Der Plural von Einzelfall ist nicht Einzelfälle

Bericht von der Demonstration anlässlich des 20. Todestag von Oury Jalloh

Am 07.01.2025 war der Todestag von Oury Jalloh 20 Jahre vergangen. Die Protestbewegung in Dessau, organisiert von der Initiative Oury Jalloh, ist in dieser Zeit von anfänglich 15 Personen, insbesondere Angehörige und Freunde des Opfers, zu einer zentralen antifaschistischen Kundgebung geworden. Grund für die anhaltende Brisanz ist das Ausbleiben einer Aufarbeitung des Falls.

von Noah Krause, Teilnehmer an der Gedenkdemonstration

Etwa 1000 Menschen beteiligten sich an der Demonstration. Bei der Demo sprach u.a. der Bruder von Oury Jalloh und berichtete von kafkaesken Gerichtsverhandlungen, bei denen Kameramitschnitte plötzlich aufhören, angeblich aufgrund eines Stromausfalls; vernichteten Akten; bürokratischen Hürden und der generellen Aussichtslosigkeit auf Gerechtigkeit, wenn diese in den Institutionen nicht gewünscht ist.

Die Indizien sind währenddessen eindeutig: Eine Person, vierfach auf einer feuerfesten Matratze fixiert, kann sich nicht selbst entzünden und jedes angefertigte Gutachten spricht gegen diejenigen, die das behaupten. Auch wenn fehlerhaftes Verhalten der Polizisten anerkannt wurde, wurde das Verfahren eingestellt – obwohl mehrere Sachverständige erklärten, dass ein Tod unter Beteiligung Dritter wahrscheinlicher ist als eine Selbstanzündung. Einzig der Dienstgruppenleiter wurde wegen fahrlässiger Tötung zu 120 Tagessätzen zu 90 Euro verurteilt1.

Kein Einzelfall

Dass tödliche Polizeigewalt nicht geahndet wird, ist kein Einzelfall. Erst im Dezember 2024 kam es zum Urteil im Prozess Mouhamed Dramé: Dramé befand sich in einer Jugendhilfeeinrichtung. Während einer psychischen Ausnahmesituation wurde die Polizei gerufen. Der Jugendliche richtete ein Küchenmesser auf sich, ohne andere zu gefährden. Die Polizei setzte Pfefferspray ein. Als er aufstand und zu den Beamten ging, wurden Taser eingesetzt. Ein Beamter gab sechs Schüsse aus einer Maschinenpistole ab, wovon fünf den Jugendlichen trafen und zu Boden brachten. Mouhamed Dramé verstarb daraufhin.2 Alle angeklagten Polizist*innen wurden nun freigesprochen. Gegen das Urteil gegen den Einsatzleiter ist die Staatsanwaltschaft in Revision gegangen, der Schütze erhielt tags drauf die Verbeamtung auf Lebenszeit.

Umso wichtiger, weiter für Gerechtigkeit auf die Straße zu gehen. Der Demozug in Dessau fand seinen Auftakt am Hauptbahnhof mit einigen Reden. Am ersten Halt vor der Staatsanwaltschaft wurden symbolisch Feuerzeuge übergeben, da die Staatsanwaltschaft im Gerichtsprozess ein Feuerzeug als Beweis vorlegte, der belegen sollte, dass Oury Jalloh sich selbst entzündete. Vorbei am Gerichtsgebäude zog die Demo in den Stadtpark, in dem im Jahr 2000 Alberto Adriano, ein mosambikanischer Vertragsarbeiter, von Nazischlägern zu Tode geprügelt wurde. Anschließend zog man zum Rathaus und zur Abschlusskundgebung am Polizeirevier, in dem Oury Jalloh ermordet wurde. An den jeweiligen Haltepunkten gab es Reden von Menschen aus der Initiative Oury Jalloh, Angehörigen von Mouhamed Dramé, der Roten Hilfe, Antifaschist*innen aus Dessau und weiteren. In den Redebeiträgen wurde immer wieder die Systemfrage aufgeworfen.

Die beiden in aller Kürze geschilderten Fälle sind längst keine Einzelfälle, wie es immer wieder heißt. Die Liste kann ewig weiter geführt werden, wie die Recherche der Kampagne Death in Custody3 zeigt. Vielmehr ist die Verwendung dieses Begriffs„Einzelfall“ perfide Vertuschung eines strukturellen Problems – nämlich, dass Rassismus und Xenophobie fester Bestandteil des kapitalistischen Systems und staatlicher Institutionen ist. So gab es kürzlich erst wieder Übergriffe auf migrantische Personen im Berliner Görlitzer Park durch die Polizei4.

Ursachen rechter und Polizeigewalt

Erschreckend sind auch die Radikalisierungsprozesse in extrem rechten Kreisen. In Magdeburg gab es seit dem Weihnachtsmarkt-Anschlag eine Serie von Angriffen auf Migrant*innen. Die Entmenschlichung, die daraus entspringt, ermächtigt Menschen zu derart Taten und legitimiert gleichzeitig bei Manchen kollektives Wegsehen. Schuldzuweisungen an marginalisierte Personengruppen für ökonomische Krisen, die der Kapitalismus zu verantworten hat, bieten Nährboden für das „nach unten treten“ und eben jene Radikalisierung. Die immer häufiger werdende mediale Inszenierung des Staates als Verteilungsinstanz von Sozialleistungen bei klammen Kassen und angeblich unzähligen Beziehern, die gebetsmühlenartige Wiederholung der wirtschaftlichen Notlage Deutschlands in eben diesen Medien sowie die fortschreitende Abschottung der Festung Europa drückt die Menschen in ein Konkurrenzverhältnis und sortiert jene aus, die nicht dem gern beschworenen „nationalen Wir“ angehören. Ein „nationales Wir“, dass es nicht gibt, da die Trennlinien in einer Klassengesellschaft nicht nach nationaler Zugehörigkeit verlaufen, sondern eben nach Klassenzugehörigkeit. Diese Diskurse gehen nicht an der Polizei vorbei, womit auch Polizeigewalt nicht losgelöst davon stattfindet.

Es ist noch frisch, dass „Bundesküchentischminister“ Habeck sagte, dass „wir“ diejenigen Syrer hier gebrauchen können, die auch hier arbeiten5. Da hat er den (Nutz-)Wert eines Menschen für das „nationale Wir“, also für das deutsche Kapital, wunderbar zusammengefasst und gezeigt, wie der Nationalismus und Rassismus Grundrechenarten des Imperialismus sind. Ein Staat, der sich der Profitlogik verpflichtet fühlt, wird das auch in seine Institutionen und sein Gewaltmonopol tragen, als dass er etwas an den rechten Strukturen (siehe die vielen rassistischen Chatgruppen) oder an der institutionalisierten Gewalt ändert. Dieses Problem lässt sich am Ende auch nicht lösen, solange die kapitalistische Profitlogik existiert und ein „Teile und Herrsche“ zur Aufrechterhaltung der Ordnung notwendig macht.

1 https://www.stern.de/panorama/verbrechen/jalloh-prozess-polizist-muss-geldstrafe-wegen-fahrlaessiger-toetung-zahlen-3891750.html

2 https://solidaritaet.info/2024/12/skandalurteil-im-mouhamed-drame-prozess/

3 https://doku.deathincustody.info/

4 https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188019.polizeigewalt-goerlitzer-park-wir-wollen-nicht-dass-jemand-stirbt.html

5 https://www.zeit.de/news/2025-01/06/habeck-ueber-syrer-wer-nicht-arbeitet-wird-gehen-muessen