Ukraine: Putin gewinnt Oberhand

Foto: http://www.flickr.com/photos/kylaborg/ CC BY 2.0

Kein Ende des Schreckens in Sicht

Es sind jetzt mehr als zwei Jahre seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine und dem Beginn des Krieges zwischen den beiden Ländern vergangen, in dem die Ukraine wesentliche Unterstützung durch die Nato erhält. Seit Monaten herrscht an der Front ein relativer Stillstand, aber der russische Präsident Wladimir Putin hat die Oberhand gewonnen. Es wird geschätzt, dass Russland der ukrainischen Armee an Feuerkraft fünfmal überlegen ist. 

von Niall Mulholland (Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale, auf Englisch veröffentlicht vor den Wahlen in Russland am 15. März 2024)

Das ukrainische Militär führt Drohnen- und Raketenangriffe auf Ölraffinerien tief im Inneren Russlands durch, die zwar einigen Schaden anrichten, aber hauptsächlich dazu dienen, die Moral im eigenen Land zu stärken. Kiew hat sich auch einiger militärischer Erfolge gegen die russische Marine im Schwarzen Meer gerühmt. Doch im Osten des Landes, dem Hauptschauplatz der Auseinandersetzung mit Moskau, läuft der Krieg für die Ukraine nicht gut. Darüber hinaus hat das Aufhalten weiterer Finanzpakete für das ukrainische Militär durch den US-Kongress erhebliche negative Auswirkungen auf die Fähigkeit der ukrainischen Streitkräfte, einen Feldzug gegen die russischen Streitkräfte zu führen. 

Die Zeiten, in denen der ukrainische Ministerpräsident Wolodymyr Selenskyj sich rühmen konnte, die russischen Streitkräfte in die Flucht geschlagen zu haben, nachdem sie zum Rückzug von Kiew gezwungen worden waren, sind längst vorbei. In einer kürzlich gehaltenen Rede gab Selenskyj zu, dass bis zu 30.000 ukrainische Soldaten in dem Konflikt gestorben sind und viele weitere Zehntausende verletzt wurden. Westliche Quellen halten dies für eine Unterschätzung, und die tatsächliche Zahl der gefallenen ukrainischen Soldaten ist wahrscheinlich mehr als doppelt so hoch wie die von Selenskyj genannte. Im Gegenzug behaupten ukrainische und westliche Vertreter*innen, dass die russischen Streitkräfte viel größere Verluste erlitten hätten. Das mag der Fall sein, aber Russland macht gegenwärtig mehr Gebietsgewinne als die Ukraine und hat eine viel größere Bevölkerung, aus der es neue Soldaten rekrutieren kann.  Putins Position scheint sicherer zu sein als noch vor einigen Monaten, als der Krieg aus dem Ruder zu laufen schien und er sich mit einer kurzlebigen Revolte der Wagner-Söldner konfrontiert sah.

Militärische Ausrüstung

Besonders die USA, Frankreich und das Vereinigte Königreich (UK) liefern weiterhin militärische Ausrüstung in die Ukraine, darunter auch Langstreckenraketen. Da der Krieg jedoch weitergeht, ohne dass ein klarer, überwältigender Sieger in Sicht ist, hat der US-Kongress weniger Interesse an der Finanzierung Selenskyjs gezeigt. Republikanische Mitglieder des Kongresses haben neue Finanzpakete für Kiew blockiert. Mit der Aussicht auf einen möglichen Sieg Trumps bei den Präsidentschaftswahlen und seinem öffentlich abgegebenen Versprechen, „keinen einzigen Penny” an die Ukraine zu geben und den Konflikt rasch zu beenden, werden die republikanischen Kongressmitglieder die Freigabe der Mittel wahrscheinlich weiterhin blockieren. 

Dies hat Russland geholfen, eine militärische Dominanz auf dem Schlachtfeld zu entwickeln. Nach Angaben des Royal United Services Institute (UK) hat Russland die Produktion seiner Langstreckenraketen von etwa vierzig pro Monat im Jahr 2022 auf etwa hundert pro Monat bis Ende 2023 gesteigert. Russland ist praktisch eine „Kriegswirtschaft” geworden, in der die inländische Produktion weitgehend auf die Bedürfnisse des Krieges in der Ostukraine zugeschnitten ist, während Russland auch neue Absatzmärkte für seine Rohstoffexporte finden konnte.

Ungeachtet der erheblichen Steigerung der Rüstungsausgaben und der Militarisierung durch die Nato und die EU angesichts des „gemeinsamen” russischen Feindes halten die Spannungen zwischen den europäischen Mächten wegen des Ukraine-Konflikts an. Nach Monaten des Ringens mit der ungarischen Regierung einigte sich die EU auf ein neues Hilfspaket, das nach Kiew gesandt werden soll. Es ist jedoch weit von dem entfernt, was laut Selenskyj dringend benötigt wird. Der rechtspopulistische ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hat klargemacht, dass er bei künftigen Vorschlägen für finanzielle und militärische Hilfen für Kiew sein Veto nutzen wird. Orbans Position wird von einigen anderen EU-Staaten wie der Slowakei geteilt. Obwohl der Präsident der Türkei Erdoğan schließlich seine Opposition gegen einen schwedischen NATO-Beitritt aufgegeben hat, sind sich die westlichen Verbündeten keineswegs einig. Als Zeichen der Frustration über den US-Kongress forderte der französische Präsident Macron die Stationierung von NATO-Truppen in der Ukraine (inoffizielle und „nicht kämpfende” Nato-Truppen sind Berichten zufolge bereits in der Ukraine präsent). Dies wurde von anderen NATO-Mächten und der EU schnell abgelehnt. Sie befürchten, dass eine offene, direkte Beteiligung der NATO in der Ukraine zu einer Ausweitung des Konflikts in der gesamten Region führen könnte. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz lehnt die ukrainische Bitte um Bestände der in Deutschland hergestellten Taurus-Raketensysteme mit der Begründung ab, dass deutsche Truppen in die Ukraine geschickt werden müssten, um die Raketen zu programmieren, was Berlin weiter in den Konflikt mit Russland hineinziehen würde. 

Präsident Putin reagierte auf Macrons Forderungen mit eigenen Drohungen und erklärte erneut, Russland sei bereit, „strategische Atomwaffen” einzusetzen, wenn die nationale Souveränität Russlands gefährdet sei. Putin führt das Vordringen der Nato-Länder an die Grenzen Russlands und die mögliche Mitgliedschaft der Ukraine in dem Militärbündnis als Hauptgrund für seinen Einmarsch im Jahr 2022 an. Auch wenn Putins nuklearen Drohungen weitgehend säbelrasselnde Rhetorik sind, deutet dies doch darauf hin, wie der Konflikt durch den Einsatz immer verheerenderer konventioneller Waffen weiter außer Kontrolle geraten könnte. 

Nach dem russischen Einmarsch gab es anfänglich vor allem in den westlichen Ländern viel Sympathie und Unterstützung für die Notlage der Ukrainer*innen. In Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas gab es jedoch häufig Sympathie für Russland wegen des Erbes der ehemaligen stalinistischen UdSSR vor der Restauration des oligarchischen Kapitalismus und wegen der Auffassung, dass Russland den westlichen Imperialismus und die Nato bekämpfe. Heute ist die Stimmung der arbeitenden Menschen in der ganzen Welt zunehmend skeptisch und zynisch gegenüber den Motiven der westlichen Mächte und des Selenskyj-Regimes. Dies ist besonders seit der grausamen Bombardierung des Gazastreifens durch den israelischen Staat der Fall, die zum Tod von über 30.000 Menschen, zu einem massenhaftem Hunger und zur Zerstörung der meisten Gebäude und der Infrastruktur des Streifens geführt hat. Viele Menschen fragen sich, warum die Menschenrechte der Ukrainer*innen, die sich einer russischen Invasion ausgesetzt sahen, respektiert werden müssen, nicht aber die Menschenrechte der besetzten Palästinenser*innen. 

Diese Gefühle wurden vom Putin-Regime ausgenutzt, das versucht, seine Autorität und seinen Einfluss im sogenannten „globalen Süden” auszuweiten. Als Teil der neuen Koordinierung mit China, das nun stillschweigend die russische Invasion in der Ukraine unterstützt, stellen sich Moskau und Peking so dar, als stünden sie auf der Seite der Unterdrückten in aller Welt, einschließlich der Palästinenser*innen.

Russische Wahlen

Vor den Präsidentschaftswahlen in Russland scheint Putins Position sicherer zu sein als seit mehreren Jahren. Der Krieg verläuft weitgehend zu Putins Gunsten – die russischen Streitkräfte haben vor kurzem die Stadt Awdijiwka erobert (wenn auch Berichten zufolge unter hohen Verlusten). Jede oppositionelle Stimme im eigenen Land wird schnell als verräterisch gebrandmarkt. Die Proteste nach dem Tod des Kremlgegners Alexi Nawalny im Gefängnis waren im Vergleich zu früheren Oppositionsbewegungen eher klein. Mit dem Beginn des Krieges wurden viele Oppositionelle inhaftiert oder sind aus Russland geflohen. Die Anti-Kriegs-Bewegung bleibt relativ klein und wird unterdrückt (es wird geschätzt, dass fast 20.000 Menschen inhaftiert wurden, weil sie gegen den Krieg protestierten). Der russischen Wirtschaft ist es gelungen, die vom Westen verhängten Sanktionen zu überwinden und ein gewisses Wachstum sowie neue Handelsvereinbarungen mit China, den Golfstaaten und anderen Teilen der Welt zu schließen. 

Doch unter der Oberfläche entwickelt sich Opposition gegen Putins Regime. Es bleibt abzuwarten, wie an diesem Wochenende die Resonanz auf den Aufruf der Oppositionellen an die Wähler*innen sein wird, massenhaft zur Wahl zu gehen und gleichzeitig ihre Ablehnung von Putins im Voraus feststehender Wiederwahl zu bekunden. Wie und wann sich ein ernsthafter, anhaltender Kampf gegen Putins Herrschaft entwickelt und zu einer mächtigeren sozialen Revolte wird, ist in diesem Stadium unklar. 

Wenn sich der Krieg jedoch hinzieht und enorme menschliche und materielle Kosten verursacht, können in Russland Forderungen nach Frieden anwachsen und zu Spaltungen innerhalb des Regimes führen. Derzeit versucht Putin, seinen Vorteil auf dem Schlachtfeld auszuspielen und weitere Gebiete zu erobern, und es ist unwahrscheinlich, dass er in nächster Zeit ernsthafte Verhandlungen mit Kiew aufnehmen wird. Sollte sich die Lage auf dem Schlachtfeld gegen die russischen Streitkräfte zu wenden beginnen oder sich noch weiter zuspitzen, kann sich die Stimmung in Russland deutlich ändern und Putin kann gezwungen sein, die russische Militärkampagne einzustellen. In einem bestimmten Stadium kann Putin mit der Aussicht konfrontiert werden, abgesetzt oder gestürzt zu werden. Der Charakter des Regimes, das Putin ablösen würde, ist ebenfalls ungewiss und hängt von der Entwicklung des Krieges und der Ereignisse ab.

Selenskyj unter Druck

Selenskyj könnte auch innenpolitisch zunehmend unter Druck geraten, eine Einigung mit Moskau zu erzielen. Die ukrainische Regierung plant, dem Parlament ein neues „Mobilisierungsgesetz” vorzulegen, um weitere 500.000 Männer zu den Streitkräften einzuziehen (derzeit sind schätzungsweise 330.000 Soldaten auf den Schlachtfeldern im Einsatz). Eher aus  Verzweiflung hat Kiew auch in Aussicht gestellt, Sträflinge als Kanonenfutter einzusetzen. Derzeit sind die ukrainischen Truppen über lange Zeiträume an der Front im Einsatz, ohne dass es einen Wechsel oder eine Pause gibt. Die Moral leidet. „Ein großer Teil der Männer im kampffähigen Alter ist nicht bereit, an der Front eingesetzt zu werden”, so die Financial Times (13. März 2024).

Die Kiewer Regierung hat eine Herabsetzung des Wehrpflichtalters von 27 Jahren um zwei Jahre ins Gespräch gebracht. Ausnahmen sollen für sogenannte „systemrelevante Arbeiter*innen” gelten. Sie müssen sich finanziell an den Kriegsanstrengungen beteiligen, indem sie entweder einen Teil ihres Lohns abführen oder eine monatliche Abgabe entrichten. Doch viele arme Ukrainer*innen aus der Arbeiter*innenklasse interpretieren dies so, dass die Mittelschicht und die Bessergestellten der Einberufung entgehen können, da diejenigen, die sich die Gebühr nicht leisten können, eingezogen werden können. 

Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Menschen gegen die neuen Wehrpflichtziele ist. Im Februar ergab eine Umfrage von Info Sapiens, einer ukrainischen Organisation, dass 48 Prozent der Männer „nicht bereit sind zu kämpfen, während 34 Prozent es sind”. Die Hälfte der neunzig Prozent der Befragten gab an, dass sie „jetzt glauben, der Westen sei müde und werde Kiew zu einem Kompromiss mit Russland drängen”. 

Die Arbeiter*innenklasse der Region

Zu Beginn des dritten Jahres des Massengemetzels in der Ukraine ist es klarer denn je, dass die Arbeiter*innenklasse der Ukraine und Russlands und der Region ihre eigene unabhängige Stimme braucht. Selenskyj und Putin führen beide rechtsnationalistische Regime, die von Oligarch*innen beherrscht werden. Beide handeln nicht im Interesse der Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, und doch wird von den arbeitenden Massen erwartet, dass sie das endlose Kanonenfutter für den Krieg sind. 

Das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) hat von Anfang an den sofortigen Rückzug der russischen Streitkräfte gefordert. Wir haben auch dazu aufgerufen, dass die ukrainische Arbeiter*innenklasse sich selbst organisiert, um das korrupte, pro-westlich-imperialistische Selenskyj-Regime zu entfernen. Auch in Russland braucht die Arbeiter*innenklasse ihre eigenen unabhängigen Organisationen und ein sozialistisches Programm, um sich dem Putin-Regime und seinen reichen Unterstützer*innen erfolgreich entgegenzustellen. 

Während die ukrainischen Massen das Recht haben, frei von jeglicher ausländischer Besatzung zu leben, haben auch die ethnischen Minderheiten innerhalb der Ukraine das Recht, frei von ukrainischer chauvinistischer Unterdrückung zu sein. Marxist*innen unterstützen das Selbstbestimmungsrecht der ukrainischen Massen, aber auch das Recht der Menschen in der Region Donbass und auf der Krim, ihre eigene Zukunft zu bestimmen. Es ist nicht klar, wie die Stimmung und die Gefühle der Menschen in diesen Gebieten angesichts der Kriegssituation und der russischen Militärbesatzung gegenwärtig sind. Aber mehr als ein Jahrzehnt der Feindseligkeit pro-westlicher Regierungen in Kiew gegenüber dem mehrheitlich russischsprachigen Donbass, zu dem auch jahrelange militärische Angriffe des ukrainischen Militärs und rechtsextremer Kräfte vor dem Ausbruch des Krieges mit Russland im Jahr 2022 gehörten, werden die Meinungen verhärtet haben. 

Die dramatischen Veränderungen vor Ort müssen von den Marxist*innen berücksichtigt werden, wenn sie ein Programm zur nationalen Frage vorschlagen. Die rücksichtslose Vertreibung fast aller ethnischen Armenier*innen aus Berg-Karabach durch das aserbaidschanische Regime im vergangenen Jahr und die Auslöschung der Palästinenser*innen aus mindestens der Hälfte des Gazastreifens durch den israelischen Staat haben in diesen Teilen der Welt neue „Fakten vor Ort” geschaffen. Ebenso haben zehn Jahre des Konflikts, der Diskriminierung und der Annexionen zweifellos die Perspektiven der Menschen auf der Krim und im Donbass beeinflusst und müssen in Betracht gezogen werden. 

Ein marxistisches Programm zur nationalen Frage und zu den Rechten von Minderheiten muss solche Ereignisse berücksichtigen, wenn es seine Position zum Selbstbestimmungsrecht unterdrückter Völker und dazu, wie dieses erreicht werden soll, ausarbeitet. Marxist*innen lehnen es ab, dass die mehrheitlich russischstämmige Bevölkerung im Donbass und auf der Krim gegen ihren Willen in einen ukrainischen Staat gezwungen oder gewaltsam in ein „Großrussland” eingegliedert wird. Sie müssen das Recht haben, über ihre eigene Zukunft in wirklich freier und demokratischer Weise zu entscheiden. 

Dieser Aspekt des CWI-Programms ist untrennbar mit der Notwendigkeit des Aufbaus einer unabhängigen massenhaften sozialistischen Alternative in der Ukraine, Russland und der Region verbunden, die die Menschen der Arbeiter*innenklasse über alle nationalen und ethnischen Grenzen hinweg gegen Krieg, Armut, Ausbeutung und Kapitalismus vereint.

Print Friendly, PDF & Email