den Krieg in Gaza gibt, Netanjahus Koalition aber sowohl in der Bevölkerung als auch in der israelischen herrschenden Klasse in der Minderheit ist.

Die westlichen imperialistischen Mächte sehen sich damit konfrontiert, dass das chinesische und das russische Regime im Nahen Osten, in Afrika, Lateinamerika und in Teilen Asiens eine antikoloniale Sprache verwenden, um Einfluss zu gewinnen, ähnlich wie der japanische Imperialismus während des Zweiten Weltkriegs antikoloniale Propaganda gegen die britischen, niederländischen und französischen Kolonialreiche einsetzte.

Angesichts der wachsenden internationalen Empörung über ihre Heuchelei, die russischen Angriffe auf die Ukraine zu verurteilen, aber die israelische Zerstörung des Gazastreifens grundsätzlich zu unterstützen und mit Waffen zu versorgen, haben die westlichen Mächte den iranischen Angriff zu einer Propaganda-Gegenoffensive genutzt und auf Sparflamme über den Gazakrieg und den Angriff auf Damaskus am 1. April berichtet. Dabei haben die westlichen Propagandist*innen den unterdrückerischen und oft brutalen Charalter des iranischen Regimes hervorgehoben, was zwar wahr ist, aber Verbündete des Westens wie die äußerst repressiven saudischen und Golf-Regime außer Acht lässt. In den westlichen imperialistischen Hauptländern, insbesondere in Deutschland, hat diese Kampagne auf der jüngsten Unterdrückung der Opposition gegen den israelischen Krieg gegen Gaza aufgebaut, die oft fälschlicherweise mit Antisemitismus gleichgesetzt wird.

Aber Krieg und Unterdrückung sind im Nahen Osten und in den arabischen Ländern Nordafrikas nicht neu, sondern seit Jahrzehnten ein Merkmal.

Kolonialismus

Die lange Geschichte des Kolonialismus hat die Geschichte der Region und der in ihr lebenden Völker geprägt. Die westlichen imperialistischen Mächte vertrieben das Osmanische Reich, um die Kontrolle über eine strategisch wichtige Region zu erlangen, in der später Schlüssel-Bodenschätze, vor allem Öl, entdeckt wurden.

Auf dieser Grundlage teilten der britische und der französische Imperialismus den größten Teil der Region unter sich auf und wählten die Stammeshäuptlinge aus, die sie als Herrscher einsetzten. Von Demokratie war keine Rede, geschweige denn von Selbstbestimmung, und „Problem”-Herrscher wurden entfernt, wie es die Briten 1970 in Oman taten. Die weltweit zunehmenden antikolonialen Massenkämpfe und -stimmungen zwangen die Briten und Franzosen, sich von der direkten Herrschaft zurückzuziehen, und sie wurden schließlich in eine Einflussposition hinter dem US-Imperialismus zurückgedrängt. Der „Arabische Frühling” 2011/12 zeigte, wie Massenbewegungen, die nicht in der Lage sind, die Macht in die eigenen Hände zu nehmen, letztlich unterdrückt werden. Trotzdem fürchten die Herrschenden immer noch „die Straße” und die Möglichkeit einer Revolte, daher der allgemeine Mangel an demokratischen Rechten.

Die Israelis selbst haben trotz Wirtschaftswachstums kein friedliches „Land, in dem Milch und Honig fließen” gefunden. Marxist*innen lehnten den zionistischen Plan ab, einen jüdischen Staat auf der Grundlage der Entfernung der bestehenden Bevölkerung Palästinas zu schaffen, ein Plan, der mit dem Alten Testament begründet wurde. Der zynische Grund dafür, dass der britische Imperialismus die Forderung ab 1917 generell unterstützte, bestand darin, einen Klientenstaat in der Region zu schaffen, was die Franzosen später im Libanon versuchten. So schrieb der erste britische Gouverneur von Palästina später, dass Londons Ziel bei der Förderung der jüdischen Einwanderung darin bestand, „für England ,ein kleines loyales jüdisches Ulster’ in einem Meer von potenziell feindlichem Arabismus zu schaffen”.

Dieser Plan säte unweigerlich die Saat für den heutigen Konflikt, denn er basierte auf der Zwangsumsiedlung der bestehenden Bevölkerung. Deshalb warnte der russische Revolutionär Leo Trotzki 1940, dass die Ansiedlung in der Region „Palästina in eine blutige Falle für mehrere hunderttausend Juden verwandeln könnte”. Und dazu ist es geworden. Während sich im Laufe der Jahrzehnte eine israelische Nation entwickelt hat, hat sie keine Sicherheit erlangt, was ein Grund dafür ist, dass die Mehrheit der Jüd*innen in der Welt nicht in Israel lebt.

In jedem Jahrzehnt seit der Staatsgründung war die israelische Bevölkerung mit größeren Kriegen konfrontiert – 1948, 1956, 1967 und 1973 – oder mit sehr bedeutenden militärischen Operationen gegen bedeutende militärische Kräfte oder mit Aufständen, Intifadas, der Palästinenser*innen. Der Angriff der Hamas am 7. Oktober war für die Israelis eine Bestätigung dafür, dass sie im Falle einer Kriegsniederlage bestenfalls ins Meer gestoßen werden würden. Dies ist ein wichtiger Grund für die Rücksichtslosigkeit des israelischen Militärs und insbesondere der fanatischen Siedler*innen und Ultranationalist*innen. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass die israelischen Machthaber im Falle einer militärischen Niederlage den Einsatz von Atomwaffen in Erwägung ziehen würden, was ein Grund dafür ist, dass sie den Bau iranischer Atomwaffen so sehr fürchten und versuchen möchten, die nuklearen Fähigkeiten des Iran zu zerstören.

Was kann angesichts dieser Situation getan werden?

Im Jahr 1912 veranlasste die drohende Kriegsgefahr die Zweite Internationale, die sozialistische und Arbeiter*innenparteien auf internationaler Ebene zusammenbrachte, einen Sonderkongress abzuhalten, auf dem im Wesentlichen ein kämpferisches Programm gegen den Krieg beschlossen wurde. Damals lehnte die Mehrheit der sozialistischen Parteien den Kapitalismus zumindest formal ab, im Gegensatz zu heute, wo es kaum Arbeiter*innenparteien gibt, die diese prinzipielle Position einnehmen. Doch tragischerweise unterstützte die überwältigende Mehrheit der Leiter*innen dieser Parteien ihre „eigenen” herrschenden Klassen und Monarch*innen gegen ihre Rival*innen, als der Krieg 1914 tatsächlich ausbrach.

Es besteht dringender Handlungsbedarf, um den Terror in Gaza zu beenden, und die Arbeiter*innenbewegung muss dem Beispiel ihrer Pionier*innen folgen. Die kapitalistischen Regierungen werden nicht handeln, es sei denn, sie werden dazu gezwungen. So hat beispielsweise der britische Premierminister Rishi Sunak die „heldenhaften” Pilot*innen der britischen Luftwaffe gelobt, die geholfen haben, den iranischen Angriff auf Israel zu stoppen, aber natürlich nie ein Ende der Bombardierung von Gaza gefordert.

Um erfolgreich zu sein, braucht es Massenaktionen. Proteste und Demonstrationen sind als Mobilisierung und Meinungsäußerung wichtig, werden aber, wie wir im Vorfeld der US- und britischen Invasion im Irak 2003 gesehen haben, den Krieg allein nicht beenden.

Es sind internationale Aktionen der Arbeiter*innen erforderlich. Die Gewerkschaftsführungen in verschiedenen Ländern müssen eine 24-stündige Arbeitsniederlegung anstreben, um einen sofortigen Waffenstillstand, die Wiederaufnahme der vollständigen Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und lebenswichtigen Gütern sowie die Freilassung aller Geiseln und Inhaftierten auf beiden Seiten und ein Ende der Waffenlieferungen an Israel zu fordern. Wenn sie dies täten, würde dies auf große Unterstützung stoßen.

Das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) hat argumentiert, dass „die verrotteten, diktatorischen arabischen Regime ebenso gestürzt werden müssen wie die herrschende Klasse in Israel und die Elite in den palästinensischen Gebieten. Es muss eine sozialistische Konföderation des Nahen Ostens auf freier und gleicher Basis aufgebaut werden, in der alle Ressourcen unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiter*innen und Armen stehen.“

Die Sol fordert:

  • Sofortige Beendigung der Angriffe auf Gaza und auf Palästinenser*innen im Westjordanland
  • Freilassung aller Geiseln und politischer Gefangenen
  • Sofortige Aufhebung der Blockade gegen Gaza
  • Schluss mit der Ausweitung israelisch-jüdischer Siedlungen im Westjordanland
  • Das Recht auf Protest gegen die Kriegs- und Besatzungspolitik des Staats Israel
  • Rücknahme des Verbots von palästinensischen Symbolen und Demonstrationsslogans
  • Nein zur Einschränkung demokratischer Rechte für Palästinenser*innen
  • Gegen Waffenlieferungen an Israel
  • Für demokratisch organisierte lokale Verteidigungsausschüsse durch die sich die Menschen unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit gegen Angriffe verteidigen können
  • Für einen Massenkampf der Palästinenser*innen unter ihrer eigenen demokratischen Kontrolle, um für ihre Befreiung zu kämpfen
  • Für den Aufbau unabhängiger Arbeiter*innenparteien in Palästina und Israel und Verbindungen zwischen ihnen
  • Für einen unabhängigen, sozialistischen palästinensischen Staat an der Seite eines sozialistischen Israels, mit zwei Hauptstädten in Jerusalem und garantierten demokratischen Rechten für alle Minderheiten, als Teil des Kampfes für einen sozialistischen Nahen Osten
  • Für einen Kampf der Massen der arabischen Staaten gegen die diktatorischen kapitalistischen herrschenden Eliten und der iranischen Massen gegen das reaktionäre theokratische Regime. Für eine freiwillige sozialistische Konföderation des Nahen Ostens
Print Friendly, PDF & Email