Der Horror in den eigenen vier Wänden

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Nachrichten über Vergewaltigungen und Frauen-Morde aus mehreren Ländern rufen international Entsetzen hervor

Gruppenvergewaltigung am Arbeitsplatz in Deutschland, jahrelange Folter und Vergewaltigung in Polen und Frankreich, die Morde an einer Marathon-Läuferin in Kenia und einer Frau in der Schweiz; in den vergangenen zwei Wochen erreichte die Berichterstattung über Gewalt an Frauen einen neuerlichen Höhepunkt. Aufgrund der Bekanntheit der Frauen oder der Schwere der Tat gelangen diese Fälle zu größerer Aufmerksamkeit. Gewalt dieser Art, tödliche eingeschlossen, ist jedoch keine Ausnahme und allein eine Recherche nach dem immer noch verwendeten verharmlosenden Begriff “Familientragödie” bringt für jede Woche neue Berichte über die Ermordung von Frauen und Familien durch Männer.

von René Arnsburg, Berlin

Dabei umfasst Gewalt eine ganze Bandbreite, die von der alltäglichen strukturellen Benachteiligung, physischen oder psychischen Übergriffen zuhause, auf der Arbeit, Uni oder Schule bis hin zu Vergewaltigung und Mord am extremen Ende des Spektrums reichen.

Die “Einzelfälle” haben System

Es gibt tägliche Gewalt und es gibt besonders schwerwiegenden Fälle, die uns als Einzelfall dargestellt werden. Die jahrelange Folter und Vergewaltigung einer Frau in Polen, die vom Vergewaltiger gefangen gehalten wurde, kommt, wie der Fall von Natascha Kampusch in Österreich es war, vielleicht seltener vor. Mit der Fokussierung auf die Besonderheit der Tat oder des Täters, etwaiger psychischer Faktoren und anderer individualisierter Analysen wird aber der Weg zu einer Erklärung versperrt, welche gesellschaftlichen Bedingungen solche Taten überhaupt möglich machen. 

Fernab davon, ein System zu sein, in dem die Frage der Frauenunterdrückung gelöst wäre, wie es gern von Politik und Medien dargestellt wird, ist hier gar nichts gelöst. Bei aller Besonderheit bestimmter Fälle (jeder Fall ist ohnehin besonders und persönlich für die  Betroffenen), ist die Art und Weise, wie Gewalt und gegen wen Gewalt ausgeübt wird, strukturell oder besser: systemisch. 

Die betroffene Frau aus Polen lernte den Vergewaltiger über ein Datingportal kennen. Übergriffe und versuchte oder vollendete Vergewaltigungen im Rahmen eines Dates sind so häufig, dass es dafür seit einigen Jahren einen Begriff gibt: Date Rape (dt. Rendezvous-Vergewaltigung). Der Anteil von Date Rapes an angezeigten und verurteilten Vergewaltigungen ist zwar vergleichsweise gering, aber in Umfragen gibt ein hoher Anteil von Frauen an, Opfer einer versuchten oder vollendeten Vergewaltigung während einer Verabredung gewesen zu sein. Je jünger die Befragen sind, desto häufiger werden Übergriffe bei Verabredungen.1 Die Beweislage in solchen Fällen ist besonders schwierig, da oft Betäubungsmittel eingesetzt werden und Frauen in einer Dating-Situation ohnehin schwerer für die Justiz glaubwürdig nachweisen können, dass sie sexuelle Handlungen abgelehnt haben.

Im Fall der Ehefrau, die in Frankreich durch ihren Ehemann betäubt und von ihm und bis zu 50 weiteren Männern über Jahre hinweg vergewaltigt wurde, kann man ohnehin nicht von einem Einzelfall sprechen. Hier ist ebenfalls die Frage, was den engsten Angehörigen und dutzende von Männern aus ihrem Umfeld dazu bringt, den Willen und die Selbstbestimmung von Gisèle P. als null und nichtig anzusehen und sie zu vergewaltigen. Genauso stellt sich die Frage im Fall in Schöppingen, wo drei Security-Mitarbeiter ihre Kollegin mehrfach vergewaltigten. Doch eine weitere drängt sich hier auf: Während Gisèle P. und ihre Ärzte nicht herausfanden, woher ihre Verletzungen und Gedächtnislücken stammten und sogar auf eine Alzheimer-Erkrankunge spekulierten, fragt sich im Fall von Schöppingen, welche Umstände die Frau zwangen, zurück an den Arbeitsplatz mit ihren gewalttätigen Kollegen zu kehren. Eine Antwort wie: “Sie hätte sich doch einen anderen Job suchen können,” zeugt im besten Fall von Unwissenheit, im schlimmsten Fall von bösartiger Ignoranz, die der Betroffenen selbst die Verantwortung in die Schuhe schiebt. Eine wirkliche Antwort muss beleuchten, warum Frauen in solche Situationen geraten und sie nicht verlassen können.

Der Mord an der ugandischen Läuferin Rebecca Cheptegei nach einem Streit mit ihrem Partner reiht sich in ein häufigeres Extrem der Gewalt ein – die Frauenmorde (auch „Femizide“ genannt). Die eigenen vier Wände, in denen sie Partner oder männliche Familienangehörige treffen, gehören für Frauen immer noch zu den gefährlichsten Orten. Vor allem in Auseinandersetzungen, während oder nach einer Trennung, wenn der Mann einen Kontrollverlust über die Partnerin erfährt, ist die Gefahr am höchsten. 2023 sind laut offizieller Statistik 155 Frauen in Deutschland von ihrem Partner umgebracht worden, 22 mehr als im Vorjahr. 331 wurden Opfer eines Mordversuchs.2 Dieses oft als „Ehrenmord“, „Familientragödie“ oder „Mord aus Leidenschaft/Liebe“ deklarierte Phänomen, kommt nicht nur in einem bestimmten Kulturkreis oder einer Religionsgemeinschaft vor.

Patriarchale Strukturen und Reproduktion – Sexismus in der Krise

Patriarchale Verhältnisse gibt es schon seit Jahrtausenden. Etwas vereinfacht könnte man sagen, dass es bedeutet, dass jemand den Zugang zu den Produktionsmitteln kontrolliert, weil er ein Mann ist und damit die gesellschaftlichen Schlüsselpositionen in Politik, als Familienoberhaupt usw. innehat.

Mit der Entstehung des Kapitalismus wurde die Mehrheit der Bäuer*innen von ihrem Land und damit Zugang zu den Produktionsmitteln getrennt. Der patriarchale Bauer wurde zum Teil einer Klasse, die aus Arbeitern und Arbeiterinnen bestand, die nichts besaßen außer ihrer Arbeitskraft. Zwar löste der Kapitalismus das historische Patriarchat auf, beendete aber nicht die Frauenunterdrückung. 

Um die Reproduktion sicherzustellen, mussten der potentiellen ökonomischen Unabhängigkeit von Frauen enge Grenzen gesetzt werden. Lange waren sie vom politischen Leben ausgeschlossen, die Selbstbestimmung über Schwangerschaften und ihren Körper stand und steht noch vielerorts unter Strafe. In jahrhundertelangen Kämpfen gelang es Frauen sich vor allem als Teil der Arbeiter*innenbewegung Rechte zu erstreiten.

Ökonomische Gesetze, die die Reproduktion der Arbeiter*innen und des Kapitals regeln, wirken nicht nur abstrakt, sondern auch ganz konkret. Der Mann (als Ehemann und Vater) ist nicht länger der Besitzer und damit Vorsteher seines eigenen Bauernhofes. Aber im Kapitalismus wurde das alte Rollenmodell übernommen und der Arbeiter wurde, auch durch eine gewisse Verdrängung der Frauen aus der Lohnarbeit und durch niedrigere Löhne und Mangel Kinderbetreuungseinrichtungen und an Vollzeitstellen für Frauen, wieder zum (Haupt-)Versorger der Familie und (auch juristisches) Familienoberhaupt. Er ist der Statthalter des Systems in der Kleinfamilie, der für die Reproduktion arbeitsfähiger Nachkommen Sorge zu tragen hat. 

Durch geringere Löhne und schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt sind Frauen bis heute häufig abhängig vom Einkommen des Mannes, um versorgt zu sein. Das zeigt sich daran, dass Frauen allgemein zu einem höheren Anteil armutsgefährdet sind, vor allem im Alter und ganz besonders als Alleinerziehende. In Deutschland liegt der Anteil der Frauen an allen Erwerbstätigen im Jahr 2023 mit 46,9 Prozent auf einem historischen Höchststand.3 Fast die Hälfte aller Frauen arbeitet in Teilzeit (Männer 13 Prozent), unter Müttern beträgt die Quote sogar zwei Drittel, bei Vätern nicht einmal ein Zehntel.4 Auf der einen Seite reicht der Lohn des Mannes nicht mehr aus, um das ehemals westdeutsche Modell der Versorgerehe mit einem Einkommen aufrecht zu erhalten. Selbst wenn zwei Einkommen erzielt werden, ist die finanzielle Abhängigkeit in der Beziehung nicht beendet und verstärkt sich noch, sobald Frauen Kinder bekommen werden.

Diese Abhängigkeit vom Mann hält ein hierarchisches Verhältnis innerhalb der Familie aufrecht und ohne zugängliche Alternativen (die oft mit einem gesellschaftlichen Stigma behaftet sind) ist ihnen der Ausweg aus gewalttätigen Beziehungen oder einem gewalttätigen Umfeld versperrt. Selbst ein gutes Einkommen ist kein Garant dafür, einem gewaltsamen Partner zu entkommen. Abhängigkeitsverhältnisse weisen oft komplexe psychologische und gesellschaftliche Faktoren auf, die nicht nur mit dem Gehalt zusammenhängen, sondern ebenso mit dem Rollenbild der Frau als Mutter und Partnerin, die umfassend für die Familie und den Ausgleich zu sorgen hat, während sie Individualisierung, Schönheitsbilder und viele andere Stereotype weiter einschränken.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts nahm das rasche Bevölkerungswachstum in den Industrieländern ab und kommt mittlerweile ganz zum Erliegen. Das betrifft auch Länder, die ihre industrielle Entwicklung nachgeholt haben, wie China. Das sorgt für einen vermehrten Druck auf einmal erkämpfte Rechte und drängt Frauen wieder in die Rolle der Hausfrau und Mutter zurück. Mit der Rücknahme des bundesweiten Abtreibungsrechts in den USA (Roe v Wade) oder einer Verschlechterung der Scheidungsgesetze in China sehen wir konkrete Verschlechterungen. 

Ähnlich sieht es mit dem Kulturkampf bis hinein in die bürgerliche Mitte aus, der sich nicht nur gegen LGBTIQ+ richtet, sondern dessen Kern ebenso ein Kampf gegen Frauenrechte ist. Das Erstarken der Rechten bringt nur nicht eine nationalistische und rassistische Ideologie mit sich, sondern verstärkt die Tendenz zu sexistischen Ansichten, in deren Windschatten sich Übergriffe häufen und Frauen sich trotz verbesserter Gesetzgebung immer schwerer dagegen wehren können.

Gerade in Zeiten von Krisen wie der Corona-Pandemie (siehe auch https://solidaritaet.info/2020/04/die-andere-seite-der-ausgangsbeschraenkungen/) oder wirtschaftlicher Krisen, von Kriegen ganz zu schweigen, gibt es oft einen sprunghaften Anstieg von Gewalt gegen Frauen, wo sich die äußere Gewalt (Arbeitsplatzverlust, schwindende Versorgungssicherheit, Kontrollverlust über das eigene Leben, Zukunftsangst u.v.m.) als Gewalt in den Familien niederschlägt.

Ein Ende der Gewalt erfordert ein Ende des gewalttätigen Systems

Gerade – aber nicht ausschließlich – bei manchen jungen Menschen verzeichnen reaktionäre Ideen in so unsicheren Zeiten einen gewissen Zulauf. Das vermeintliche Ideal einer konservativen Welt, in der Familie und sonstige Verhältnisse geordnet sind und jede*r einen zugewiesenen Platz und eine Rolle hat, stoßen nicht nur bei jungen Männern auf Zustimmung, auch wenn das die Mehrheit ist.

Das Ganze wird noch durch bürgerliche Diversitätskampagnen großer Konzerne und Regierungen verstärkt. Nicht nur dass liberale Vorstellungen davon, dass jede*r sich selbst eine „Karriereleiter baut“, der „Girl-Boss-Feminismus“ für keinerlei Verbesserung der realen Situation von Frauen sorgt: Während die gesellschaftliche Polarisierung wächst, wird eine militaristische Außenpolitik als feministisch bezeichnet. Konzerne wie VW sagen zwar „Ohne Diversität würde die Volkswagen Group stillstehen“5, wollen aber in historischem Ausmaß Werke schließen und Stellen abbauen.

Man darf auch als homosexueller Mann an der Waffe dienen, solange man eben “Deutschland” dient. Damit wird das Interesse einer besitzenden Minderheit verfolgt, aber nicht derer, die von der Krise betroffen sind. Diversität wird als abgehobenes Thema der akademischen Mittelschicht und fern der Lebensrealität gesehen und rechte Propaganda, dass man sich mehr um gendersensible Sprache, als um die sozialen Belange der Menschen kümmert, fällt auf fruchtbaren Boden. Mit einer Ablehnung dieser herrschenden Politik werden dann Frauenrechte und Diversität (zumindest das, was dafür gehalten wird), mit über Bord geworfen. Stattdessen muss der Kampf für soziale Verbesserung und eine Überwindung des Systems mit dem Kampf gegen Unterdrückung verbunden und nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Dass die Rechten erfolgreich sind liegt nicht in erster Linie an der TikTok-Strategie der Social-Media-Abteilung der AfD, sondern an einer fehlenden Alternative, die nicht nur abstrakt einen Ausweg aus diesem System aufweist, sondern ebenso ein konkretes (sozialistisches) Kampfangebot macht.

Als Sozialist*innen vertagen wir nicht den Kampf gegen Unterdrückung auf den Tag nach der Revolution, noch glauben wir, dass am Tag danach alle Altlasten des Kapitalismus beseitigt sind. Sexismus ist ein mächtiges Spaltungsinstrument, über das die Herrschenden verfügen. Es teilt die Arbeiter*innenklasse auf in zwei nahezu gleich große Teile: einer, der ökonomisch ausgebeutet wird (Männer) und einer, der ökonomisch ausgebeutet und dazu noch einer spezifischen Unterdrückung als Frau ausgesetzt ist.

Um einen Kampf gegen das System und seine Profiteure zu führen und zu gewinnen, müssen wir diese Spaltung, das heißt auch die tägliche Gewalt bekämpfen. Das fängt dabei an, Bedenken, Ängste und Gefahren für Frauen ernst zu nehmen, in so genannten Alltagssituationen nicht zu schweigen und sexistische Verhaltensweisen zu thematisieren. Das beinhaltet den Kampf für genügend Plätze in Frauenhäusern und die Abschaffung des Paragraphen 218, für die Einführung einer bedarfsgerechten öffentlichen und kostenlosen Gesundheitsversorgung, gleiche Löhne und Renten für Frauen etc. Den Gewerkschaften kommt dabei eine zentrale Rolle zu.

Gleichzeitig muss die Grundlage für Ausbeutung, Sexismus und Unterdrückung bekämpft und überwunden werden – der Kapitalismus. Dieser Kampf kann weder von einem Teil der Bevölkerung gegen den anderen durchgesetzt, noch von Frauen allein gewonnen werden. Deshalb ist es die Aufgabe der Arbeiter*innenbewegung und von Sozialist*innen, den Kampf gegen Sexismus zu führen und deshalb muss ein erfolgversprechender Feminismus sozialistisch sein.

1Da Date-Rapes in den meisten Ländern nicht gesondert erfasst werden und die Dunkelziffer sehr hoch ist, ist eine statistische Aussage darüber schwierig. Seit den 1980ern gab es immer wieder Umfragen, die unter College- und Universitätsstudentinnen in den USA eine Betroffenheit von bis zu Hälfte der Befragten angeben, andere Studien gehen von etwa einem Fünftel Betroffener während ihres Lebens aus.

2https://unwomen.de/gewalt-gegen-frauen-in-deutschland/

3https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/teilhabe-frauen-erwerbsleben.html

4https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/04/PD24_N017_13.html

5https://www.volkswagen-group.com/de/diversitaet-und-inklusion-16087