“Kontinuierliche Arbeit in Betrieben und Gewerkschaften ist unverzichtbar”

Interview mit Angelika Teweleit

Interview mit Angelika Teweleit, in der Sol-Bundesleitung verantwortlich für die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. Sie ist auch eine Sprecherin für das „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di“ sowie für die „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ (VKG)

Welchen Stellenwert hat die Arbeit in Betrieben und Gewerkschaften für die Sol?

Dieser Bereich ist für uns von zentraler Bedeutung. Das ergibt sich daraus, dass die Arbeiter*innenklasse die entscheidende Kraft in der kapitalistischen Gesellschaft ist, weil sie den gesellschaftlichen  Reichtum produziert und durch kollektives Handeln nicht nur Verbesserungen im Rahmen des Kapitalismus erkämpfen, sondern auch den Kapitalismus beseitigen und die Kontrolle über Betriebe und Staat übernehmen kann. Die Gewerkschaften sind die grundlegenden Organisationen der Arbeiter*innenklasse zur Verteidigung ihrer Interessen, durch die sie kollektives Klassenbewusstsein entwickeln und kämpfen können. Um eine Verankerung in der Klasse zu erzielen, ist kontinuierliche Arbeit in Betrieben und Gewerkschaften unverzichtbar.

Das war gerade seit der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion und Osteuropa schwerer, da die Kapitalist*innen ideologisch und hinsichtlich des Kräfteverhältnisses in die Offensive gegangen sind und die Gewerkschaftsführungen dem nachgegeben haben. Das führte zu einem Rückgang an Kämpfen, die Gewerkschaften verloren Mitglieder und wurden politisch und organisatorisch geschwächt. Sie sind aber weiterhin die größten Organisationen der abhängig Beschäftigten, die die Gesellschaft zum Stillstand bringen können. 

Wir erleben gerade – wie wir es auch vorhergesehen haben – den Beginn einer Wiederbelebung der Gewerkschaften in einer Reihe von Ländern und eine Zunahme von Streiks. Immer mehr Kolleg*innen sehen sich gezwungen, sich kollektiv gegen Inflation und andere Krisenerscheinungen zur Wehr zu setzen. Allerdings stellen die jetzigen Gewerkschaftsführungen und die bürokratischen Gewerkschaftsapparate ein Hindernis für die nötigen Kämpfe dar. 

Was ist denn die Rolle dieser Gewerkschaftsbürokratie?

Die Gewerkschaftsführungen haben ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht. Das ist schon lange der Fall und es hat sich schon zum Ende des 19. Jahrhunderts eine bürokratische Schicht in den Gewerkschaften entwickelt, die von den Gewerkschaften und nicht für sie lebt. Es gibt eine große materielle Abgehobenheit. Die Spitzenfunktionär*innen der Gewerkschaften erhalten vielfach höhere Gehälter als die Mitglieder, die sie repräsentieren sollen. Das hat Auswirkungen auf ihr politisches Bewusstsein. Politisch orientiert sich der Großteil des Apparats an der SPD, die aber heute nicht mal mehr eine Arbeiter*innenpartei mit reformistischer oder bürgerlicher Führung ist, sondern zu einer rein bürgerlichen Partei verkommen ist. Diese Führung ist für die politische Entwicklung der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten verantwortlich und dafür, dass viele Kolleg*innen passiv geworden sind oder die Organisation verlassen haben. Kein Wunder, wenn immer wieder die Erfahrung gemacht wurde, dass sich nicht gegen Privatisierungen gestellt wurde, sich Gewerkschaftsspitzen an der Hartz-Kommission beteiligten, immer wieder faule Kompromisse geschlossen und Angriffe kampflos hingenommen wurden. 

Das hat innerhalb der Gewerkschaften Inaktivität und eine Stellvertreter*innenhaltung in der Mitgliedschaft gefördert. Die Mitgliederverluste und die Inaktivität sind so weit gegangen, dass sie die Stellung der Gewerkschaftsapparate selbst bedrohen, weshalb nun durch Organizing-Kampagnen und begrenzte Kämpfe versucht wird, diese Entwicklung zu stoppen. 

Wir sehen aber auch, dass die Gewerkschaftsbürokratie von zwei Seiten unter Druck steht. Einerseits übt die Kapitalseite Druck auf sie aus, Streiks zu verhindern bzw. möglichst im Rahmen zu halten, faule Kompromisse anzunehmen und sie an ihre Mitglieder zu vermitteln. Gleichzeitig muss sich die Gewerkschaftsbürokratie auf ihre Mitglieder stützen und wird von diesen finanziert. Sie steht also auch unter einem Druck ihrer Mitgliedschaft. Dieser Druck kann in bestimmten Situationen wachsen, so dass auch Gewerkschaftsführungen, die jahrelang gebremst haben, sich plötzlich dazu gezwungen sehen, zu Streiks aufzurufen, um die Kontrolle zu behalten. Das heißt aber nicht, dass sie einen Kampf dann konsequent bis zum Ende führen. Es ist wichtig, diese doppelte Rolle der Bürokratie wahrzunehmen. 

Aus unserer Sicht können die Gewerkschaften nur durch eine kämpferische Politik wieder gestärkt werden. Die letzten Jahre haben immer wieder gezeigt, dass es eine hohe Kampfbereitschaft gibt, wenn die Gewerkschaften ernsthafte Kampfangebote machen.Der Gedanke “Erneuerung durch Streik” trifft es. Im Kampf können Mitglieder gewonnen und aktiviert werden. Wenn es dann noch demokratische Entscheidungsstrukturen gibt, können Mitglieder die Gewerkschaft tatsächlich als ihre Organisation wahrnehmen und in ihrem Sinne gestalten.

Jetzt zu eurer Geschichte – welche Rolle habt ihr in Betrieben und Gewerkschaften spielen können?

Viele unserer Mitglieder – langjährige, neuere wie auch ehemalige – haben selbst sehr wichtige Beiträge zum Aufbau der Gewerkschaften geleistet, indem sie sich aktiv in Betriebsgruppen, gewerkschaftlichen Gremien oder auch in Betriebs- und Personalräten engagieren. Dafür ist viel Geduld und Ausdauer nötig. 

In Dresden hat zum Beispiel unsere Genossin Dorit Hollasky im städtischen Krankenhaus 2005 eine ver.di-Betriebsgruppe ins Leben gerufen, am Anfang war sie ganz allein. Trotzdem gelang es dann schon 2007 mit dieser Gruppe so viel Druck zu erzeugen, Pläne für einen so genannten Zukunftssicherungsvertrag zurückzuschlagen, bei dem die Beschäftigten zum Verzicht gedrängt worden wären. 2011 ging es weiter, als das Krankenhaus in eine private Rechtsform umgewandelt werden sollte. Die Ortsgruppe gründete ein Bündnis, organisierte Petitionen, Proteste und Versammlungen im Krankenhaus, und auch dieses Vorhaben wurde erfolgreich abgewehrt. 2021 kam der nächste Kampf, diesmal gegen das Vorhaben, einen der Standorte zu einem ambulanten Versorger zu verkleinern. Durch eine neuerliche Kampagne konnten wir erreichen, dass die Entscheidung auf 2024 vertagt wurde. 

Ein weiteres Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist die Arbeit von Sebastian Förster in Kassel. Er hat vor vier Jahren in einem bis dahin eher schlecht organisierten Sozialbetrieb den Grundstein für eine aktive ver.di-Betriebsgruppe gelegt und so eine Mehrheit der Kolleg*innen für die Gewerkschaft gewinnen können. Vor etwa zwei Jahren konnten sie einen Anwendungstarifvertrag zum TVÖD erstreiten, was enorme Verbesserungen bedeutet. Dies war möglich, weil er kontinuierlich und zielgerichtet daran gearbeitet hat und eine Gruppe von Mitstreiter*innen im Betrieb um sich sammeln konnte. 

Insbesondere für die Kämpfe in den Krankenhäusern, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, haben wir eine wichtige Rolle gespielt. Ausgangspunkt waren die Streiks am Berliner Universitätsklinikum Charité und die Arbeit der dortigen ver.di-Betriebsgruppe. Dort wurden neue Streikformen und die Forderung nach einem Entlastungstarifvertrag, also nach Tarifkämpfen für mehr Personal entwickelt. Die damaligen SAV-Mitglieder Carsten Becker und Stephan Gummert waren im Vorstand der Betriebsgruppe und spielten dabei eine zentrale Rolle.

Als Organisation unterstützten wir die Streiks an der Charité seit 2006 massiv, auch den dreimonatigen Streik bei der Tochtergesellschaft CFM für einen Tarifvertrag, bei dem drei SAV-Mitglieder, darunter René Arnsburg und Sascha Staničić als Mitglieder des Solidaritätskomitees in die Streikleitung aufgenommen wurden. In allen Streiks war die Organisation nicht nur mit praktischer Unterstützung  vor Ort bei den Streikposten, sondern wir haben mit unseren Genossen und den Kolleg*innen Vorschläge für die Kampfstrategie diskutiert und in die Kämpfe hineingetragen.

Es gibt noch viele andere Beispiele erfolgreicher Arbeit von einzelnen Genoss*innen und wo wir als Organisation insgesamt eine wichtige Rolle gespielt haben. Das kann hier nicht alles aufgeführt werden. Wir haben teilweise auch von außen als Organisation eingegriffen, wo es uns möglich war, zum Beispiel wenn ein Kampf gegen die Schließung eines Betriebs entbrannte. 

Wo war das der Fall?

In den 80er und 90er Jahren gab es eine Reihe von Betriebsschließungen in West- und später auch Ostdeutschland, bei denen wir intervenierten und Unterstützungsarbeit leisteten. 1987 zum Beispiel beim 173 Tage langen Kampf für den Erhalt des Stahlwerks und der mehr als 6000 Arbeitsplätze beim Krupp-Werk in Duisburg-Rheinhausen. In diesem Kampf mit Betriebsbesetzung und einem regionalen Generalstreik organisierten wir Solidaritätsarbeit und entwickelten ein sozialistisches Programm für die Verstaatlichung der Stahlindustrie unter Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung.

1993 organisierten wir Solidarität für die Kolleg*innen des Kali-Bergwerks Bischofferode, die einen harten und langen Kampf mit Demonstrationen, Betriebsbesetzung und Hungerstreik gegen die Schließung ihres betriebs führten. 

1996 sollte im Kölner Stadtteil Kalk die Traktorenfabrik Deutz-Fahr geschlossen werden. Damalige SAV-Mitglieder initiierten die Stadtteil-Initiative “Arbeit in Kalk” und mobilisierten Belegschaft und Anwohner*innen zu Protesten. Die IG Metall blockte Vorschläge ab, die in Richtung Streik gingen. Nach Diskussionen auf einer SAV-Veranstaltung mit Kollegen, ergriffen diese die Initiative zum “wilden” Streik. Dieser dauerte 13 Tage und war einer der wenigen Streiks von unten in den letzten Jahrzehnten. Eine Schließung des Werks konnte nicht verhindert werden, da die IG Metall keine effektive Unterstützung organisierte. Immerhin aber musste das Abfindungsvolumen verdoppelt werden

In den Nuller Jahren gab es wiederum eine Reihe von betrieblichen Kämpfen wie bei Opel Bochum, AEG Nürnberg, den Werften, CNH und Bosch Siemens Hausgeräte (BSH) in Berlin. Wo immer es uns möglich war, praktizierten wir Solidarität und machten Vorschläge dafür, wie die Kämpfe zum Erfolg geführt werden könnten. 

Wie habt ihr in Tarifbewegungen eingegriffen?

Wir haben nie einfach nur unsere Solidarität erklärt, sondern immer Vorschläge eingebracht, welche Forderungen aufgestellt werden sollten und wie Streiks  effektiv geführt werden können. So zum Beispiel auch schon 1984 beim wichtigen Streik in der Druck- und Metallindustrie für die 35-Stunden-Woche. Wir betonten damals, dass es wichtig wäre, die Forderung nach der 35-Stunden auf einen Schlag durchsetzen und dass die Kampfkraft und vor allem auch die Kampfbereitschaft dafür vorhanden war. Mit der Einführung der 35-Stunden-Woche in kleinen Schritten erst zum Oktober 1995 konnten die Unternehmen den arbeitsplatzschaffenden Effekt kompensieren. Wir haben seitdem immer die Idee verteidigt, dass die Forderung nach deutlicher Arbeitszeitverkürzung in großen Schritten nicht nur mit vollem Lohn-, sondern auch Personalausgleich durchgesetzt werden muss, damit der Arbeitsdruck nicht erhöht wird. 

Wir haben vor allem in den Tarifrunden im öffentlichen Dienst immer stark interveniert, beginnend mit den Forderungsdiskussionen bis zum Ergebnis. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die meisten unserer betrieblichen Mitglieder in diesem Bereich tätig waren und sind. Wir haben hier zum Beispiel die Forderung nach Festgelderhöhungen betont und uns für die volle Durchsetzung der Forderungen durch den Einsatz der gesamten Kampfkraft mittels Erzwingungs- und Vollstreiks eingesetzt. Gerade in der letzten Tarifrunde im öffentlichen Dienst 2023 haben wir an einem kritischen Punkt mit einer Petition eingegriffen, die forderte, dass nicht ein ähnlich schlechter Kompromiss wie kurz davor bei der Post abgeschlossen werden sollte. Außerdem erklärten wir schon von Beginn dieser wichtigen Tarifrunde, dass die Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst aufgekündigt werden muss, weil mit einer Schlichtung immer die Dynamik eines Arbeitskampfes unterbrochen wird und sie genutzt wird, Druck für einen faulen Kompromiss aufzubauen. 

Im Gegensatz zu manch anderen haben wir auch die Streiks der GDL immer solidarisch unterstützt. Gerade mit ihrem kämpferischen Vorgehen hat diese seit 2007 als Vorbild gewirkt und damit auch auf die DGB-Gewerkschaften indirekt Druck ausgeübt. Wir beteiligten uns an der von dem im letzten Jahr leider verstorbenen linken Verkehrsexperten Winfried Wolf initiierten„Streikzeitung“, um die Kolleg*innen zu unterstützen und der medialen Hetze gegen die GDL etwas entgegenzusetzen. Das war auch wichtig, weil die DGB-Gewerkschaften in der Mehrheit ihre Solidarität verweigerten, mit der Begründung, dass die GDL eine unsolidarischer Berufsverband sei. Wir erklärten hingegen, dass Angriffe auf die GDL und ihr Recht auf Streik auf die DGB-Gewerkschaften zurückfallen würden. Deshalb brachten wir auch in die Gewerkschaften die Forderung ein, sich gegen das Tarifeinheitsgesetz zu wehren. Zweifelsfrei hat die “Streikzeitung” eine wichtige Rolle dabei gespielt, gerade in der Linkspartei, bei ver.di und unter linken Gewerkschafter*innen die Haltung zu den GDL-Streiks zu ändern.

Einschränkungen in das Streikrecht werden auch in der nächsten Zukunft wieder auf die Tagesordnung kommen und die Notwendigkeit von Widerstand bis hin zum politischen Streik aufwerfen.

Es hat auch große bundesweite Demonstrationen und gewerkschaftliche Proteste gegen allgemeine Angriffe gegen die Arbeiter*innenklasse gegeben. Welche Rolle konntet ihr dabei spielen?

Wir konnten mehrmals eine Art Hebelfunktion ausüben und als kleine Organisation große Proteste anstoßen. Das war zum Beispiel 1996 der Fall, als die Kohl-Regierung sehr weitgehende Kürzungen gegen die Arbeiter*innenklasse beschlossen hatte. Wir ergriffen die Initiative zu einer Kampagne für einen 24-stündigen Generalstreik und bildeten mit anderen das “Bündnis Sternmarsch gegen Sozialabbau”, das zu einer Großdemo mobilisierte, die dann vom deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) übernommen wurde. Über 350.000 gingen im Juni 1996 in Bonn auf die Straße.

Dann entwickelte sich eine breite gesellschaftliche Protestbewegung, als die rot-grüne Schröder-Regierung 2003 den bislang weitestgehend Angriff auf die sozialen Sicherungssysteme fuhr. Gegen die Agenda 2010 entwickelten sich soziale Proteste von unten. Wir erkannten sofort die Sprengkraft dieser Attacke und forderten von den Gewerkschaften, den Kampf dagegen aufzunehmen. Gleichzeitig warteten wir nicht darauf, sondern ergriffen selbst die Initiative. Wir gingen auf linke Gewerkschafter*innen, Erwerbslosengruppen und andere zu und führten gemeinsam zwei Aktionskonferenzen durch, um eine große Demonstration zu organisieren. Niemand hatte erwartet, dass diesem Aufruf im November 2003 100.000 Menschen folgen würden. 

Wir forderten einen 24-stündigen Generalstreik als nächsten Schritt, um diese weitreichenden Angriffe zu stoppen. Dass der DGB es bei einer Dampf-Ablass-Aktion im Mai 2004 belassen und die Schröder-Regierung die Agenda 2010 durchsetzen konnte, zeigte einmal mehr, wie dringend nötig der Aufbau einer kämpferischen Strömung in den Gewerkschaften ist. Das gilt gerade jetzt, wo bereits eine Agenda 2030 mit möglicherweise noch härteren Einschnitten diskutiert wird. 

Was ist nötig für eine Veränderung in den Gewerkschaften und dafür, sich auf solche kommenden Angriffe vorzubereiten?

Die Politik der Sozialpartnerschaft muss beendet werden. Stattdessen müssen sich die Gewerkschaften konsequent mit dem Kapital und der Regierung anlegen und Mobilisierungen bis hin zum politischen Streik durchführen. 

Dazu ist es auch nötig, die Überwindung des Kapitalismus in den Gewerkschaften wieder als Ziel zu verankern. Doch um die Kräfteverhältnisse innerhalb der Gewerkschaften zu verändern, ist es nötig, eine systematische Vernetzung, eine innergewerkschaftliche Opposition für einen politischen und personellen Wechsel aufzubauen. Dies ist keine Aufgabe, die sich innerhalb kurzer Zeit erledigen lässt, sondern eine kontinuierliche, bei der es einen langen Atem braucht.

Dazu gehört auch, sich für umfassende Gewerkschaftsdemokratie einzusetzen. Besonders betrifft das die Strukturen innerhalb von Arbeitskämpfen und Tarifrunden. Die Kolleg*innen in den Betrieben müssen die Möglichkeit haben, während eines Streiks in regelmäßigen Versammlungen und Diskussionen über alle Schritte im Arbeitskampf zu entscheiden. Wir bringen seit einiger Zeit die Forderung nach bundesweiten Streikdelegiertenkonferenzen ein, die mit vollen Rechten ausgestattet werden, über die Strategie zu diskutieren und zu entscheiden, sowie über die Annahme oder Ablehnung eines Angebots in Rückkopplung mit den Kolleg*innen in den Betrieben. 

Mit dieser konkreten Forderung haben wir an der realen Entwicklung aus dem vierwöchigen Streik in der Tarifrunde im Sozial- und Erziehungsdienst 2015 angeknüpft, in der eine solche bundesweite Streikdelegiertenkonferenz ins Leben gerufen worden war. Das war ein großer Fortschritt, der aber wieder rückgängig gemacht wurde. Allerdings wurden auch damals die Delegierten mitten im Arbeitskampf vor vollendete Tatsachen gestellt, als die Schlichtung angerufen wurde, und die ver.di Führung dann das schlechte Ergebnis zur Annahme empfahl. Ein Genosse von uns war Streikdelegierter und setzte sich dafür ein, dass eine Mitgliederbefragung durchgeführt wurde, in der eine einfache Mehrheit ausreichte, um das Ergebnis abzulehnen. Eine deutliche Mehrheit von etwa siebzig Prozent votierte dann gegen das Ergebnis. Doch die ver.di-Führung war nicht gewillt, den Arbeitskampf konsequent fortzusetzen. Um das Ruder rumzureißen, wäre eine starke organisierte Vernetzung von Kolleg*innen nötig gewesen, die dann eine Kampfstrategie hätten vorschlagen und durchsetzen müssen. 

Im Gegensatz zu anderen linken Gruppen vertreten wir eine Gewerkschaftsstrategie von unten und oben. Das bedeutet, dass wir es für richtig halten, Positionen in gewerkschaftlichen Vorstandsgremien zu erobern oder auch in Betriebs- und Personalräten mitzuarbeiten. Das Ziel ist, klassenkämpferische Mehrheiten auf allen Ebenen zu erlangen. Natürlich gibt es immer die Gefahr, durch eine solche Arbeit aufgesogen zu werden und sich anzupassen. Auch deshalb ist es so wichtig, dass man sich kollektiv in oppositionellen Vernetzungsstrukturen organisiert. Für unsere eigenen Mitglieder sehen wir es als wichtig an, den Kampf nicht nur durch eine betrieblich-gewerkschaftliche Brille zu sehen, sondern im Zusammenhang mit den politischen Aufgaben. Deshalb achten wir darauf, dass unsere Mitglieder auch an die Sol-Ortsgruppen und die politischen Diskussionen angebunden sind. Hier oder auch in speziellen Treffen für diesen Bereich gibt es auch den Raum für einen Austausch unserer Genoss*innen. 

Welche Schritte habt ihr bisher unternommen, um eine kämpferische Strömung in den Gewerkschaften zu stärken?

1996 ergriffen wir gemeinsam mit anderen, wie dem damaligen Personalratsvorsitzenden des Aachener Studentenwerks, Manfred Engelhardt,  die Initiative zum Aufbau vom „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ötv“ (Gewerkschaft für öffentliche Dienste, Transport und Verkehr – 2011 fusionierte diese mit anderen Gewerkschaften zu ver.di). Nach einem Verrat der ötv-Führung nach einem elf Tage langen Erzwingungsstreik im öffentlichen Dienst im Jahr 1992 gab es viel Kritik und Unmut an der Basis. Auf der Grundlage konnten wir das Netzwerk gründen. 

Innerhalb der IG Metall gab es bei Daimler einige linke, kämpferische Kolleg*innen wie Tom Adler und andere, die in Stuttgart-Untertürckheim eine eigene Betriebszeitung, die „alternative“, herausbrachten und auch bei Betriebsratswahlen oppositionelle Listen aufstellten. Wir unterstützten sie und halfen später auch Kolleg*innen bei Daimler-Marienfelde in Berlin, eine solche Zeitung herauszubringen und eine alternative Metaller-Liste aufzustellen. Das war nötig geworden, um sich gegen das betriebliche Co-Management der IGM-Mehrheit im Betriebsrat zu wehren. Die IG Metall wurde von vielen Kolleg*innen im Betrieb genau dafür kritisiert. Dabei war es gleichzeitig wichtig, der Gewerkschaft nicht den Rücken zu kehren, sondern innerhalb ihrer Strukturen für einen klassenkämpferischen Kurs einzutreten und Mehrheiten dafür zu gewinnen. Die Berliner IG Metall-Führung reagierte mit einem bürokratischen Ausschlussverfahren, wogegen wir gemeinsam mit den betroffenen Kolleg*innen eine Verteidigung-Kampagne organisierten, die in Berlin wie auch bundesweit Beachtung fand.

2019 ergriffen wir mit anderen gemeinsam die Initiative für den Wiederaufbau einer Gewerkschaftslinken unter dem Namen „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ (VKG), woran sich auch viele andere linke Gewerkschaftsinitiativen beteiligten. Bei zwei Konferenzen versammelten sich jeweils etwa hundert Teilnehmer*innen und es wurden viele Stellungnahmen und Beiträge zur innergewerkschaftlichen Diskussion erstellt. Vereinzelt konnte die VKG auch örtlich Initiativen für Proteste ergreifen, wie zum Beispiel Kundgebungen am 1. Mai während der Corona-Pandemie, als die Gewerkschaften darauf verzichteten. Allerdings steht in der VKG noch die Aufgabe an, mehr betrieblich und gewerkschaftlich Aktive für eine aktive Mitarbeit zu gewinnen.  

Insgesamt sehen wir aber jetzt ganz neue Möglichkeiten dadurch entstehen, dass mehr Bewegung in die Betriebe kommt und das drückt sich natürlich dann auch in den Gewerkschaften aus. Wir müssen jetzt Kolleg*innen zusammenbringen und gemeinsame Projekte anzugehen, wie zum Beispiel Anträge einzubringen, dass die Gewerkschaften den Kampf gegen Kürzungen oder auch zukünftig gegen die Einschränkung des Streikrechts aufnehmen. Es ist davon auszugehen, dass auch verallgemeinerte Angriffe der Kapitalseite deutlich an Härte zunehmen. Eine Agenda 2030 wird vorbereitet. Daher wird es wichtiger, an diesen Themen Kolleg*innen zu sammeln und koordiniert vorzugehen. Auch das Thema der Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich wird wieder wichtiger, wenn die Rezession zu noch mehr Entlassungen und Schließungen führt. 

Wie geht ihr es an, sozialistische Ideen in die Betriebe und Gewerkschaften einzubringen? Das scheint doch für die meisten sehr weit weg zu sein.

Als Nachwirkung des Zusammenbruchs des Stalinismus gibt es immer noch ein zurückgeworfenes Bewusstsein in der Masse der Arbeiter*innenklasse. Auch wenn viele die Auswüchse des Kapitalismus und sogar das System insgesamt ablehnen, gibt es wenig Vorstellung von einer gesellschaftlichen Alternative und davon, was mit Sozialismus eigentlich gemeint ist. Das wird aktuell durch den Niedergang der Partei die LINKE verstärkt. Die politische Verwirrung ist groß. Viele wissen nicht, was sie wählen sollen, sogar ein nicht geringer Prozentsatz von Gewerkschaftsmitgliedern geht gar der AfD auf den Leim, weil es an einer linken kämpferischen Perspektive mangelt. Gleichzeitig sehen wir jetzt, wie sich die Lage für große Teile der Arbeiter*innenklasse (wie auch der Mittelschichten) dramatisch verschlechtert. Viele sind aber konkret von den Preissteigerungen, enorm gewachsenem Arbeitsdruck, Kürzungen in Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge, schlechter Gesundheitsversorgung, Mängeln im Bildungssystem, schlechter Infrastruktur, Umweltzerstörung und vielem mehr betroffen und sagen, dass es so nicht weitergehen kann. Indem wir konkrete Programme mit Forderungen entwickeln und in die Kämpfe hineintragen, schlagen wir eine Brücke von den heutigen Kämpfen hin zur Notwendigkeit und Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft. 

Was sind die weiteren Perspektiven und Ziele eurer Arbeit?

In diesem Jahr hat es ein Wiederaufleben von Streiks gegeben und die Arbeiter*innenklasse ist wieder verstärkt auf die Bühne getreten. ver.di hat beispielsweise im Zuge der Streiks 2023 140.000 neue Mitglieder hinzugewonnen und in einigen Betrieben gelang es, neue Kolleg*innen zu aktivieren. Wir konnten insbesondere mit dem „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di“ eine Reihe von Kolleg*innen erreichen, nachdem diese in den Streiks aktiv wurden, aber mit den Ergebnissen nicht zufrieden waren. Auf dem ver.di-Bundeskongress konnten Marie Schulpig und René Arnsburg – zwei Sol-Mitglieder, die aus ver.di Berlin delegiert waren – einen Eindruck hinterlassen und gemeinsam mit anderen die Stimme gegen Sozialpartnerschaft und Aufgabe der antimilitaristischen Grundsätze erheben. Bei Treffen des Netzwerks haben im letzten Jahr Dutzende Kolleg*innen erstmals teilgenommen, und das Ziel ist, hier systematisch Vernetzungsstrukturen aufzubauen. 

Andererseits müssen wir auch darauf vorbereitet, dass Kolleg*innen sich außerhalb der traditionellen Gewerkschaften organisieren und kämpfen, wenn sie die Blockade der Bürokratie nicht durchbrechen können. Wir müssen auch dann intervenieren, dabei sein und Vorschläge hineintragen. 

In all diesen Auseinandersetzungen wird eins immer klarer zutage treten: der Kapitalismus bietet keine Lösung für irgendeines der brennenden Probleme, sei es Inflation, Energiekrise,  Arbeitsdruck, schlechte Gesundheitsversorgung, Bildungsnotstand oder öffentlichem Verkehr, Kriege und Umweltzerstörung. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die täglichen Kämpfe mit einer sozialistischen Perspektive zu verbinden und diese Diskussion verstärkt in die Gewerkschaften zu tragen.