Massenproteste stürzen Regierung in Bangladesch

Studierendenproteste stürzen Regierung, Bild: Rayhan9d, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:7.Bangladesh_quota_reform_movement_2024.jpg, CC BY-SA 4.0

Kein Vertrauen in die kapitalistische Elite

Die revolutionäre Massenbewegung in Bangladesch ist an einem kritischen Punkt angelangt. Es wurde eine 17-köpfige Übergangsregierung gebildet, der einige der führenden jungen Aktivisten angehören, die aus den Massenprotesten hervorgegangen sind, die die Regierung gestürzt haben.

von Tu Senan, Internationales Sekretariat des Komittees für eine Arbeiter*inneninternationale

Premierministerin Sheikh Hasina floh am 6. August aus dem Land, nachdem Demonstrierende ihre Residenz gestürmt hatten. Ihre Partei, die Awami-Liga, und ihre korrupten Verbündeten blieben jedoch weitgehend unversehrt. In der Zwischenzeit wartet die ebenso korrupte und undemokratische Oppositionspartei, die Bangladesh Nationalist Party (BNP) – eine rechte Partei, die in der Vergangenheit eine Politik gegen Arbeitende und Jugendliche betrieben hat – darauf, jede sich bietende Gelegenheit zu ergreifen.

Gefahr der Konterrevolution

Wenn die derzeitige Situation anhält, ohne dass entschiedene Maßnahmen zur Übertragung der Macht an demokratisch kontrollierte Ausschüsse von Demonstrant*innen, Arbeiter*innen und Armen ergriffen werden, könnten die reaktionären Kräfte allmählich wieder an Stärke gewinnen. Die protestierenden Studierenden mussten bereits am 9. August eingreifen, als ein Gericht einberufen wurde, was sie als versuchten “Justizputsch” betrachteten, der die neue Übergangsregierung untergrub. Der Oberste Richter trat erst zurück, nachdem die Demonstrierenden das Gericht umstellt hatten.

In der Zwischenzeit hat die Awami-Liga begonnen, ihre Rückkehr zu planen. Hasinas Sohn erklärte am 10. August, dass sie zurückkehren werde, da sie vor ihrer Flucht nicht offiziell zurückgetreten sei.

Die am 8. August vereidigte Interimsregierung unter der Führung von Muhammad Yunus bietet kaum einen sinnvollen Weg in die Zukunft. Yunus ist bekannt für seine mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Arbeit auf dem Gebiet der Mikrokredite und der Mikrofinanzierung und hat diese Instrumente für eine neue Form des Kapitalismus konzipiert. In der Praxis haben sie jedoch nur die Armut vertieft und das Wohlstandsgefälle in Bangladesch und anderen armen Ländern vergrößert. Yunus, der heute Multimillionär ist, vor allem dank der Gewinne, die er mit den ärmsten Frauen in Bangladesch gemacht hat, genießt immer noch die Unterstützung derjenigen, die von der Mikrofinanzierung profitiert haben. Sein Bekanntheitsgrad und seine frühere Verfolgung durch Hasina haben dazu geführt, dass er von den “Studierenden gegen Diskriminierung”, einer Dachorganisation protestierender Student*innen, als Interimschef ausgewählt wurde.

Wofür steht Muhammad Yunus?

Yunus stellt die Einsetzung der neuen Regierung als “Neue Dämmerung des Sieges” dar, vermeidet es aber bewusst zu sagen, was diese Dämmerung tatsächlich bedeuten könnte. Es ist unwahrscheinlich, dass unter seiner Führung die Ursachen des profitorientierten, korrupten kapitalistischen Systems an der Wurzel angepackt werden.

Stattdessen bleibt Yunus ein Verbündeter sowohl der einheimischen Kapitalist*innen als auch des westlichen Kapitalismus, insbesondere des US-Kapitalismus. Sein Ansatz, die Menschen mit einem Mikrokredit nach dem anderen zu “befreien”, ist bisher gründlich gescheitert. Er hat die Revolution als Methode zur Herbeiführung von Veränderungen lange Zeit abgelehnt. Ironischerweise findet er sich nun als Staatsoberhaupt nach einem revolutionären Aufstand wieder. Es darf ihm nicht erlaubt werden, die Rückgabe der Macht an einen Teil der kapitalistischen Elite zu überwachen.

Um Zeit zu gewinnen, haben sich alle reaktionären, pro-kapitalistischen Kräfte darauf geeinigt, sich auf zwei Hauptthemen zu konzentrieren: die Herstellung der so genannten “Ruhe und Ordnung” und die Vorbereitung einer “freien und fairen Wahl”. Ihr Ziel ist es, die Menschenmassen, die derzeit die Macht auf den Straßen innehaben, zu zerstreuen und die Demonstrierenden nach Hause zu schicken.

Verschiedene Studierenden- und Jugendorganisationen, von denen einige während der Massenbewegung eilig gegründet wurden, haben teilweise die Kontrolle über wichtige Funktionen übernommen, darunter die Verteilung von Lebensmitteln und Medikamenten, die Verkehrsregelung und vieles mehr. Im Namen von “Ruhe und Ordnung” werden die staatlichen Institutionen die Kontrolle zurückerobern.

Sind Neuwahlen die Lösung?

Die Vorstellung, dass eine Neuwahl allein alle Forderungen der Arbeitenden, der Jugend und der Armen in Bangladesch erfüllen wird, ist ein Trugschluss. Sie wird wahrscheinlich dieselbe alte Garde in neuem Gewand zurückbringen. Entscheidende Fragen bleiben unbeantwortet: Was ist die Lösung für die Wirtschaftskrise des Landes? Wie sieht die Zukunft des Bildungs- und Gesundheitswesens und anderer wichtiger Dienstleistungen aus? Wie werden Lebensmittel und andere lebensnotwendige Güter an die Armen und Bedürftigen verteilt? Wie können die Rechte der Gewerkschaften wiederhergestellt werden? Wie können die Arbeitsbedingungen, einschließlich der Löhne, verbessert werden? Und vor allem: Wer wird die Gesellschaft zum Wohle aller leiten? Weder die führenden Köpfe der Studierendenbewegung noch irgendjemand in der Übergangsregierung hat diese wichtigen Fragen bisher beantwortet.

Die Bewegung, die im Juni begann und ursprünglich durch die Einführung einer 30 Prozent-Quote für die Nachkommen von Freiheitskämpfern ausgelöst wurde, hat sich weit über die einfache Forderung nach einer Quotenreform hinaus entwickelt. Um zu verhindern, dass die Opposition historische Missstände und den Einfluss der Familien der Freiheitskämpfer bei den Wahlen 2023 gegen sie ins Feld führt, versuchte Sheikh Hasina, ihre Unterstützung durch die Erhöhung der Quote zu stärken. Dies ging jedoch nach hinten los und löste breite Unzufriedenheit aus.

Aufgestaute Wut

Der Widerstand gegen die privilegierten Familien wuchs seit Jahren aufgrund von eklatanter Korruption, Manipulationen bei landesweiten Examen und anderen Ungerechtigkeiten, die nur einem Teil der Mittelschicht und der kapitalistischen Elite zugute kamen, welche die öffentliche Ämter beherrschen. Millionen von Menschen wurden vom so genannten “Bangladesch-Wirtschaftswunder” ausgeschlossen.

Die Textilarbeiter*innen, die das Rückgrat dieses Wachstums waren – und Bangladesch zum zweitgrößten Textilexporteur der Welt gemacht haben – leben nach wie vor unter katastrophalen Arbeitsbedingungen und verdienen nur magere Löhne. Hasina, die mit dem Versprechen von mehr Demokratie, besserer Sozialhilfe und sozialen Reformen an die Macht kam, weckte bei einigen Menschen zunächst Hoffnungen und Erwartungen. Diese Hoffnungen wurden jedoch schnell zunichte gemacht, da unter ihrer Herrschaft viele noch tiefer in die Armut gestürzt wurden, während sich ihre Familie und ihre Verbündeten durch Korruption und Plünderung bereicherten. Die aufgestaute Wut und Verzweiflung fand ein Ventil, als sie beschloss, mit brutaler Gewalt gegen die Massenopposition vorzugehen, was zum Tod von Hunderten von Demonstrierenden führte.

Das harte Durchgreifen löste im ganzen Land eine revolutionäre Stimmung aus, die schließlich zu Hasinas Sturz führte. Obwohl Hasina zur Flucht gezwungen wurde, ist es der Bewegung bisher nicht gelungen, sich zu organisieren, um mit klaren Forderungen voranzukommen, die die Wut und die Hoffnungen der Massen wirklich zum Ausdruck bringen. Eine einfache Rückgabe der Macht an die eine oder andere Fraktion der kapitalistischen Elite wird keinen wirklichen Wandel herbeiführen.

Lehren anderer Bewegungen

Die Bewegung in Bangladesch kann viel von den jüngsten Aufständen im Sudan, in Sri Lanka, Chile und anderswo lernen. Diese Bewegungen haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, die herrschenden Eliten zu stürzen und neue Gesellschaften zu schaffen. Die Verwirklichung dieses Potenzials wurde jedoch neben anderen Komplikationen durch zwei Schlüsselfaktoren eingeschränkt: das Fehlen demokratisch organisierter Strukturen und eines weitsichtigen Programms.

Eine Massenbewegung lässt sich nicht wie ein Wasserhahn kontrollieren, der nach Belieben auf- und zugedreht werden kann. Wenn sie anschwillt, entfaltet sie eine ungeheure Kraft, die größer ist als jeder Staat und seine Institutionen und die in der Lage ist, diese Institutionen in kürzester Zeit ohnmächtig zu machen. Doch die Bewegung allein wird die Machtfrage nicht automatisch lösen.

Sobald sich die Massen zerstreuen, werden Teile des Establishments oder das, was davon übrig geblieben ist, einspringen, um das Vakuum zu füllen und so die Kontinuität der alten Ordnung wiederherzustellen. Während dieser Übergangszeit können einige Demonstrant*innen, insbesondere diejenigen, die die herrschende Elite und die kapitalistische Ordnung nicht direkt herausfordern, den Eindruck erwecken, die Macht zu teilen.

Gruppen von so genannten “Fachleuten”, sei es in Myanmar, im Sudan oder in den in Sri Lanka oder Bangladesch eingerichteten beratenden Ausschüssen, dürfen die Macht nicht unabhängig ausüben. Sie werden oft als Übergangslösung eingesetzt, um die Macht der Straße zu unterdrücken, oder sie werden in das Establishment eingegliedert, wobei sie manchmal sogar den Arbeiter*innen Schläge versetzen, die die kapitalistische Elite selbst vermeiden würde – ähnlich wie wir es in Chile unter der Regierung von Gabriel Boric erlebt haben. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, besteht darin, die Energie, die Wut und die Wünsche der Massenbewegung in organisierte, demokratisch geführte Strukturen zu lenken.

Die Bildung von Komitees an Arbeitsplätzen, Universitäten und auf dem Land, die auf nationaler Ebene durch demokratisch gewählte Vertreter*innen zusammengeführt werden, ist ein entscheidender Schritt, um die Verbindung zu den Massen aufrechtzuerhalten und ihre Präsenz bei der Entscheidung über die von ihnen gewünschte Zukunft sicherzustellen. Diese Strukturen müssen die Hauptforderungen der Bewegung artikulieren und eine Strategie und einen Plan zu ihrer Verwirklichung vorlegen. Diese Forderungen und das Programm sollten die Bestrebungen der Massen zum Ausdruck bringen und auf allen Ebenen dieser Ausschüsse diskutiert werden.

Sozialistisches Programm

Ein Programm könnte die Umsetzung eines wirtschaftlichen Notfallplans beinhalten. Der Gouverneur der Zentralbank von Bangladesch ist inzwischen zurückgetreten. Anstatt ihn durch einen anderen Kapitalisten zu ersetzen, könnte die Studierendenbewegung die Forderung aufstellen, dass die Banken und andere Schlüsselsektoren der Wirtschaft verstaatlicht und unter die Kontrolle der Arbeiter*innen gestellt werden.

Darüber hinaus könnte sie Forderungen wie den Erlass aller Mikro- und Makroschulden und die vollständige Verstaatlichung des Gesundheits- und Bildungswesens vorbringen und sie unter die Kontrolle demokratisch gewählter Ausschüsse stellen. Eine solche Struktur und ein solches Programm wären in der Lage, die Bestrebungen der Massenbewegung in vollem Umfang zu erfüllen und über die unmittelbaren Forderungen zur Schaffung einer Planwirtschaft im Interesse aller hinauszugehen – einer sozialistischen Gesellschaft, die als Leuchtturm für alle Kämpfenden in der Region und darüber hinaus dienen könnte.

Ein solcher organisierter Ansatz ist in Bangladesch noch nicht entstanden oder artikuliert worden. Zumindest sollten sich die derzeitigen Vertreter*innen der Studierenden für die Beseitigung aller korrupten privaten Einflüsse im Bildungssektor und darüber hinaus einsetzen und gleichzeitig die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung fordern – einer Versammlung von Vertreter*innen aus allen Bereichen der Gesellschaft, die die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und einer Regierungsstruktur überwachen soll, die den Willen der Massen widerspiegelt.

Internationale Solidarität

Die mächtige bangladeschische Diaspora, die die Massenbewegung bisher unterstützt hat, könnte ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Es könnte ein internationales Solidaritätskomitee der Diaspora eingerichtet werden, das die Diskussionen im Land unterstützt und an ihnen teilnimmt, um einen Weg in die Zukunft zu formulieren. Dieses Komitee könnte auch Maßnahmen ergreifen und eine Politik vorantreiben, die mit den Interessen der Massen in ihren Gastländern übereinstimmt und mit denen bricht, die die wohlhabenden und korrupten Eliten unterstützen.

Der Einfluss der Eliten auf die bangladeschische Gesellschaft muss durch die Bildung einer Opposition von unten, den Aufbau einer Arbeiter*innenpartei und die Verabschiedung eines weitsichtigen sozialistischen Programms bekämpft werden. Die revolutionäre Massenbewegung hat neue Möglichkeiten eröffnet, dies zu erreichen.