Der Anschlag von Magdeburg und seine Folgen

Gegen die Instrumentalisierung der Tat eines Islamfeindes durch Rechtspopulist*innen und Faschist*innen

Fünf Menschen, darunter ein erst neunjähriger Junge, sterben am 20. Dezember und 200 werden, teil schwer, verletzt, als Taleb A. einen gemieteten SUV mit Vollgas durch die Menschenmenge auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt steuert. Trauer um die plötzlich aus dem Leben gerissenen Menschen und Erschütterung über diese kaum fassbare Tat sind das vorherrschende Gefühl bei den meisten Menschen in Magdeburg und darüber hinaus. Einige versuchen nun jedoch, aus dem Leid der Betroffenen politisches Kapital zu schlagen.

Von Steve Hollasky, Dresden

Neben Trauerveranstaltungen und Gottesdiensten mobilisierten auch AfD und Neonazis in den letzten Tagen vor Weihnachten nach Magdeburg. Ihnen reicht die saudische Nationalität des Täters, um ihr rassistisches Gift zu verbreiten, alle Migrant*innen unter Generalverdacht zu stellen und Abschiebungen, in ihren Worten „Remigration“ zu fordern. Dabei legt ein genauerer Blick auf den Täter eher die Schlussfolgerung nahe, dass genau diese Kräfte eine politische Mitverantwortung für die schreckliche Tat haben.

Wie viele andere Terrorismusexpert*innen schätzte auch der Chef des Bundeskriminalamts, Holger Münch, im ZDF ein, dass der Tatverdächtige islamfeindliche Einstellungen habe. Tagesschau.de zitierte den thüringischen Verfassungsschutzpräsidenten Kramer: „Der Todesfahrer von Magdeburg ist nach Einschätzung von Kramer in den vergangenen Jahren zunehmend ins rechtsextreme Spektrum abgedriftet. ‘Selbst wenn sich eine psychische Störung herausstellen sollte, lässt sich an den Beiträgen des mutmaßlichen Täters im Internet eine gewachsene Radikalisierung mit Extremismusbezügen nach rechts in den letzten Jahren feststellen’, so Kramer. Insofern sei es zwar widerwärtig, aber nicht überraschend, dass sich während der Trauerfeier im Magdeburger Dom Hunderte von Rechtsextremisten in der Stadt versammelt und Hass und Hetze verbreitet hätten. ‘Denn sie sind wohl mitverantwortlich, wenn man sich die Radikalisierung auch des Täters anschaut’, sagte Kramer.“

Taleb A.

Der mutmaßliche Täter wurde 1974 im Osten Saudi-Arabiens geboren. Seine Familie gehört zur schiitischen Minderheit im Königreich, die immer wieder Diskriminierung von Seiten der Herrschenden ausgesetzt ist. Die Unterdrückung von Frauen und Minderheiten hielt wiederum die deutschen Herrschenden selten davon ab, teils hochmoderne Waffensysteme an das Geburtsland von Taleb A. zu liefern.

Der kam, nach Angaben der zuständigen Behörden, im Alter von 32 Jahren in die Bundesrepublik, um hier seine Facharztausbildung zum Psychiater zu absolvieren. Von 2011 bis 2016 lebte er in Stralsund und wurde dort auffällig: Seinerseits ausgesprochene, wilde Drohungen über einen Anschlag ähnlich dem auf den Boston-Marathon überlagerten eine Debatte um die Anerkennung von Prüfungsleistungen. Für die Störung des öffentlichen Friedens wurde er 2013 daher zu 90 Tagessätzen verurteilt.

Im Jahre 2016 erhielt Taleb A. politisches Asyl. Er präsentierte sich im Internet als Kritiker der Islam und Helfer für Menschen, vor allem Frauen, die aus Saudi-Arabien fliehen wollen. Es ist unklar wie viele ihn diesbezüglich kontaktierten.

Taleb A. avancierte zu einem kleinen Internetstar. Seinem Account bei X folgen 40.000 Menschen. Nicht wenige übrigens sind darunter, die sich zugleich als Anhänger*innen und Mitglieder von Junger Alternative und AfD zu erkennen geben.

Was auf den ersten Blick verwirrend wirken dürfte, ist bei genauerem Hinsehen alles andere als abwegig: In seinem im Juni 2019 in der FAZ erschienen Interview bezeichnete sich Taleb A. selbst als „aggressivsten Kritiker des Islams in der Geschichte“.

In einem Interview äußerte er damals, es gäbe ein „gefährliches Netzwerk an anderen Asylaktivisten in Deutschland, die Spendenbetrug begehen würden und aus den USA“ finanziert seien und Kontakte zur Botschaft von Saudi-Arabien hätten. Mit solchen Äußerungen war der spätere Attentäter nicht weit von den Äußerungen der extremen Rechten in Deutschland entfernt, die Helfer*innen von Geflüchteten nicht selten ähnlich Dinge zur Last legen.

Taleb A. verstieg sich immer weiter in kruden Theorien, die ihn in die Nähe der AfD treiben sollten. Schon 2016 hatte er Twitter erklärt: „Ich und AfD bekämpfen den gleichen Feind, um Deutschland zu schützen.“ Gemeint war damit der Islam. Er wollte demnach, so berichtet es die „Sächsische Zeitung“ vom 23. 12., mit den Rechtspopulist*innen Kontakt aufnehmen, um eine „Ex-Muslim-Academy“ ins Leben zu rufen.

Im Sommer 2024 verbreitete er einen Beitrag der AfD-Ko-Vorsitzenden Alice Weidel, in dem es um den Mord an einem Polizisten in Mannheim ging. In seinem Kommentar dazu, warf er der Polizei vor, „der echte Treiber des Islamismus in Deutschland zu sein“. Zugleich beschimpfte er seinen politischen Gegner: „Die Linken sind verrückt. Wir brauchen die AfD, um die Polizei vor sich zu schützen.“

Je näher das Datum des Attentats liegt, desto mehr häufen sich einschlägig rechtsextreme Posts von Taleb A.: Mal wird Elon Musk gelobt, mal ein Interview mit Alice Weidel verbreitet, mal Posts von bekannten Querdenkern geteilt und mal die Todesstrafe für die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangt.

Wenige Tage vor der Tat gab Taleb A. der islamophoben RIAR-Foundation ein weiteres Interview. Eine Dreiviertelstunde hindurch gibt er wirre Beschuldigungen von sich: Die Polizei verfolge Geflüchtete aus Saudi-Arabien, die sich vom Islam losgesagt hätten, in einer geheimen Operation. Er lobte Elon Musk und die AfD und versteigt sich hiernach zu der wenig passenden Aussage: „Ich bin nicht rechts. Ich bin ein Linker.“ Dergleichen hatte schon, entgegen aller Tatsachen, so manche*r Querdenker*in von sich gegeben.

Auf dem Weg in den Wahn der Verschwörungsmythen, denen sich Taleb A. schon früh ergeben hatte, wirkten die rassistischen Thesen der AfD wie eine Treibladung. Weidel, Chrupalla, Höcke und Co. mögen im juristischen Sinne unschuldig an Magdeburg sein, eine politische Mitverantwortung tragen sie allemal.

Rechtsaußen in Startposition

Trotz alledem verfolgt die extreme Rechte nun das Projekt, diese Morde für sich und ihre Agenda ausnutzen zu wollen. Es ist beileibe nicht das erste Mal, dass die Damen und Herren von Rechtsaußen das versuchen: Als vor Jahren in Chemnitz ein Deutschkubaner unter bis heute nicht wirklich geklärten Umständen bei einem Stadtfest erstochen wird, laufen sich Rechtsextreme aller Couleur warm. Dabei störte es sie wenig, dass das Opfer früher selbst von Rechtsextremen überfallen worden und als klarer Gegner von AfD und Co. aufgetreten war.

Im Fall von Magdeburg scheint es der extremen Rechten wenig auszumachen, dass der mutmaßliche Täter ganz offen Sympathien für AfD, Elon Musk, Donald Trump und die Querdenker*innen und eine entschiedene Ablehnung des Islam bekundete. Dennoch soll nun seine Tat zur Stimmungsmache genutzt werden.

Mehr Befugnisse für Behörden?

Das in jeder Hinsicht verwerfliche Auftreten von AfD und Neofaschisten kann kaum überraschen. Ebenso logisch und erwartbar sind auch die Äußerungen aus der „etablierten Politik“: Von CDU über CSU bis SPD wird nun eine weitere Ausweitung der Behördenbefugnisse verlangt. Was die einen offen fordern, wie die Vize-Vorsitzende der Unionsfraktionen im Bundestag, Andrea Lindholz, die erklärte, „die Sicherheitsbehörden“ müssten „über alle notwendigen Befugnisse verfügen, um jederzeit eine verlässliche Gefährdungseinschätzung vornehmen zu können“; fordern die anderen etwas leiser.

Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Dirk Wiese, verlangte eine Anpassung der Befugnisse auf die aktuellen Herausforderungen.

In beiden Fällen läuft es auf dasselbe hinaus: einen Ausbau des Überwachungsstaates.

Dabei hatten die staatlichen Behörden ihre schon jetzt enormen Befugnisse im Falle von Magdeburg noch nicht einmal ausgespielt. Die Diskussion über das Sicherheitskonzept für den Weihnachtsmarkt ist in vollem Gange. Ebenso unbeantwortet bleibt bislang die Frage, weshalb die Warnungen des Zentralrats der Ex-Muslime vor Taleb A. nicht eher ernst genommen wurden.

Für all das hätte es eine Ausweitung des Überwachungsstaates nicht bedurft. Wer dies trotzdem fordert, der muss sich auch den Vorwurf gefallen lassen, die Toten und Verletzten von Magdeburg politisch instrumentalisieren zu wollen.

Sicherheit geht nicht im Kapitalismus

Eines zeigt der Fall von Magdeburg ganz deutlich: Im Kapitalismus kann man noch so viele Sperren vor Weihnachtsmärkten aufstellen; man kann noch so viele Sicherheitskonzepte erarbeiten. Eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Solange Parteien wie die AfD rassistisch und armenfeindlich hetzen und mit ihren irrsinnigen Thesen auch den Wahn von Menschen wie Taleb A. bestätigen, können Anschläge dieser Art nicht ausgeschlossen werden.

Solange rassistische Propaganda und Politik das Klima vergiftet und Menschen entlang von ihrer Herkunft, Hautfarbe, Sprache oder Religion gegeneinander aufgehetzt werden, wird es auch immer einen Nährboden für Terrorakte geben.

Wollen wir als Lohnabhängige, Jugendliche und Rentner*innen Verbesserungen für uns alle erkämpfen, geht das nur gemeinsam, weil wir gemeinsame soziale Interessen haben. Genau diese Erkenntnis wollen Weidel, Chrupalla und Co., aber auch die etablierten prokapitalistischen Parteien verhindern.

Deshalb ist es richtig, im Januar gegen den AfD-Parteitag in Riesa zu demonstrieren und deshalb ist es richtig, eine wirkliche Alternative zum kapitalistischen Irrsinn aus Krieg, Klimakatastrophe, Armut, Einsparungen, Flucht und Aufrüstung zu schaffen. Die kann nur sozialistisch und demokratisch sein.

Zum Weiterlesen: Broschüre von 2017 des heutigen Sol-Bundessprechers Sascha Staničić, damals geschrieben für die Sol-Vorläuferorganisation SAV: Sicherheit statt Kapitalismus – sozialismus.info