Der Nahost-Krieg in einer neuen Epoche

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Sozialistische Analyse, Perspektiven und Programm

„Mein Name ist Ozymandias, König der Könige. Schaut auf meine Werke, ihr Mächtigen, und verzweifelt!“ Angesichts dessen, was der Kapitalismus im 21. Jahrhundert erreicht hat, insbesondere der Albtraum, den die palästinensischen Massen erleiden, wäre Verzweiflung eine mehr als verständliche Reaktion. Die oben zitierte Zeile des englischen Dichters Shelley aus dem 19. Jahrhundert weist jedoch nicht so sehr auf Verzweiflung hin, als auf Revolution. Er beschreibt sie als Inschrift auf dem Sockel einer zerbrochenen alten Statue, die einst einem ägyptischen Tyrannen gewidmet war, der vor langer Zeit entthront wurde und dessen Denkmal in der Wüste einfach zurückgelassen wurde.

von der Redaktion von Socialism Today (Magazin der Socialist Party in England und Wales) – übersetzt von Ian Nadge

Vor dreizehn Jahren, im Zuge des Arabischen Frühlings – einer revolutionären Bewegung, die Nordafrika und Teile des Nahen Ostens erfasste – wurden mehr als nur ein moderner Ozymandias gestürzt. Da es der Arbeiter*innenklasse und den an Armut leidenden Massen jedoch nicht gelang, die Macht zu ergreifen und zu halten, kam die alte Ordnung wieder auf. Die aktuellen Ereignisse zeigen zweifelsfrei, wie verrottet diese Ordnung ist und wie notwendig es ist, sie zu beenden.

Israels Angriffe auf den Iran am 26. Oktober könnten das Ende der jüngsten Runde direkter militärischer Konfrontationen zwischen den beiden Staaten bedeuten, doch garantiert ist das nicht. Unabhängig von den kurzfristigen Entwicklungen scheint eine Eskalation zwischen dem Iran und Israel unausweichlich. Und selbst ohne diese Entwicklung gerät die Region immer stärker in Flammen.

Die israelischen Streitkräfte (IDF) verschärfen eine mittelalterliche Belagerung des nördlichen Gazastreifens, die mit modernen Waffen durchgeführt wird. Hilfsgüter werden fast vollständig abgewehrt, Krankenhäuser und Schulen werden bombardiert und flüchtende Zivilist*innen; Männer, Frauen und Kinder; niedergeschossen, um die Palästinenser*innen zu zwingen, das Gebiet dauerhaft zu verlassen. Die neuen Ausmaße unvorstellbaren Grauens, die den Einwohner*innen von Gaza zugefügt werden, finden parallel zur Invasion und Bombardierung des Libanon durch die IDF statt, der derzeit die größte Zahl an Toten seit der israelischen Invasion 1982 zu beklagen hat. Gleichzeitig wurden die Militärschläge gegen Syrien und den Jemen verstärkt.

Die israelische Regierung scheint ihre blutige Kriegstreiberei nicht zu bremsen. Für Netanjahu ist die Eskalation des Krieges ein Mittel, um sich möglichst lange an der Macht zu halten und die Region im Sinne Israels umzugestalten, indem er die Palästinenser*innen noch brutaler unterdrückt und Israels stärksten Gegner in der Region schwächt: den Iran. Die behauptete Rechtfertigung dafür ist jedoch der Versuch, die Hamas zu vernichten, angeblich um der jüdischen Bevölkerung Israels Frieden zu bringen. Der Horror dauert nun schon über ein Jahr, aber das ist noch nicht erreicht worden. Und das wird auch nicht passieren. Im Gegenteil, die Brutalität der israelischen Streitkräfte wird unweigerlich den gegenteiligen Effekt haben. Noch nirgendwo auf der Welt ist es militärischen Aktionen langfristig gelungen, nationale Bestrebungen auszulöschen. Israels Aktionen schüren nur eine tiefe Wut, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in vulkanischen Lavaströmen in der gesamten Region entladen und Israel, die benachbarten arabischen Staaten und die imperialistischen Mächte auf der ganzen Welt erschüttern wird.

Ein großer Teil der israelischen Kapitalist*innenklasse, wahrscheinlich die Mehrheit, versteht das. Sie wollen, dass Netanjahu verschwindet und durch einen weniger rücksichtslosen Vertreter ihrer Interessen ersetzt wird. Doch kein Teil der israelischen herrschenden Elite hat eine dauerhafte Lösung für die zutiefst unlösbaren Probleme, vor denen Israel steht. Der israelische Kapitalismus kann die Existenz eines wirklich unabhängigen palästinensischen Staates mit Kontrolle über seine eigenen Grenzen und Ressourcen niemals akzeptieren, weil dies die Erwartungen der palästinensischen Massen steigern würde, aber auf kapitalistischer Basis völlig unfähig wäre, diese zu erfüllen. Es wäre daher eine Fortsetzung einer neuen Form ständiger regionaler Instabilität und eines Konflikts mit Israel.

Während also irgendwann – insbesondere wenn Kamala Harris die US-Präsidentschaftswahlen gewinnt – eine israelische Regierung wieder an einer Art von „Friedensprozess“ teilnehmen könnte, indem sie den palästinensischen Massen die Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung in Aussicht stellt, um einer neuen Bewegung Einhalt zu gebieten, würde sich das vorgeschlagene palästinensische Gebilde, wie auch immer es aussehen mag, unweigerlich als eine neue Form von Gefangenenlager erweisen, wahrscheinlich schlimmer als das, was vor dem gegenwärtigen Krieg existierte. Das wiederum würde zu einem neuen Kampf der palästinensischen Arbeiter*innen und Armen führen.

Und während Teile der israelischen Kapitalist*innenklasse zweifellos besorgt sind über die Folgen des Krieges, einschließlich der Angst vor einem umfassenden regionalen Krieg, über die wachsenden wirtschaftlichen Folgen, da das Wachstum stagniert und ausländisches Geld das Land verlässt, und über die wachsenden innenpolitischen Spaltungen, will die gesamte israelische Elite gleichzeitig den Iran und seine Verbündeten militärisch geschwächt sehen. Und ihre einzige Sorge um die Palästinenser*innen sind die Rückschläge, die Israel unweigerlich für Netanjahus mörderischen Angriff erleiden wird. Sie sind jedoch der Ansicht, dass Netanjahu bisher mit dem Blutbad, das er den Palästinenser*innen zugefügt hat, noch einmal „durchgekommen“ ist.

Dies ist nicht das Ergebnis, das Hamas-Führer, nicht zuletzt Yahya Sinwar – der kürzlich getötete Drahtzieher des Anschlags vom 7. Oktober – vor einem Jahr erwartet hatten. Sinwar sagte voraus, dass die Hamas nach dem Anschlag auf Israel von einer starken und vereinten „Achse des Widerstands“ unterstützt würde und dass Israels unvermeidliche Invasion des Gazastreifens die Region in Aufruhr versetzen und mobilisieren würde.

Das ist nicht geschehen. In einigen arabischen Ländern gab es beträchtliche Proteste zur Unterstützung der Palästinenser*innen, aber keiner dieser Proteste stellte eine so große Bedrohung für die fortgesetzte Herrschaft der kapitalistisch-feudalen Eliten dar, dass eines der Regimes militärische Maßnahmen gegen Israel ergreifen musste. Die arabischen Regimes haben sich also zurückgehalten und sich darauf beschränkt, Lippenbekenntnisse für Gaza abzugeben, um den Druck von unten zu beschwichtigen. Ägypten hat Maßnahmen ergriffen; nicht etwa, um das Massaker zu beenden, sondern um zu verhindern, dass jemand aus dem Gazastreifen in die Wüste Sinai flieht, und um neue Gefangenenlager zu errichten und alle Einwohner*innen von Gaza einzusperren, die gezwungen werden könnten, den Grenzübergang Rafah zu passieren. Die Hisbollah hat eigentlich ein Jahr lang relativ geringfügige Maßnahmen gegen Israel ergriffen, aus Angst, dass es andernfalls zu einem Angriff der israelischen Streitkräfte kommen könnte, wie er jetzt stattfindet. Der Iran, der verzweifelt versucht, einen umfassenden regionalen Krieg zu vermeiden, hat sich im Wesentlichen darauf beschränkt, seine Stellvertreter zu bewaffnen, und Israel bisher nur dann direkt angegriffen, wenn Netanjahus Provokationen es zu einer das Regime gefährdenden Demütigung machen würden, nicht zu reagieren. Die arabischen Staatschefs wollen zwar einen regionalen Krieg vermeiden, sind aber insgeheim nicht unglücklich über die Aussicht auf eine Schwächung des Iran.

Die Welt nach dem Ende des Kalten Kriegs

Die Art und Weise, wie sich die Ereignisse bisher entwickelt haben, ist ein Spiegelbild der Zeit, in der wir leben. Die Ära des Kalten Krieges ist längst vorbei. Er bildete den Hintergrund für aufeinanderfolgende Kriege zwischen Israel und arabischen Staaten in den Jahrzehnten nach der Gründung Israels im Jahr 1948.

Internationale Beziehungen dieser Zeit waren geprägt vom Systemkonflikt zwischen den vom US-Imperialismus dominierten, kapitalistischen Ländern des Westens und den nichtkapitalistischen stalinistischen Staaten des Ostens. Das hatte klare Konsequenzen für den Nahen Osten. Zum Beispiel zogen vor 51 Jahren die arabischen Regimes im Jom-Kippur-Krieg unter dem Druck der Massen, darunter kommunistische Massenparteien in vielen Ländern, in den Krieg gegen Israel. Wobei die russisch-stalinistische Bürokratie Waffen und Wirtschaftshilfe lieferte.

Doch obwohl der Kalte Krieg schon lange vorbei ist, befinden wir uns heute auch nicht mehr in der Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Stalinismus, als der US-Imperialismus die einzige Supermacht war, die der Welt ihre Bedingungen diktieren konnte. Der Anfang vom Ende der absoluten US-Dominanz fand im Nahen Osten statt. Vor 21 Jahren, am 20. März 2003, marschierte eine „Koalition der Willigen“ mit 200.000 Soldaten in den Irak ein. Nur 22 Tage nach Beginn der Invasion wurde Bagdad eingenommen. Die „Koalition“, zu der auch Großbritannien unter Tony Blairs New-Labour-Regierung gehörte, war in Wirklichkeit nur ein Feigenblatt für die ungezügelte Macht des US-Imperialismus.

Wie inzwischen allgemein bekannt, war die Invasion des Irak jedoch keine Bestätigung der Macht des US-Imperialismus, sondern vielmehr der Beginn seines Niedergangs aufgrund von Selbstüberschätzung. Schätzungsweise 600.000 irakische Zivilist*innen sowie fast 5000 amerikanische und britische Soldat*innen kamen während der Besatzung ums Leben. Statt die von George W. Bush versprochene Stabilität, den Wohlstand und die Demokratie zu bringen, sind der Irak und das benachbarte Syrien seither von Bürgerkrieg, einem IS-Aufstand und sozialem Zerfall erschüttert. Eine weitere unbeabsichtigte Folge war die Stärkung des Iran als Regionalmacht.

Dennoch sind die USA auch zwei Jahrzehnte später noch immer die stärkste Wirtschafts- und Militärmacht der Welt. Sie sind für rund vierzig Prozent der weltweiten Militärausgaben verantwortlich. Auch wenn der Nahe Osten für den US-Imperialismus nicht mehr so wichtig ist wie früher, hat er immer noch eine enorme wirtschaftliche und geopolitische Bedeutung und kann nicht ignoriert werden. Er ist nach wie vor für rund ein Drittel der weltweiten Rohölproduktion verantwortlich. Von Anfang an war Israel in der Region ein Bollwerk der Unterstützung für den westlichen Imperialismus, insbesondere die USA, und das ist auch weiterhin der Fall.

Während Biden also Druck auf Netanjahu ausübte, das Ausmaß des israelischen Angriffs zu begrenzen, lieferten die USA Israel weiterhin die Waffen, die es braucht, um die Palästinenser*innen und andere abzuschlachten. Gleichzeitig schickten sie drei ihrer elf Flugzeugträger in die Region, um die Folgen eines Angriffs auf Israel deutlich zu machen und eine Eskalation zu einem umfassenden regionalen Krieg zu verhindern. Bislang hat diese Strategie weitgehend funktioniert, aber dennoch gibt es echte und zunehmende Grenzen für die Handlungsfähigkeit des US-Imperialismus. Die Stärke Chinas und der daraus resultierende zunehmend multipolare Charakter der Weltbeziehungen wirken sich im Nahen Osten wie auch anderswo aus. Ein Krieg im Nahen Osten liegt nicht im Interesse Chinas, aber es kauft beispielsweise gerne iranisches Öl (zu Schnäppchenpreisen!), was die Auswirkungen der Sanktionen gegen den Iran etwas abmildert. Gleichzeitig ist China inzwischen Saudi-Arabiens größter Handelspartner, was den Einfluss der USA auf den Ölstaat zwangsläufig verringert.

Ein weiterer entscheidender Faktor, der die Fähigkeit des US-Imperialismus, weltweit militärisch einzugreifen, enorm geschwächt hat, ist die Einstellung der amerikanischen Arbeiter*innen und der Mittelschicht. Biden hat die Ukraine zynischerweise bewaffnet, damit ihre Kämpfer die militärische Macht Russlands schwächen. Die Amerikaner*innen haben kaum Lust darauf, aber sie hätten überhaupt keine Lust, große Zahlen von US-Truppen in den Kampf zu schicken, sei es in der Ukraine oder im Nahen Osten. Das Scheitern der Besetzung des Irak und Afghanistans durch den US-Imperialismus hat die isolationistische Stimmung genährt, die Donald Trump mit seiner „America First“-Propaganda nutzt.

Neben der großen Wut über den sinkenden Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse schadet den Demokraten auch die Wut über die US-Unterstützung der israelischen Kriege. Wenn Harris es schafft, Präsidentin zu werden, wird sie versuchen, weiterhin als verlässliche Verteidigerin der Interessen des US-Imperialismus innerhalb eines „regelbasierten“ Systems internationaler Beziehungen aufzutreten. Aber sie wird dies unter äußerst eingeschränkten Umständen und in einer zunehmend konfliktreichen Welt tun. Und für die anderen westlichen kapitalistischen Mächte ist die reale Möglichkeit einer Trump-Präsidentschaft ein klares Zeichen dafür, dass sie sich bei der Verteidigung ihrer Interessen nicht mehr auf den US-Imperialismus verlassen können. Dies ist ein wichtiger Faktor im wachsenden globalen Wettrüsten.

Die potentielle Supermacht

Welche Kraft bietet also vor dem Hintergrund eines sich zunehmend in der Krise befindenden kapitalistischen Systems, verkörpert durch den schwächelnden und sklerotischen Charakter seiner stärksten Macht, des US-Imperialismus, einen wirklichen Ausweg? Wir haben eine eindeutige Antwort auf diese Frage: die Arbeiter*innenklasse und die unter Armut leidenden Massen weltweit, nicht zuletzt im Nahen Osten selbst. Die Region wurde 2011 durch den „Arabischen Frühling“ in ihren Grundfesten erschüttert, als sich der Massenaufstand in Tunesien wie ein Lauffeuer von Land zu Land ausbreitete. Sowohl der US-Imperialismus als auch die arabischen Diktaturen waren vom Ausbruch der Revolution völlig überrascht. Angesichts der Macht der Massen war eine militärische Intervention unmöglich. Erst später, in Libyen, konnten sie einen Hebel zum Eingreifen finden.

Ein Jahrzehnt nach den Ereignissen, als die Revolutionen längst niedergeschlagen waren, ergaben Umfragen in der gesamten Region wenig überraschend, dass eine Mehrheit der Befragten der Meinung war, ihr Leben habe sich seitdem verschlechtert. Allerdings ergaben sie auch; mit Ausnahme der vom Bürgerkrieg betroffenen Länder; dass eine Mehrheit die Aufstände nicht bedauerte. Und selbst in den Jahren seit der Niederlage des „Arabischen Frühlings“ haben die Länder der Region mehrere Massenbewegungen erlebt, darunter in den beiden Hauptprotagonisten des gegenwärtigen Konflikts, Israel und Iran. Die theokratische Diktatur im Iran wurde 2022 und Anfang 2023 durch Massenproteste erschüttert. Die inzwischen unterdrückte, enorme Unzufriedenheit bleibt jedoch bestehen.

Unterdessen wurde Israel im Jahr 2023 von einer neun Monate andauernden Massenbewegung gegen die Regierung erschüttert, die einen Generalstreik einschloss und nur durch den Anschlag vom 7. Oktober unterbrochen wurde. Es ist verständlich, dass einige Palästinenser*innen Sinwar, der bis zu seinem letzten Atemzug gegen die israelische Armee kämpfte, als Held betrachten. Die brutalen Tötungen und Entführungen israelischer Zivilist*innen durch nicht zur Rechenschaft gezogene, sich auf eine Minderheit stützende Milizen konnten jedoch bei den Massen der Region nie so viel Resonanz hervorrufen wie die Massenaufstände des Arabischen Frühlings oder der Massenwiderstand der Palästinenser*innen während der ersten Intifada. Und natürlich führte der 7. Oktober vorübergehend dazu, dass die überwältigende Mehrheit der israelischen Bevölkerung Netanjahus mörderischen Angriff unterstützt.

Das wird jedoch nicht ewig so bleiben. Vor der Invasion des Libanon am 2. September wurde Israel erneut durch einen gegen die Regierung gerichteten Generalstreik zum Stillstand gebracht, der diesmal einen Waffenstillstand zur Rückgabe der Geiseln forderte. Dieser Streik hatte Elemente einer klassenübergreifenden Bewegung und wurde von Teilen der Kapitalist*innenklasse unterstützt, zeigte aber dennoch die potenzielle Macht der Arbeiter*innen. Zwar konnte Netanjahu die Invasion des Libanon nutzen – er behauptete, sie würde die Bombardierung Nordisraels beenden -, um seine Unterstützung erneut zu stärken, doch die tiefen Klassenunterschiede in der israelischen Gesellschaft sind deutlich vorhanden, was darauf hindeutet, dass die Arbeiter*innenklasse möglicherweise beginnen könnte, eine unabhängige Rolle im Widerstand gegen die brutale kriegshetzerische israelische Kapitalist*innenklasse zu spielen.

Ein sozialistisches Programm

Dass die Arbeiter*innenklasse und die Armen in der Region in der Lage sind, die Macht in die eigenen Hände zu nehmen, wurde schon oft unter Beweis gestellt. Doch um dieses Potenzial auszuschöpfen, muss die Arbeiter*innenklasse ihre eigenen demokratischen Massenparteien schmieden, die in der Lage sind, ihre Erfahrungen in einem Programm zum Sturz des Kapitalismus und zur Entwicklung einer sozialistischen Konföderation in der Region zu verallgemeinern.

Welche Form eine solche sozialistische Konföderation annehmen würde, kann jetzt im Voraus nicht entschieden werden, sondern müsste von künftigen Arbeiter*innenregierungen ausgehandelt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass dann der Wunsch nach einem sozialistischen Staat entsteht, der Palästinenser*innen, israelische Jüdinnen und Juden und andere Minderheiten umfasst. Angesichts des gegenwärtigen schrecklichen Krieges ist dies aktuell jedoch, wenig überraschend, auf keiner der beiden Seiten eine Perspektive. Umfragen in den besetzten Gebieten sind unzuverlässig, aber es ist dennoch bezeichnend, dass eine der jüngsten Umfragen vom September die Unterstützung für einen palästinensischen Staat auf der Grundlage der Grenzen von 1967 mit sechzig Prozent beziffert, verglichen mit nur zehn Prozent, die einen einheitlichen Staat mit gleichen Rechten für Palästinenser*innen und Jüdinnen und Juden unterstützen.

Auf der anderen Seite existiert Israel nun schon seit einem Dreivierteljahrhundert und es gibt ein starkes israelisches Nationalbewusstsein, das nach dem 7. Oktober sogar noch stärker geworden ist. Israel entstand auf der Grundlage der Unterdrückung der Palästinenser*innen und der gegenwärtige kapitalistische Staat Israel mit seinen zionistisch-kapitalistischen Grundlagen ist mit einem lebensfähigen palästinensischen Staat unvereinbar. Aber um erfolgreich einen politischen Keil zwischen die israelische jüdische Arbeiter*innenklasse und die israelische Kapitalist*innenklasse zu treiben, muss man das Bewusstsein der israelischen jüdischen Bevölkerung anerkennen und ein sozialistisches Israel neben einem sozialistischen Palästina fordern, mit garantierten Rechten für Minderheiten in beiden Staaten.

Der Zusammenbruch des Stalinismus vor über drei Jahrzehnten war ein wichtiger Wendepunkt und eine Niederlage für die Arbeiter*innenklasse und die Unterdrückten weltweit. Er hauchte dem Weltkapitalismus vorübergehend neues Leben ein, indem er den Anteil der Arbeiter*innenklasse am Reichtum verringerte, und führte zu einer Schwächung, sowohl organisatorisch als auch ideologisch, der Massenorganisationen der Arbeiter*innenklasse.

Wer erwartete, dass die Ereignisse des letzten Jahres unweigerlich dazu führen würden, dass die arabischen Eliten gezwungen wären, gegen Israel in den Krieg zu ziehen, lebte in der Vergangenheit des „Kalten Krieges“. Marxist*innen haben jedoch eine objektive Bilanz dieser längst vergangenen Ära. Der Stalinismus, der auf einer sehr verzerrten Form der Planwirtschaft basierte, war ein Gegengewicht zum Kapitalismus. Aber nichts erschreckte die stalinistischen Diktatoren mehr als die Aussicht, dass die Arbeiter*innenklasse die Macht übernehmen und mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft auf der Grundlage von Arbeiter*innendemokratie beginnen könnte. Letztlich war der Stalinismus eine konterrevolutionäre Kraft.

Heute leben wir in einer Welt des Aufruhrs und der zunehmenden Barbarei, doch die Arbeiter*innenklasse hat international begonnen, wieder auf die Bühne der Geschichte zu treten. Wir können erste Ansätze erkennen, wie der Kapitalismus ein für alle Mal beendet werden könnte, durch das unabhängige Handeln der Arbeiter*innenklasse und der Armen, und eine neue Welt des Friedens und des Überflusses aufgebaut werden könnte, die den nationalen Rechten aller Völker gerecht wird.

Dieser Artikel erschien zuerst in der November-Ausgabe von Socialism Today, dem Theorie-Magazin der Socialist Party England und Wales.