EU – wann und wie kommt die nächste Krise?

Der Kapitalismus ist zur Überwindung des Nationalstaats unfähig

In den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise 2008 schlitterte die EU von einer Krise zur nächsten: Erst kam die Schuldenkrise verschiedener südeuropäischer Länder, dann zermürbende Auseinandersetzungen um den Umgang mit Geflüchteten, dann der Brexit. Als die Corona-Pandemie die Notwendigkeit internationaler Kooperation drastisch zeigte, war die EU kaum handlungsfähig. Seitdem scheint die EU besser dazustehen, doch der Schein täuscht.

von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart

Der Brexit wirkt für viele als abschreckendes Beispiel (wobei ihm auch negative Entwicklungen in die Schuhe geschoben werden, die nicht an ihm liegen, und sich die Sicht angesichts der Probleme in der EU wieder ändern kann). Im Ukraine-Krieg wurde die Geschlossenheit der EU beschworen … auch wenn der Beschluss über Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine nur zustande kam, indem Ungarns Regierungschef Orban während der Abstimmung „Kaffeepause“ machte. Verschiedene EU-kritische Parteien haben ihre Haltung abgeschwächt. Meloni in Italien vergaß nach ihrer Wahl, was sie davor über die EU gesagt hatte.

Wirtschaftlich zurückgeworfen

Aber das sind vor allem oberflächliche und vorübergehende Entwicklungen. Im Juli warnte ein Kommentar der Neuen Zürcher Zeitung: „Europas Wohlstand ist in Gefahr – der Rückstand zu Amerika wächst“ und rechnete vor, dass die deutsche und französische Wirtschaft in den vier Jahren nach Ende 2019 nur um ein halbes bzw. anderthalb Prozent wuchsen, die US-Wirtschaft dagegen um 8,1 Prozent. In zwei Jahrzehnten sei der Anteil der EU an den hundert größten Konzernen von 40 auf 15 geschrumpft, der US-Anteil auf zwei Drittel gestiegen. 

Konflikte zwischen den USA und China

Parallel gab es in den letzten Jahrzehnten den Aufstieg Chinas und die wachsenden Konflikte zwischen den USA und China. Es kann keine Rede davon sein, dass sich die EU neben den USA und China (samt Verbündeten) zu einem dritten globalen „Player“ entwickeln würde. Deutschland und andere EU-Staaten haben im Ukraine-Krieg ihre Wirtschaftsbeziehungen zu Russland heruntergefahren und sich in verstärkte Abhängigkeit von US-Energielieferungen gebracht. Orbans Rundreise zu Beginn von Ungarns EU-Ratspräsidentschaft demonstrierte, dass die EU aber nicht geschlossen im US-Lager steht, sondern die Kluft durch die EU geht. Bisher dominieren die US-Verbündeten in der EU bei weitem, aber das chinesische Regime hat mit seiner „Neuen Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative) in verschiedenen Ländern den Fuß in der Tür. Das kann in den nächsten Jahren zu einer Zunahme von Konflikten und einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses führen. Falls Trump die US-Präsidentschaftswahlen gewinnt, könnte das bereits in einigen Monaten eskalieren.

Verschärft wird das Konfliktpotenzial dadurch, dass ein Schwerpunkt der chinesischen Investitionen auf dem Balkan, besonders in Serbien, liegt. Wenn Serbien selbstbewusster auftritt, kann dies dazu führen, dass die nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien nicht gelösten, sondern nur unter dem Deckel gehaltenen Konflikte (v.a. In Bosnien-Herzegowina und Kosovo/Kosova) wieder eskalieren und zunehmend zu Stellvertreter-Konflikten zwischen China und „dem Westen“ werden können.

Rechtspopulismus

Die EU ist kein neuer „Superstaat“, sondern ein Zusammenschluss kapitalistischer Nationalstaaten. Anfang der 1990er Jahre, nach dem Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa und der Sowjetunion, gab es das Schlagwort TINA (there is no alternative) – es gibt keine Alternative, gemeint war zu Neoliberalismus und Globalisierung. Wenn alle kapitalistischen Staaten eine ähnliche Politik betreiben, einen neoliberalen Einheitsbrei bilden, dann begrenzt das die Nachteile durch die nationale Zersplitterung Europas. Aber in den letzten Jahren haben sich die Differenzen zwischen bürgerlichen Parteien vergrößert, nicht ob, aber wie man kapitalistische Interessen vertreten soll. Ein Ausdruck davon ist die Zunahme von rechtspopulistischen und anderen rechten Kräften, wie man es bei den Europawahlen, aber auch nationalen Wahlen sah. Dadurch sind verschärfte Konflikte beim Umgang mit Geflüchteten, bei der Klimapolitik oder beim rechten „Kulturkampf“ zu erwarten. Ob etwa die neue niederländische Regierung für von der Leyen so „pflegeleicht“ sein wird, wie es Meloni in Italien bisher war, bleibt abzuwarten.

Und nicht zuletzt ist die EU wirtschaftlich nicht nur strukturell gegenüber den USA und China zurückgefallen. Neue akute Wirtschaftskrisen, Finanzkrisen, Bankenkrisen und/oder Schuldenkrisen werden früher oder später kommen. Dann könnten weitere EU-Länder in eine ähnlich tiefe Krise geraten wie Griechenland vor gut zehn Jahren, nur mit dem Unterschied, dass größere Volkswirtschaften betroffen wären. Die EU-Kommission hat bereits Defizitverfahren wegen Nichteinhaltung des Stabilitätspakts gegen sieben Mitgliedsländer, einschließlich der „Schwergewichte” Frankreich und Italien, beschlossen.

Wir können also in den nächsten Jahren mit vielem rechnen, nur nicht mit einer harmonischen Weiterentwicklung der EU.

Sozialistisches Europa notwendig

Als vor 110 Jahren der Erste Weltkrieg begann, erkannte der russische Revolutionär Leo Trotzki, dass nicht nur das Privateigentum an den Produktionsmitteln, sondern auch der Nationalstaat zu einem unerträglichen Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden war. Wir werfen der EU nicht vor, dass sie versuchen würde, den Nationalstaat zu überwinden, sondern dass sie und der Kapitalismus offenkundig unfähig sind, das zu vollbringen. Das ist ein weiteres Argument gegen den Kapitalismus. Ein sozialistisches Europa als Schritt zu einer sozialistischen Welt wird nicht aus der EU entstehen, sondern aus Kämpfen von unten und ihrer internationalen Vernetzung. Dafür müssen wir uns einsetzen, nicht zuletzt in linken Parteien und Gewerkschaften europaweit.