Krise, Krach und Klassenkampf
Das Ende der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP kam am Abend des 6. November nicht wirklich überraschend. Die Krise der Regierung hatte sich in den letzten Wochen und Monaten beständig vertieft und die Koalitionsparteien zeigten sich immer unfähiger, nicht nur eine gemeinsame Politik zu formulieren, sondern selbst gemeinsame Gipfeltreffen zur Wirtschaftskrise durchzuführen. Der Ausgang der ostdeutschen Landtagswahlen im September, die fortgesetzte Wirtschaftskrise und die immer lauter werdenden Forderungen der Kapitalist*innen nach einer „Wirtschaftswende“ hatten den Druck auf die Koalition erhöht.
Von Sascha Staničić und Tom Hoffmann
Das Ende der Regierung, die Wahl Donald Trumps zum neuen US-Präsidenten, Wirtschaftskrise und globale geopolitische Konflikte bedeuten sicherlich, dass sich viele Menschen große Sorgen über die Instabilität der Verhältnisse und über ihre Zukunft machen. Gewerkschaften und Linke müssen darauf mit einem entschlossenen Gegenprogramm zu allen prokapitalistischen Parteien reagieren.
Hintergrund: Wirtschaftskrise
„Deutschland ist ein Land voller Stärken und voller Stärke“. In solche Selbstbestärkungsphrasen versuchte der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck im Oktober die düsteren Wirtschaftszahlen zu verpacken, die sein Ministerium vorlegen musste. Ab da ging auch die Ampel-Regierung von einer Rezession im Jahr 2024 und damit dem zweiten Jahr in Folge aus. Das gab es zuvor erst einmal seit Gründung der BRD – in den Nuller-Jahren als Deutschland als „kranker Mann“ Europas gehandelt wurde.
Im internationalen Vergleich wird die Krise besonders deutlich. Während das reale Bruttoinlandsprodukt Deutschlands Mitte 2024 nur knapp über dem Stand von Ende 2019 lag, liegen allein die USA (über zehn Prozent), aber auch die Eurozone insgesamt (fast vier Prozent) hinsichtlich des Wirtschaftswachstums deutlich vorn. Deutschland ist beim Wachstum Schlusslicht in der G7 und von einem Motor zu einer Konjunkturbremse in der EU geworden – und wird wieder als der „kranke Mann Europas“ bezeichnet.
Die deutsche Wirtschaft basiert mehr als jene anderer Länder auf dem Export industrieller Waren. Ein Viertel der Wertschöpfung kommt aus der Industrie. Umso schwerer wiegt der Rückgang in diesem Bereich. Die gesamte Industrieproduktion lag Mitte des Jahres 15 Prozent unter dem Stand von Ende 2017.
Ein Blick auf die Gründe zeigt, dass keine schnelle und nachhaltige Erholung kommen wird: Globale Überkapazitäten durch den schwächelnden Weltmarkt, mehr Konkurrenz vor allem mit Firmen aus den USA und China, gestiegene Energiepreise, fehlende Investitionen und Fachkräftemangel. Im Gegenteil: Ein neuer Schock, zum Beispiel an den Finanzmärkten oder in Form anderer Ereignisse, zum Beispiel eine durch Donald Trump ausgelöste weitere Zunahme von Zöllen und Einfuhrbeschränkungen, könnten weiter Öl ins Feuer gießen.
Deutlich wird das im Kernstück der deutschen Wirtschaft, der Autoindustrie. Die zunehmende Konkurrenz, insbesondere mit chinesischen und US-Konzernen und die nachlassende Nachfrage auf dem Weltmarkt, bedrohen die Profite und Dividenden der Aktionär*innen. Der VW-Vorstand, der mit der historischen Drohung von mindestens drei Werksschließungen und der Kündigung der Beschäftigungssicherung zum Frontalangriff bläst, spricht von Überkapazitäten von etwa zwei Millionen Autos in Deutschland. Zehntausende Beschäftigte und ganze Regionen sind potenziell allein dadurch betroffen.
In der Zulieferindustrie ist der Stellenabbau in vollem Gange, ebenso gibt es Abbau in der Chemieindustrie oder die Drohungen bei ThyssenKrupp Stahl, tausende Arbeitsplätze zu vernichten.
Die exportorientierte Industrie war einst eine Stärke der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb. Vom Aufstieg des chinesischen Staatskapitalismus und seiner Integration in den Weltmarkt, ebenso wie von der Schaffung des europäischen Binnenmarktes, profitierte der deutsche Kapitalismus wie kaum eine andere Volkswirtschaft. Nach der Weltwirtschaftskrise 2007-2009 war die Nachfrage vor allem aus China groß, und deutsche Unternehmer*innen konnten den Euro nutzen, um ihre Waren billiger abzusetzen. Eine entscheidende Voraussetzung waren dafür auch die historischen Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse in Form der Agenda 2010 und die Schaffung eines riesigen Niedriglohnsektors Mitte der 2000er. Ähnlich weitreichende „Reformen“ fordert das Kapital auch jetzt wieder.
Die Pandemie und der Ukraine-Krieg waren Beschleuniger von Krisenprozessen und Widersprüchen in einer ohnehin unter großen strukturellen Problemen und Überkapazitäten ächzenden Weltwirtschaft. Sie haben in besonderem Maße zu Nachfrageeinbrüchen bzw. höheren Kosten, unter anderem bei Energielieferungen, geführt, waren aber nicht tieferliegende Ursache der Krise. Diese ergibt sich aus den unlösbaren Widersprüchen des Kapitalismus, der versucht, eine international und gesellschaftlich weit verzweigte Produktion von Gütern unter Beibehaltung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Fortexistenz von Nationalstaaten zu bändigen. Aus dem, dem Kapitalismus innewohnenden, Wettstreit um Profite ergeben sich zwangsläufig Absatz- und Überkapazitätskrisen, aber auch Konflikte und Spannungen zwischen Staaten. Diese sind heute viel ausgeprägter und die zunehmenden protektionistischen Maßnahmen, wie Zölle, treffen in besonderem Maße exportorientierte Unternehmen.
Diese Widersprüche haben auch die „inländischen“ Probleme des deutschen Kapitalismus mitzuverschulden. Entgegen der kapitalistischen Märchen, dass Gewinne naturgemäß zu neuen privaten und staatlichen Investitionen und damit Produktivitätssteigerungen führen, herrscht eine (selbst im internationalen Vergleich) große Investitions- und Produktivitätskrise. Kein EU-Land hat zwischen 2000 und 2020 gemessen an der Wirtschaftsleistung so wenig in die öffentliche Infrastruktur investiert wie Deutschland. Der Anteil privater Nettoinvestitionen liegt seit 2020 unter zwei Prozent des BIP. Das Kapital suchte und sucht lieber nach schnellen Gewinnen durch Spekulation und nicht nach der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse. So lässt sich auch erklären, warum trotz Rezessionsnachrichten an der Börse Partystimmung herrscht und der DAX noch im Oktober den historischen Rekordwert von 20.000 Punkten anpeilte.
Die Krise in den wichtigen Industriezweigen wird auch Auswirkungen auf den Rest der Wirtschaft haben. Die Zahl der Beschäftigten insgesamt ist zuletzt zwar leicht angestiegen, aber auch die Arbeitslosenquote ist im Oktober auf sechs Prozent geklettert. Gerade tendenziell besser bezahlte Industriearbeitsplätze wurden in den vergangenen Jahren (und werden weiterhin) zu Hunderttausenden abgebaut, während es einen Aufbau bei (insbesondere staatsnahen) Dienstleistungen gab. Diese Verlagerung bedeutet für die Beschäftigten und die Arbeiter*innenklasse insgesamt daher Einkommensverluste, was auch den privaten Konsum drückt. Der Arbeitskräftemangel bremst diese Entwicklung aktuell noch etwas, da sich die Bosse überlegen müssen, ob sie in Zukunft geeignetes Personal so schnell wiedereinstellen können.
Doch das hält die einzelnen Unternehmen nicht davon ab, das zu tun, was aus ihrer Sicht nötig ist, um ihre Profite zu retten. Die Milliardengewinne der letzten Jahre sollen weiter in die Aktionärstaschen fließen. Im Rahmen des Kapitalismus sind solche Krisen zwangsläufig und sie werden auf dem Rücken der Beschäftigten „gelöst“ – durch Stellenabbau und Lohnverzicht, Verlagerung in „Billiglohnländer“, Werkschließungen, Steigerung der Arbeitshetze, kurz mehr Ausbeutung. Ein Bruch mit der Profitlogik, demokratisch kontrolliertes und verwaltetes Gemeineigentum an großen Banken und Konzernen und eine sozialistische Veränderung sind deshalb dringend nötig, um alle Arbeitsplätze zu retten und die Wirtschaft nachhaltig und demokratisch umzugestalten.
Hintergrund: Landtagswahlen
Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg waren eine Abreibung für die Ampel-Parteien. Gemessen an vorherigen Umfragen, nach denen SPD, Grüne und FDP den Einzug in den einen oder anderen Landtag hätten verpassen können, waren aber die Worst-Case-Szenarien ausgeblieben (außer für die FDP, was aber zu erwarten war). Das bedeutete zwar, dass es nicht zu einem unmittelbaren Aus für die Koalition kam, aber die Wahlergebnisse vertieften Instabilität und Konflikte zwischen den Ampel-Parteien.
Die Wahlen markieren auch einen Wendepunkt für die ganze Parteienlandschaft – und das nicht nur in Ostdeutschland. Trotzdem ist es kein Zufall, dass ausgerechnet hier über dreißig Jahre nach der kapitalistischen Restauration der Niedergang der etablierten, bürgerlichen Parteien so krass ausfällt. Die AfD wurde enorm gestärkt. Die Erfolge von CDU und SPD in Sachsen und Brandenburg basierten nicht auf Unterstützung für ihre Parteien, sondern vor allem auf Angst vor der AfD. Trotz gestiegener Wahlbeteiligung sind in Brandenburg nur noch CDU und SPD als „etablierte“ Parteien im Landtag, neben AfD und BSW. Die Wahlen sind Ausdruck von Polarisierung, von Ängsten und vor allem Unzufriedenheit mit den sozialen und politischen Verhältnissen bei der Mehrheit der Bevölkerung.
Das Wachstum der AfD ist eine ernste Gefahr. Es findet auch vor dem Hintergrund der rassistisch aufgeladenen Migrationsdebatte statt, die nach dem Anschlag von Solingen noch mal intensiviert wurde. Die im Rekordtempo von der Ampel beschlossenen und von der Union geforderten Maßnahmen zur Verschärfung des Asylrechts hätten in jedem AfD-Programm stehen können. Nichts davon wird mehr Sicherheit bringen. Das hat aber niemanden davon abgehalten, AfD zu wählen – wieder einmal gilt, dass Menschen eher das Original als die Kopie wählen.
Die so genannte „Brandmauer“ gegen die AfD scheint auf Landesebene noch nicht zu fallen, auch wenn Sachsens Ministerpräsident Kretschmer überraschende Gespräche mit der AfD geführt hat und Stimmen in der CDU lauter werden, die diese Brandmauer in Frage stellen. Doch dies wird die AfD nicht schwächen und es ist davon auszugehen, dass die Rechtspopulist*innen die Profiteur*innen sein werden, wenn alle anderen Parteien in der einen oder anderen Form die Landesregierungen bilden werden. Das Gleiche gilt für die Debatte um ein AfD-Verbot und die mögliche Einleitung eines Verbotsverfahrens. Dadurch werden sich die Rechtspopulist*innen als Opfer staatlicher Willkür und als Verteidiger*innen demokratischer Rechte inszenieren können und die Wirkung wird sein, dass sich die Unterstützung für die Partei weiter verfestigt oder sogar mehr Menschen in ihre Arme getrieben werden.
Der Anteil derjenigen, welche in der Nachwahlbefragung angaben, die AfD „aus Überzeugung“ zu wählen, ist gestiegen. Das ist ein Warnsignal für Linke und Gewerkschafter*innen, weil es Ausdruck der Verfestigung von Vorurteilen, Rassismus und reaktionären Ideen ist. Die Aufgabe, dass man einen Teil dieser Menschen „zurückgewinnen“ muss, wird dadurch schwerer, aber auch dringlicher und sie ist erfüllbar! Das geht aber nur gegen und nicht mit den etablierten bürgerlichen Parteien. Die AfD kann auf dem Boden der sozialen Missstände und der Wut auf das Establishment gedeihen, auch weil es keine starke, glaubwürdige linke Alternative gibt. Der gemeinsame Kampf, unabhängig von Nationalität, Herkunft, Religionszugehörigkeit und sexueller Identität und Orientierung gegen diese sozialen Missstände wird entscheidend sein, um Vorurteile und Rassismus zurückzudrängen und die AfD-Unterstützung effektiv zu untergraben – denn sie stehen selbst für arbeiter*innenfeindliche Politik, was es zu entlarven gilt.
Konflikte unter Kapitalismus-Freund*innen
Die Konflikte in der nun zerbrochenen Koalition drücken unterschiedliche Vorstellungen unterschiedlicher Vertreter*innen des Kapitalismus darüber aus, wie ihr System am besten aufrechterhalten werden kann. Kein Teil dieser Regierung vertritt die Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung. Es gibt Einigkeit über viele Fragen: die Profitbedingungen für Banken und Konzerne verbessern, Unterstützung der ukrainischen Kriegsführung und des Kriegs Israels gegen die Palästinenser*innen, Aufrüstung der Bundeswehr und Militarisierung der Gesellschaft, Migration einschränken und Geflüchtete abschieben. Uneinigkeit gibt es über den besten Weg, um diese Ziele zu erreichen.
Dabei prallen, vereinfacht ausgedrückt, zwei Strategien aufeinander: Frontalangriff auf die Arbeiter*innenklasse oder versuchen, die Gewerkschaftsführungen einzubinden und Angriffe etwas weniger scharf bzw. scheibchenweise durchzuführen. Der Konflikt um die Schuldenbremse drückt das in verzerrter Form aus – verzerrt, weil auch Teile des Kapitals eine Reform der Schuldenbremse befürworten, um mehr Spielraum für staatliche Investitionen zu erlangen, die ihren Profitinteressen dienen (nicht um gesellschaftliche sinnvolle und nötige Investitionen in Bildung, Gesundheit, Umwelt, Soziales etc. zu ermöglichen).
FDP: Flucht nach vorn?
Hintergrund des vor allem von der FDP provozierten Bruchs der Koalition sind auch die täglich lauter werdenden Forderungen von Kapitalvertreter*innen für eine so genannte Wirtschaftswende. Damit meinen sie drastische Angriffe auf die Rechte und den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung, Steuererleichterungen für die Kapitalist*innen etc. – etwas wovor, wir seit Monaten warnen und weshalb Sol-Mitglieder die Kampagne „Wir schlagen Alarm“ gemeinsam mit anderen kämpferischen Gewerkschafter*innen ins Leben gerufen haben. Das Papier von FDP-Chef Lindner stellte ein Programm für diese von den Kapitalist*innen geforderte „Wirtschaftswende“ dar. Es war gleichzeitig, wie in bürgerlichen Medien genannt, ein „Scheidungspapier“ und eine Provokation gegenüber SPD und Grünen, die diese nicht unbeantwortet lassen konnten, ohne das Gesicht zu verlieren. Offenbar haben sich Scholz und Habeck dann entschlossen, nicht über dieses von Lindner hingehaltene Stöckchen zu springen und ihrerseits die Frage der Ausrufung einer Notlage zur Aussetzung der Schuldenbremse aufgrund des Ukraine-Kriegs zum Bruchpunkt zu machen.
Politisch hat die FDP mit ihrem Vorgehen eine Flucht nach vorn angetreten. Ob dies erfolgreich sein wird oder sich als „Selbstmord aus Angst vor dem Tod“ herausstellen wird, wird sich zeigen. Aber alle Ampel-Parteien müssen abgewogen haben, ob ein Durchwurschteln in einer Dauerkrise und ein faktisch zehnmonatiger Wahlkampf bis zum regulären Wahltermin im September kommenden Jahres, ihre Ausgangssituation verbessert hätte. Offenbar sind sie zu dem Schluss gekommen, dass dies nicht der Fall gewesen wäre und ein Ende mit Schrecken eher die Chance beinhaltet, in einem intensiven viermonatigen Wahlkampf Boden gutzumachen.
SPD wird links blinken
Scholz’ Strategie wird darin bestehen einerseits links zu blinken, indem die FDP und die Union als unsozial und arbeiter*innenfeindlich (zurecht) angegriffen wird und wahrscheinlich einige linke Forderungen wie einen erhöhten Mindestlohn, Tariftreuegesetz etc. aufzustellen und gleichzeitig die Politik der Aufrüstung und Unterstützung des kapitalistischen und nationalistischen Selenskyi-Regimes in der Ukraine als „Sicherheitspolitik“ zu verteidigen. Das wird auch bedeuten, dass die Militarisierung der Gesellschaft fortgesetzt werden wird.
Mit den Angeboten zur „konstruktiven Zusammenarbeit“ an CDU/CSU bis zu den Neuwahlen will er die Union vor sich her treiben und vorführen. Ob die nun aus SPD und Grünen bestehende Minderheitsregierung in den nächsten Monaten noch für irgendeine Maßnahme eine Mehrheit im Parlament finden wird, ist offen. Eine Verschiebung des Haushaltsbeschlusses für 2025 kann für Länder und Kommunen, und dort für viele freie Träger und Projekte, katastrophale Folgen haben und zu Kürzungen und Arbeitsplatzabbau führen.
Mit dem Ende der Koalition hat nun ohnehin der Wahlkampf begonnen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die Aussicht auf Neuwahlen für den Bundestag Einfluss auf den Verlauf der Regierungsbildungen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen nehmen wird und dazu beitragen kann, dass es in einem oder mehreren dieser Bundesländer ebenfalls zu Neuwahlen kommen könnte. Noch vor dem Aus der Ampel hat das BSW in Sachsen die Sondierungen mit CDU und SPD abgebrochen.
BSW
Dem BSW waren ein Senkrechtstart und zweistellige Ergebnisse bei den ostdeutschen Landtagswahlen, acht Monate nach seiner Gründung, gelungen. Diejenigen, die das BSW wegen der klaren Positionierung gegen Waffenlieferungen und Kriegspolitik und dem Wunsch nach sozialerer Politik gewählt haben, werden nun Hoffnungen haben. Doch diese Hoffnungen wird das BSW enttäuschen. Wagenknechts Partei ist eine Partei, die nicht auf Klassenkampf setzt und den Kapitalismus überwinden will. Ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Koalition mit Union und SPD macht das deutlich und deshalb wird sie keinen Politikwechsel für die Arbeiter*innenklasse durchsetzen.
Für das BSW wird es ein Drahtseilakt, im Bundestagswahlkampf die Fundamentalopposition zu geben und gleichzeitig in ostdeutschen Bundesländern in Koalitionen mit SPD und/oder CDU einzutreten. Mitte November, da dieser Artikel geschrieben wird, ist zwar nicht abzusehen, ob es in den ostdeutschen Bundesländern zu Regierungen mit BSW-Beteiligung kommen wird. In Brandenburg sieht alles danach aus, in Sachsen und Thüringen ist die Lage offener. Die Sondierungen haben die Spannungen zwischen und innerhalb aller beteiligten Parteien demonstriert – nicht zuletzt beim BSW selbst, wo um die Umsetzung der von Wagenknecht geforderten, friedenspolitischen Vorbedingungen gerungen wird. Gerade die Auseinandersetzung zwischen der thüringischen BSW-Chefin Katja Wolf und der Bundesspitze der Partei um Sahra Wagenknecht hat einmal mehr den undemokratischen Charakter des BSW offenbart – ganze 81 Mitglieder hatte der thüringische Landesverband, neue Mitglieder werden nur durch die Bundesspitze aufgenommen und diese hat plötzlich zwanzig weitere Mitglieder in Thüringen aufgenommen, die ihre Position stärken sollen.
Dass das BSW keine fortschrittliche Alternative zu den etablierten Parteien und der AfD ist, zeigte sich nicht zuletzt darin, dass es in den Chor derjenigen mit einstimmt, die die Zuwanderung für Terrorismus, Kriminalität und soziale Probleme verantwortlich machen. Damit setzt es fort, was Wagenknecht in der Vergangenheit bereits gemacht hat: einen kausalen Zusammenhang zwischen diesen Dingen herstellen, die Spaltung der einfachen Menschen voranzutreiben anstatt zu erklären, dass erstens die wirklich schwerwiegenden sozialen Missstände ganz andere sind und zweitens die Ursachen von Terrorismus und Kriminalität gemeinsam bekämpft werden müssen und der Kapitalismus das grundlegende Problem ist.
Bewusstsein und Migrationsdebatte
Denn was in den letzten Monaten von nahezu allen Seiten zu hören ist, ist ein einziges Täuschungsmanöver. Die massiv geschürten Ängste vor Zuwanderung sollen von den wahren Verursacher*innen der sozialen Missstände ablenken: Pro-kapitalistische Kürzungspolitiker*innen und ihre Freund*innen in den Chefetagen der Banken und Konzerne, für die Politik gemacht wird. Die einzigen Flüchtlinge, die Mitschuld an Wohnungsmangel und kaputter Infrastruktur tragen und dafür sorgen, dass das Geld bei Bildung, Gesundheit und Sozialem fehlt, sind Steuerflüchtlinge – aber nicht diejenigen, die vor Krieg und Elend geflohen sind. Mehr Abschiebungen werden nichts daran ändern, dass Sozialkürzungen drohen, überall Personal fehlt oder so essenzielle Infrastruktur wie Brücken wortwörtlich den Bach heruntergeht.
Gleichzeitig wäre es falsch, aus dem mehrheitlichen Wunsch nach Zuwanderungsbegrenzung und den Wahlergebnissen abzuleiten, dass die Gesellschaft und die Arbeiter*innenklasse insgesamt nach rechts rückt. Dass es komplizierter ist, zeigt zum Beispiel eine ZEIT-Umfrage, nach der fast jede*r Zweite die Zuwanderung auch aus Angst vor wachsendem Rechtsradikalismus begrenzen will. Noch im Frühjahr gab es die größten Demonstrationen seit vielen Jahrzehnten in Deutschland gegen die AfD. Bestätigt hat sich aber unsere Warnung, dass diese erfolglos bleiben, wenn sie von Establishment-Politiker*innen (die selbst rassistische Politik umsetzen) dominiert werden und sich nicht gegen den sozialen Nährboden von Rassismus richten. Es gibt eine gesellschaftliche Polarisierung, deren linker Pol tragischerweise keinen politischen Ausdruck findet. Allein die Streikwellen der letzten Jahre und die Neueintritte in die Gewerkschaften sind ein Beleg dafür. Wenn es um Gesundheit, Bildung, Arbeitsplätze, soziale Ungleichheit usw. geht, gibt es Mehrheiten für linke Positionen.
Was kommt?
Nach derzeitigem Stand der Meinungsumfragen wäre klar, dass der nächste Kanzler Friedrich Merz heißt und vieles spricht dafür, dass es zu einer früher mal „Große Koalition“ genannten Regierung aus CDU/CSU und SPD kommen wird. Es ist davon auszugehen, dass die SPD – wie schon so oft – staatstragend nach den Ministersesseln greifen wird und sich auch mit einem Kanzler Merz arrangieren kann. FDP und Die Linke werden um ihren Einzug in den nächsten Bundestag bangen müssen, aber auch das BSW sollte sich nicht zu sicher sein, lagen seine letzten Umfragewerte bundesweit doch bei nur sechs Prozent. Aber die Umfragen von heute sind nicht das Ergebnis der Neuwahlen und in den bis zur Wahl verbleibenden Monaten kann viel passieren. Eine Gefahr ist zweifellos, dass die AfD von diesen Entwicklungen profitieren kann, nicht zuletzt weil auch der Ausgang der Wahlen in den USA Rückenwind für Rechtspopulist*innen international bedeutet.
Gewerkschaften
Für Gewerkschaften und Die Linke ist die neue Situation eine Herausforderung. Die sozialdemokratisch ausgerichtete Gewerkschaftsbürokratie wird Scholz für den Rauswurf des neoliberalen FDP-Manns Lindner loben und mehr oder weniger offen Wahlkampf für die SPD machen. Das sollten Gewerkschaftsaktive an der Basis nicht mitmachen und kritisieren.
Vor allem muss von den Gewerkschaften jetzt der Kampf für den Erhalt der in vielen Unternehmen bedrohten Arbeitsplätze geführt werden und müssen sie Widerstand vorbereiten, gegen die von der nächsten Bundesregierung zu erwartenden Angriffe auf die Rechte und den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse. Das bedeutet, in den Wahlkampf mit klaren Forderungen einzugreifen und die Politisierung zur Organisierung von Kolleginnen und Kollegen zu nutzen.
Wo es schon jetzt zu Kürzungen auf Kosten der Arbeiter*innenklasse kommt, sollten die Gewerkschaften und Gewerkschaftsaktive sowie Betroffene und linke und soziale Organisationen die Initiative zu Widerstand ergreifen und Protestbündnisse bilden, wie es zum Beispiel aktuell unter Beteiligung von Sol-Mitgliedern in Dresden passiert.
Leider scheinen die Gewerkschaftsführungen nichts davon zu tun. Bei VW wird Verzichtsbereitschaft signalisiert und kein ernsthafter Kampf vorbereitet, in der Metall-Tarifrunde wurde einem schlechten Abschluss zugestimmt, der die Reallohnverluste der letzten Jahre nicht annähernd ausgleicht, wenn er überhaupt die Inflation während der Vertragslaufzeit übersteigen sollte.
Die Linke
Dass die AfD so stark werden konnte, hat auch Die Linke zu verschulden. Die Partei geht in ihren einstigen Ost-Hochburgen wie im Bund in Riesenschritten in Richtung Bedeutungslosigkeit. In Brandenburg flog sie sogar aus dem Landtag. Das ist die Quittung für die Erfahrung, die die Menschen mit der Linken in Regierungen mit SPD und Grünen gemacht haben: dass sich solche Regierungen nicht grundlegend von anderen Koalitionen unterscheiden und im schlimmsten Fall Krankenhausschließungen, Privatisierungen usw. mittragen. Ein Bruch mit der bisherigen Politik und ein Kurswechsel der Linken wäre bitter nötig, damit die Partei gegenüber der Arbeiter*innenklasse noch eine Chance hätte deutlich zu machen, dass sie einen Wert für sie hat. Das würde heißen, als sozialistische Opposition gegen die sozialen Missstände im Land und die zu erwartenden Angriffe der nächsten Regierungen zu kämpfen, sowie den Fokus auf den Aufbau von außerparlamentarischem Widerstand auf den Straßen, in den Betrieben, Schulen und Unis zu legen – ohne antirassistische Prinzipien zu verstecken. Leider gibt es keine Anzeichen, dass es dazu in umfassender und konsequenter Weise kommt.
Der Parteitag der Linken im Oktober markierte weder eine Aufarbeitung der Ursachen der Krise der Partei noch eine wirkliche politische Neuausrichtung. Zwar wurde auffällig oft in Reden von der “Arbeiter*innenklasse” und der Notwendigkeit eines “Klassenstandpunktes” gesprochen. Doch statt zu klären, was das in den drängenden Fragen von Frieden, Arbeitsplatzabbau, Klimakrise und Nahost konkret heißt und wie sich die Partei positionieren soll, verbleiben die Beschlüsse bei Formelkompromissen, in die die verschiedenen Flügel die ihnen genehme Sichtweise hineininterpretieren können. Die Wahlniederlagen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen werden im Leitantrag mit keinem Wort erwähnt und die Politik der Regierungsbeteiligungen nicht in Frage gestellt.
Aber die vielen neuen Mitglieder und der allgemeine Gedanke, dass etwas verändert werden muss, bieten die Gelegenheit, diese Fragen in der Partei wieder offensiver zu diskutieren. Dass einige Vertreter*innen der Parteirechten nun die Partei verlassen, kann dabei nur helfen. Ob das ausreichen wird, den entstandenen Schaden in der Wahrnehmung der Partei in der Arbeiter*innenklasse wett zu machen, ist zu bezweifeln. Aber Die Linke kann weiterhin einen Beitrag zur Bildung einer massenhaften sozialistischen Arbeiter*innenpartei leisten, wenn sie oder zumindest Teile der (mitunter neuen) Aktiven bereit sind, die Lehren aus ihrer Krise zu ziehen.
Hinsichtlich der anstehenden Neuwahlen zum Bundestag sollten sich Aktive in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen für eine Wahl der Partei Die Linke aussprechen, denn sie ist – trotz aller Beschränktheiten, Fehler und Anpassung in Richtung SPD und Grüne – die einzige Stimme einer linken Opposition, die den Einzug in den Bundestag schaffen kann. Ein Bundestag ohne Die Linke würde die politischen Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik zuungunsten der Arbeiter*innenklasse verschieben. Deshalb wird auch die Sol zur Wahl der Linken aufrufen und dafür werben. Wir werden dabei nicht auf Kritik an der Politik und Ausrichtung der Partei verzichten.
Die unter dem Motto „Alle reden, wir hören zu“ begonnene Kampagne für Haustürgespräche muss nun zum Wahlkampf gemacht werden – und der Geist sollte sein: „Wir haben Antworten auf die Krise des Kapitalismus!“
Die Linke sollte einen kämpferischen Wahlkampf mit einem Fokus auf einige zentrale Themen führen. Diese könnten sein:
- die Rettung der Arbeitsplätze bei VW und anderen Industrieunternehmen durch einen sozialistischen Plan zur Umstellung der Produktion auf sinnvolle und nachhaltige Produkte
- die Instandsetzung des maroden Gesundheitswesens und des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs – finanziert aus den Gewinnen der Banken und Konzerne und den Vermögen der Superreichen
- Schaffung von bezahlbarem Wohnraum
- Opposition gegen die kapitalistischen Kriege und Waffenlieferungen an die Ukraine und Israel
- Maßnahmen gegen die weiterhin viel zu hohen Preise und zu niedrigen Löhne führen.
Forderungen und Maßnahmen zur Lösung dieser Missstände müssen an die Grundfesten des kapitalistischen Systems gehen, sonst werden sie unwirksam sein: demokratisches öffentliches Eigentum statt Privateigentum an Konzernen und Banken, massive Besteuerung des unverschämt hohen angehäuften privaten Reichtums.
Integraler Bestandteil des Wahlkampfs muss ein antikapitalistisches Konzept zum Kampf gegen den Klimawandel sein, das nicht die Masse der Bevölkerung zur Kasse bittet und alle Arbeitsplätze garantiert, sowie eine Botschaft der Solidarität mit allen diskriminierten Minderheiten – Migrant*innen, Geflüchtete, LGBTQI*-Personen, Behinderte -, mit ebenso von Diskriminierung betroffenen Frauen, mit allen für ihre legitimen Rechte kämpfenden Gruppen sein.
Wenn Die Linke einen solchen Wahlkampf überzeugend angeht, wenn ihre Kandidat*innen dem Beispiel der neuen Vorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken folgen und erklären, dass sie von den überhöhten Diäten nur annehmen, was einem durchschnittlichen Facharbeiter*innenlohn entspricht und den Rest spenden werden, wenn sich die Bundespartei endlich von kapitalismusfreundlicher Regierungspolitik in Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen distanziert, dann könnte unter den Mitgliedern und Unterstützer*innen der Partei eine Mobilisierung erreicht werden, die die Partei über die Fünf-Prozent-Hürde bei den Bundestagswahlen trägt.
Das wäre zusammen mit konsequenten Kämpfen der Gewerkschaften für die Interessen der abhängig Beschäftigten und gegen Kürzungen auf allen Ebenen auch das beste Mittel, um die AfD im Zaum zu halten.
Damit wäre die Krise der Partei noch nicht überwunden, aber der Niedergang erst einmal unterbrochen und dann könnte eine notwendige Debatte stattfinden, welchen Beitrag Die Linke – zusammen mit anderen Kräften aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen! – zur Schaffung einer Massenpartei von Arbeiter*innen und Jugendlichen mit einem sozialistischen Programm leisten kann, die so dringend nötig ist, um die Interessen der Arbeiter*innenklasse zu vertreten und die Gesellschaft zu verändern.
Perspektiven
Die wirtschaftliche Entwicklung ist ein Rezept für soziale und politische Instabilität. Die von der IG Metall veröffentlichten Forderungen des VW-Vorstands, in Deutschland mindestens drei Werke zu schließen, zehntausende Stellen abzubauen und die Löhne pauschal um zehn Prozent abzusenken, sind ein historischer Angriff. Doch sie sind nur die Speerspitze. Die Industrie-Kapitalist*innen fordern auf ganzer Linie Tribut von der Arbeiter*innenklasse. Dieser Klassenkampf von oben muss entsprechend von unten beantwortet werden – mit allen gewerkschaftlichen Mitteln und betriebs- und branchenübergreifend. Ob das geschieht, ist jedoch fraglich, da die prokapitalistischen Führungen der Gewerkschaften nicht zu einem konsequenten, über die Grenzen kapitalistischer Logik hinausgehenden Kampf bereit sind und die Kräfte in den Betrieben schwach sind, die einen solchen Kampf von unten durchsetzen könnten. Es kann daher sein, dass hinsichtlich von Tarifauseinandersetzungen und den Kämpfen gegen Arbeitsplatzvernichtung und Werkschließungen in der Industrie eine schwierige Situation vor uns liegt. Umso wichtiger, dass sich kritische und kämpferische Kolleg*innen vernetzen, um in den Gewerkschaften für einen kämpferischen Kurs einzustehen und Kolleg*innen organisieren.
Es ist aber möglich, dass sich der Druck für Gegenwehr stärker gegen die anstehenden massiven Kürzungen in den Haushalten auf kommunaler, Landes- und Bundesebene formiert. Die nächste, wahrscheinlich vom Ex-BlackRock-Lobbyisten Friedrich Merz geführte, Regierung wird der Arbeiter*innenklasse keine große Atempause lassen – auch wenn er im Wahlkampf versuchen wird, seine konkreten Angriffspläne zu verstecken. Die Finanzlage vieler Kommunen ist katastrophal, es drohen Haushaltssperren, Zahlungsunfähigkeit und massive Kürzungsprogramme. Das kann Widerstand auslösen, wie wir es gerade in Dresden sehen, wo Sol-Mitglieder eine wichtige Rolle bei der Formierung von Protesten spielen. Aus solchen Bewegungen und in diesen entstehenden Bündnissen kann auch bundesweiter Widerstand gegen zukünftige Kürzungen einer Bundesregierung entstehen.
Mehr Klassenkampf von unten wird auch neue Chancen für den Aufbau einer so dringend nötigen Arbeiter*innenpartei bieten. Der Überlebenskampf der Linken und die Rechtsentwicklung des BSW machen es umso dringender nötig, dass Gewerkschafter*innen, Linke (in und außerhalb der Partei) und Aktivist*innen aus sozialen Bewegungen darüber diskutieren, wie man gemeinsam in der Zukunft eine starke sozialistische Kraft schaffen kann. Diese kann nur aus neuen Kämpfen der Arbeiter*innenklasse entstehen – und die rücken trotz aller Komplikationen unaufhörlich näher.
Sascha Staničić und Tom Hoffmann sind Mitglieder der Sol-Bundesleitung.