Vorschläge für den Aufbau einer Massenbewegung und ein Programm gegen Unterdrückung – Aktuelles Flugblatt der Sol
Mit jedem Tag, den der Krieg gegen Gaza fortschreitet, wird es schwerer die passenden Worte für die Gräuel zu finden, denen die Menschen ausgesetzt sind. Zehntausende Menschen wurden getötet, 1,9 Millionen wurden vertrieben. Die Offensive der IDF in Rafah droht diese Hölle auf Erden noch schlimmer zu machen.
Doch auch die weltweiten Proteste gegen Israels Krieg reißen nicht ab – und sie sind nicht ohne Wirkung. Die großen Proteste an US-amerikanischen Universitäten und die bröckelnde Unterstützung für Biden spielten eine Rolle dabei, dass die USA angekündigt haben, bestimmte Waffenlieferungen auszusetzen.
Seit Monaten gehen wir auch in Deutschland gegen den Krieg gegen Gaza und gegen die Repression gegen die Palästina-Solidarität auf die Straße. Es ist wichtig, unsere Empörung und Wut lautstark hinauszuschreien und mit den Demonstrationen nicht nachzulassen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie wir eine starke Massenbewegung der Solidarität mit den Menschen in Gaza und dem Westjordanland aufbauen können und wie der Kampf gegen Krieg, Besatzung, Belagerung und ethnische Säuberung gewonnen werden kann. Wir wollen unsere Vorschläge für ein sozialistisches Programm und eine Strategie zur Diskussion stellen.
Wem wir nicht vertrauen können
Es ist verständlich, dass viele Hoffnung in diejenigen Institutionen und Staaten setzen, die sich gegen Israels Krieg und für eine Waffenruhe aussprechen, ob die UNO, die Regierungen muslimisch geprägter oder anderer Staaten des globalen Südens.
Die UNO zeigt sich jedoch wieder einmal machtlos, wenn sie sich auch nur ansatzweise gegen die Interessen der mächtigen westlichen Staaten stellt. Hunderte Resolutionen der UNO gegen Israel haben seit 1967 keine Wirkung gehabt und werden es auch in Zukunft nicht haben. Viele haben verständlicherweise die Anklage gegen Israel und auch Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof begrüßt, aber sie wird ohne konkrete Folgen für die Situation vor Ort bleiben. Wer sich auf diesen Club der kapitalistischen Regierungen und Diktatoren verlässt, ist verloren.
Auch die Machthaber der arabischen Staaten oder des Irans und der Türkei handeln nicht aus Solidarität mit einem unterdrückten Volk, sondern vertreten nur ihre eigenen wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen. Was zum Beispiel Erdoğan von den nationalen Rechten unterdrückter Völker hält, zeigt er täglich in Bezug auf das kurdische Volk. Die arabischen Herrscher waren und werden jederzeit bereit sein, die Interessen der Palästinenser*innen zu verraten, wenn es ihren Interessen dient.
Wer kann den Krieg stoppen?
Die einzige Kraft, die den Krieg gegen Gaza stoppen und eine Befreiung der Palästinenser*innen erkämpfen kann, sind die Massen der arbeitenden und armen Bevölkerung in Palästina, Israel und international. Die Demonstrationen von Hunderttausenden in Ägypten, Jordanien, Kuwait, Tunesien und anderen arabischen Staaten, aber auch in anderen Teilen der Welt einschließlich der USA und Europa haben einen Eindruck davon gegeben, welche Supermacht die Arbeiter*innenklasse und die armen Massen weltweit darstellen. Gerade die Herrschenden in der arabischen Welt haben eine riesige Angst, dass sich solche Proteste in Solidarität mit den Palästinenser*innen schnell gegen sie richten können, wie das schon in Ägypten geschehen ist, und einen neuen „Arabischen Frühling“ auslösen könnten. Auch in Israel selbst nehmen die Proteste gegen Netanjahu und für Verhandlungen zur Freilassung der Geiseln zu – was auch zeigt, dass die Gesellschaft dort nicht homogen ist.
Wir sind der festen Überzeugung, dass nur ein demokratisch von den palästinensischen Massen selbst geführter Kampf mittels Massendemonstrationen, Streiks und breitem Widerstand gegen die Besatzung und Belagerung erfolgreich sein kann. Die erste Intifada (Arabisch für „Aufstand“) in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war dafür ein Beispiel.
Programm, Organisierung und Strategie nötig
Doch ohne ein Programm und eine Strategie werden auch die größten Massenproteste nicht erfolgreich sein können. Ein erfolgreicher Kampf gegen die Unterdrückung braucht außerdem Verbündete aus der Arbeiter*innenklasse nicht nur in den arabischen Staaten, sondern auch in den westlichen kapitalistischen Staaten und in Israel selbst.
Die Hamas vertritt kein Programm und keine Strategie, die den Palästinenser*innen wirkliche Freiheit, Frieden und soziale Sicherheit bringen kann. Sie hat nicht nur immer wieder Proteste in Gaza unterdrückt, sondern ist auch eine pro-kapitalistische, arbeiter*innen- und frauenfeindliche Organisation. Durch terroristische Angriffe auf israelisch-jüdische Zivilist*innen wie am 7. Oktober bringt sie das palästinensische Volk der Befreiung keinen Schritt näher – im Gegenteil, wie man im Moment sehen kann. Die Folge solcher Angriffe sind eine Stärkung des Nationalismus in der israelisch-jüdischen Bevölkerung und eine Schwächung derjenigen Kräfte in ihr, die gegen Besatzung, Belagerung, Krieg und Vertreibung eingestellt sind.
Für Arbeiter*inneneinheit und Sozialismus
Die Unterdrückung der Palästinenser*innen ist nicht von der Herrschaft von Kapitalismus und Imperialismus zu trennen. Israel ist der Vorposten des westlichen Imperialismus im Nahen Osten. Wie der heutige US-Präsident Joe Biden vor Jahren sagte: „Wenn es Israel nicht geben würde, müssten wir es erfinden.“
Viele Menschen haben nach der schrecklichen Erfahrung des Holocaust die Gründung eines jüdischen Staates unterstützt, in der Hoffnung ein solcher könne den Jüdinnen und Juden Schutz vor weiterer Verfolgung bieten. Marxist*innen haben schon 1948 darauf hingewiesen, dass ein durch Terror und Vertreibung errichteter Staat zu einer blutigen Falle für die Jüdinnen und Juden wird, was sich leider bewahrheitet hat. Doch dieser in seiner Verfasstheit rassistische Staat hat über Jahrzehnte eine eigene Nation und Klassengesellschaft hervor gebracht. Siebzig Prozent der Einwohner*innen wurden in Israel geboren. Die breite Mehrheit der israelisch-jüdischen Arbeiter*innen hat ebenso ein Interesse an einem Leben in Frieden und sozialer Sicherheit, wie es die Palästinenser*innen haben. Nicht sie profitieren von dem nationalen Konflikt, sondern die Herrschenden auf beiden Seiten, die „ihre“ Arbeiter*innenklassen durch den Verweis auf die äußere Bedrohung vom Klassenkampf für soziale Verbesserungen und gegen die eigenen Regierungen abhalten können.
Sozialistisches Programm
Wir treten deshalb für ein sozialistisches Programm ein, das die Interessen aller Arbeiter*innen und armen Bäuer*innen im Nahen Osten, unabhängig von Nationalität und Religionszugehörigkeit zum Ausdruck bringt und eine friedliche Einigung der Völker möglich macht.
Um ein solches Programm zu einer gesellschaftlichen Kraft zu machen, braucht es Arbeiter*innenorganisationen – Gewerkschaften und sozialistische Massenparteien – die über die nationalen Grenzen hinweg Verbindungen schaffen und den Kampf gegen die herrschenden Klassen führen anstatt sich durch ihre jeweiligen Regierungen auf die Schlachtbank führen zu lassen.
Nur wenn sowohl in Israel als auch in den Palästinenser*innengebieten die prokapitalistischen Führer*innen gestürzt und durch Arbeiter*innenregierungen ersetzt werden, ist eine demokratische Einigung denkbar, die die Form zweier sozialistischer Staaten mit einer gemeinsame Hauptstadt in Jerusalem/Al-Quds als Teil einer sozialistischen Föderation im Nahen Osten einnehmen könnte und in deren Rahmen alle komplizierten Fragen von Grenzziehungen, dem Schicksal der Geflüchteten etc. ohne Blutvergießen angegangen werden können.
Für einen solchen Weg treten die Sol und das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) ein und wir laden alle dazu ein, mit uns darüber in Diskussion zu treten.
Das bedeutet nicht, auf eine sozialistische Lösung in der Zukunft zu warten, sondern heute schon einen größtmöglichen und massenhaften Widerstand gegen den Krieg und die Unterdrückung durch den israelischen Staates und seiner westlichen Verbündeten aufzubauen – aber diesen Widerstand mit einer solchen sozialistischen Perspektive zu verbinden.
Für eine demokratische Solidaritätsbewegung
Der Aufbau starker Solidaritätsbewegungen in Deutschland und international kann dabei eine sehr wichtige Rolle spielen. Eine solche Bewegung ist aber nicht nur für die Unterstützung des Kampfes der Palästinenser*innen wichtig, sondern auch für die Verteidigung der Rechte von Migrant*innen und der gesamten Arbeiter*innenklasse in Deutschland.
Im Umgang mit der Palästina-Solidaritätsbewegung werden gerade Präzedenzfälle geschaffen, was die Einschränkung demokratischer Rechte, wie dem Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit, angeht. Das ist auch eine Vorbereitung auf größere soziale Proteste und Streiks. Rassismus, insbesondere gegen arabische Menschen, soll die Arbeiter*innenklasse spalten und gegeneinander aufbringen, während die pro-kapitalistischen Parteien über Großangriffe auf die Rente, auf Arbeitszeiten und Sozialleistungen diskutieren, Kürzungen umsetzen und die Aufrüstung der Bundeswehr vorantreiben.
Ein Nein zum Krieg und zur Aufrüstung und ein Ja zum Kampf für soziale Verbesserungen hier und jetzt gehören deshalb zusammen. Auch in Deutschland ist die Arbeiter*innenklasse die potenzielle Kraft, um der Kriegspolitik der Bundesregierung Steine in den Weg zu legen. In Italien und Belgien haben sich Gewerkschafter*innen schon dem Transport von Kriegsmaterial nach Israel verweigert. Das ist der richtige Weg. Auch wenn wir in Deutschland von solchen Aktionsformen noch weit entfernt sind, müssen wir die Debatte in die Gewerkschaften tragen und uns der pro-israelischen Politik der heutigen Gewerkschaftsführungen entgegen stellen. Gleiches gilt für die Partei Die Linke, die leider auch keine unmissverständliche Position einnimmt. Wir brauchen aber dringend eine Massenpartei der Arbeiter*innen und sozial Benachteiligten, welche sich unmissverständlich gegen Krieg, Unterdrückung und Sozialabbau positioniert und die Kämpfe dagegen mit einer sozialistischen Perspektive führt. Dafür setzt sich die Sol in Gewerkschaften, der Linken und sozialen Bewegungen ein.
Wir treten auch dafür ein, dass sich die Solidaritätsbewegung auf einer demokratischen Grundlage organisiert und Wege findet, in die Gesellschaft und die Arbeiter*innenklasse in Deutschland hineinzuwirken.
Dabei sollte es Raum für unterschiedliche Vorstellungen und Strategien geben, aber gleichzeitig sollten auch einige internationalistische Prinzipien als gemeinsame Basis definiert werden. Dies könnte durch die Bildung breiter lokaler Solidaritäts-Komitees und die Durchführung einer bundesweiten Konferenz geschehen, die sich eine gemeinsame Plattform geben und einen Vertretungsausschuss wählen. Das wäre ein Weg für die Bewegung, sich eine demokratische Vertretung zu geben, die in der Gesellschaft für die Solidarität mit den Palästinenser*innen sprechen kann. Der Palästina-Kongress in Berlin wurde skandalöserweise von der Polizei aufgelöst. Er hätte aber auch nicht solch einen Charakter gehabt, wenngleich er ein Ort für wichtige Debatten hätte sein können.
Grundpositionen einer solchen Bewegung sollten aus unserer Sicht beinhalten:
- Sofortiges Ende der Angriffe auf Gaza und Rückzug der israelischen Armee
- Ende der Belagerung von Gaza und der Besetzung des Westjordanlands
- Sofortiger Stopp des Siedlungsausbaus im Westjordanland
- Nein zum Terror gegen Zivilist*innen
- Freilassung aller zivilen Geiseln und palästinensischen politischen Gefangenen
- Ablehnung von jeder Form von Rassismus und Antisemitismus
- Ablehnung der Unterstützung der israelischen Regierung durch die Bundesregierung durch Waffenlieferungen und andere Maßnahmen
- Kampf gegen die Einschränkung demokratischer Rechte und Verschärfungen des Aufenthaltsrechts für Migrant*innen im Kontext des Gaza-Kriegs
- Anerkennung der demokratischen und nationalen Rechte aller Bevölkerungsgruppen im Nahen Osten und Befürwortung einer breiten und demokratischen Debatte über eine politische Lösung des Nahost-Konflikts
Auf dieser Grundlage könnten gemeinsame Proteste organisiert werden und Veranstaltungen durchgeführt werden, um über die Ursachen des Konflikts aufzuklären und Solidarität gegen Krieg und Besatzung zu verbreiten.
Die Sol fordert:
- Sofortige Beendigung der Angriffe auf Gaza und auf Palästinenser*innen im Westjordanland! Vollständiger Abzug der israelischen Streitkräfte!
- Sofortige Aufhebung der Blockade gegen Gaza! Schluss mit der Ausweitung israelisch-jüdischer Siedlungen im Westjordanland!
- Für demokratisch organisierte lokale Verteidigungsausschüsse durch die sich die Menschen unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit gegen Angriffe verteidigen können
- Für die Freilassung aller Geiseln und politischer Gefangenen
- Für einen Massenkampf der Palästinenser*innen unter ihrer eigenen demokratischen Kontrolle, um für ihre Befreiung zu kämpfen
- Für den Aufbau unabhängiger Arbeiter*innenparteien in Palästina und Israel und Verbindungen zwischen ihnen
- Für einen unabhängigen, sozialistischen palästinensischen Staat an der Seite eines sozialistischen Israels, mit zwei Hauptstädten in Jerusalem und garantierten demokratischen Rechten für alle Minderheiten, als Teil des Kampfes für einen sozialistischen Nahen Osten
- Für einen Kampf der Massen der arabischen Staaten gegen die diktatorischen kapitalistischen herrschenden Eliten und der iranischen Massen gegen das reaktionäre theokratische Regime. Für eine freiwillige sozialistische Konföderation des Nahen Ostens
- Schluss mit den Waffenlieferungen an Israel durch die Bundesregierung und westliche Staaten!
- Das Recht auf Protest gegen die Kriegs- und Besatzungspolitik des Staats Israel: Rücknahme des Verbots von palästinensischen Symbolen und Demonstrationsslogans! Nein zur Einschränkung demokratischer Rechte!
Exkurs: Antisemitisch?
Derzeit wird vom politischen Establishment, aber auch von Linken, der Vorwurf des Antisemitismus erhoben, wenn es um Kritik an der Politik des Staates Israel geht. Als Sozialist*innen kämpfen wir für eine Gesellschaft, die frei von Unterdrückung und Ausbeutung ist. Dieses Ziel ist nur dann erreichbar, wenn die Arbeiter*innen gemeinsam kämpfen. Spaltung spielt nur den Herrschenden in die Hände. Daher müssen wir jegliche Form von Rassismus bekämpfen.
Wenn allen jüdischen Menschen die Verantwortung für die Unterdrückung der Palästinenser*innen zugeschoben wird, dann ist dies auch antisemitisch, weil es unzulässig pauschalisiert. Schließlich gibt es viele Jüdinnen und Juden, die die Politik des Staates Israel nicht unterstützen.
Doch in der öffentlichen Debatte wird nicht zwischen Kritik an der Politik des Staates Israel und pauschalisierten Angriffen auf alle Jüdinnen und Juden unterschieden. Wenn etwa wütende arabische Jugendliche eine israelische Fahne, die bei einer staatlichen Einrichtungen gehisst wurde, entfernen, richtet sich dies gegen einen Staat, der für die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung verantwortlich ist.
Das ist nicht antisemitisch. Die Bewegung gegen die Unterdrückung der Palästinenser*innen sollte aber diskutieren, ob es sinnvoll ist, Parolen und Aktionsformen zu wählen, die die Wagenburgmentalität in Israel verstärken. Gleichzeitig sollte sie die Diffamierung und Kriminalisierung von nicht-antisemitischen Parolen und Aktionsformen bekämpfen.