Kurswechsel dringend nötig
Wir befinden uns inmitten einer akuten multiplen Krise des Kapitalismus – sozial, ökologisch, ökonomisch und politisch. Das Scheitern der Ampel-Koalition ist ein Ausdruck dieser Krise. Schon jetzt drücken Inflation, steigende Sozialabgaben und Mietenexplosionen den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse nach unten. Bereits seit Jahren werden marode Zustände an Schulen, Kitas, Krankenhäusern usw. beklagt. Der Personalmangel hat sich in vielen Bereichen der Daseinsvorsorge wie auch der Infrastruktur verschlimmert, und es wurde nichts dagegen getan. Nun kommen reihenweise Ankündigungen von massivem Stellenabbau in der Industrie und einem Anwachsen der Arbeitslosigkeit hinzu. Auch auf der Ebene der Kommunen wird der Rotstift angesetzt. Eine Kommune nach der anderen verkündet Sparhaushalte. Angriffe gegen die Arbeiter*innenklasse finden also auf verschiedenen Ebenen statt und werden sich weiter zuspitzen. Eine neue Regierung, wahrscheinlich geführt von der CDU/CSU unter Friedrich Merz, wird den Druck auf die Arbeiter*innenklasse in der Krise enorm verschärfen und weitreichende Angriffe gegen sie und die Gewerkschaften in die Wege leiten. Es wird also nichts besser, sondern alles nur noch schlimmer. Die Herausforderungen für Gegenwehr sind riesengroß.
von Angelika Teweleit
Die Gewerkschaften sind die größten Organisationen der Arbeiter*innenklasse. Ihnen kommt eine zentrale Aufgabe zu, den Lebensstandard der Lohnabhängigen zu verteidigen beziehungsweise zu verbessern. Doch mit ihrem Kurs von Sozialpartnerschaft und Standort-Politik zeigen ihre Führungen aktuell keine Perspektive für konsequenten Widerstand auf. Damit sich das ändert, sollten Linke und Sozialist*innen gewerkschaftspolitische Alternativen formulieren, sich in den Gewerkschaften dafür einsetzen und wo nötig und möglich, selbst Initiativen ergreifen.
Arbeitsplätze
Das Thema Erhalt von Arbeitsplätzen stand lange Zeit nicht im Vordergrund – das ändert sich gerade massiv. Deutschland ist ein Industrieland und stark abhängig vom Export. 2023 gab es 8,15 Millionen Beschäftigte im produzierenden Gewerbe. 5,6 Millionen davon in Industriebetrieben mit mehr als fünfzig Beschäftigten.
Die Ankündigungen des VW-Vorstands, zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Werke zu schließen und Entlassungen durchzuführen, hat wie ein Erdbeben gewirkt. Die Schwierigkeiten sind nicht auf VW oder einzelne Hersteller begrenzt – auch Bosch, Daimler, Stellantis, Schaeffler, ZF und viele andere Autobauer und Zulieferer wollen ihre Belegschaften massiv verkleinern. Bei den Zulieferern gibt es viele mittelständische Unternehmen, die bereits ihre Werke schließen.
Auf der Webseite des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) heißt es noch im November: „Verschiedene große Industriekonzerne stehen in den Schlagzeilen, weil sie Stellen abbauen oder Standorte verlagern wollen. Die Probleme in diesen Konzernen sind vielschichtig. (…) Von einer flächendeckenden Krise ganzer Branchen kann bisher keine Rede sein.“
Damit wird die tiefe Krise der Autoindustrie, von der hunderttausende Beschäftigte allein in Deutschland abhängen, nicht einmal beim Namen genannt. Außerdem werden die grundlegenden Probleme, die durch den Kapitalismus hervorgebracht werden, und in der Krise dazu führen, dass Kapitalist*innen beschließen, Unternehmensteile abzustoßen, Produktionsstätten stillzulegen oder massiv Personal einzusparen, verwischt. Angeführt werden Managementfehler und mangelnde Vorkehrungen für die Transformation der Industrie. Im Kern handelt es sich aber um eine klassische kapitalistische Krise durch die Anhäufung weltweiter Überkapazitäten, die sich aus den Widersprüchen des kapitalistischen Konkurrenz- und Profitsystems ergeben.
Co-Management und Verzicht
Die Gewerkschaftsführungen verharren in der kapitalistischen Logik, und vertreten eine Standortpolitik – sei es in der Autoindustrie oder anderen ebenso vom Kahlschlag bedrohten Branchen, wie Stahl und Chemie. Innerhalb dieser Standortpolitik sind sie weiterhin bereit, für Zusagen einer – immer nur vorübergehenden – Beschäftigungssicherung Zugeständnisse bei den Löhnen und Arbeitsbedingungen zu machen – bei VW und in der gesamten Metall- und Elektroindustrie, wie auch anderswo.
So bedeutet auch das Ergebnis der Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie vom Herbst 2024, dass der Reallohnverlust von etwa zehn Prozent seit 2018 nicht wett gemacht wurde und je nach Entwicklung der Inflation in den nächsten Jahren sich weiter fortschreibt. Dieser Abschluss wurde vor dem Hintergrund von Ankündigungen von Stellenabbau für eine Laufzeit von 25 Monaten vereinbart. In einer gemeinsamen Erklärung des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall und der Gewerkschaft IG Metall wurde zum Abschluss sogar eine „Sozialpartnererklärung für den Industriestandort“ abgegeben, in der es heißt: „Mit dem Tarifabschluss haben die Tarifvertragsparteien ihre Verantwortung übernommen und eine Lösung gefunden, die sowohl den Interessen der Arbeitgeber als auch der Beschäftigten gerecht wird.“ Leider werden durch solche Äußerungen der Gewerkschaftsführung auch viele Kolleg*innen verunsichert und denken, es ist nötig, den Gürtel enger zu schnallen, um den Arbeitsplatz zu behalten.
Dabei ist eins in den letzten Jahrzehnten mehr als deutlich geworden: Lohnverzicht sichert keine Arbeitsplätze. Diese Erfahrung mussten schon viele Kolleg*innen machen. Immer wieder wurden solchen Kompromissen von Seiten der IG Metall-Führung zugestimmt, um dann die Erfahrung zu machen, dass dennoch schleichend Stellen abgebaut oder auch Werke, wie das Opel-Werk in Bochum, geschlossen wurden.
Gemeinsam kämpfen
Es darf kein Ausspielen von Standorten geben – weder in Deutschland noch international. Stattdessen müssten die Kolleg*innen konzern- und branchenweit in Versammlungen zusammen gebracht werden, um über die nötigen Kampfschritte zur Verteidigung ihrer Arbeitsplätze zu beraten. Außerdem sollte die IG Metall-Führung Kolleg*innen aus verschiedenen Unternehmen gemeinsam auf die Straße bringen – von Bosch über Daimler und VW bis zu ZF – und zeitgleich zu Arbeitsniederlegungen aufrufen. Damit sollte das Signal durch die Republik gehen: Die Gewerkschaften nehmen den Kahlschlag in der Industrie nicht hin. Gemeinsam mobilisieren sie alle Kolleg*innen für die Forderung nach Erhalt ihrer Arbeitsplätze und Einkommen. Die erste zentrale Forderung sollte eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich in der gesamten Industrie sein. In einzelnen von Entlassungen oder Schließung bedrohten Betrieben oder Unternehmen sollte die Forderung lauten: Keine Entlassung – Verteilung der vorhandenen Arbeit auf alle durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn.
Transformation – aber wie?
Dafür wäre es nötig, die Standort- und Konkurrenzlogik der letzten Jahrzehnte aufzugeben. Außerdem muss eine klare Antwort auf die Frage einer klimafreundlichen Transformation gegeben werden – und zwar, ohne den Verlust von Arbeitsplätzen hinzunehmen. Die Antwort sollte nicht – wie aktuell von der IG Metall-Führung für die Autoindustrie gefordert, eine Fokussierung auf E-Autos und Kaufprämien sein. Dies ist aus verschiedenen Gründen falsch: erstens wissen alle, dass für die Produktion von E-Motoren nur ein Bruchteil an Arbeitskräften benötigt wird. Deshalb kann hier die AfD (bzw. CDU/CSU) Punkte bei Beschäftigten machen, wenn sie die Rückkehr zum Verbrenner-Motor fordert. Diese populistische Scheinantwort ist natürlich abzulehnen – nicht nur, weil sie den Klimawandel verschärfen würde, sondern auch, weil damit die Arbeitsplätze genauso gefährdet wären. Damit streuen diese Kräfte den Kolleg*innen Sand in die Augen, um den Eindruck zu erwecken, dass sie auf ihrer Seite stünden.
Zum zweiten ist ein Ausbau von E-Mobilität bei einer Beibehaltung des Individualverkehrs nicht klimafreundlich, denn die Herstellung der Autos führt zu einem hohen CO2-Ausstoß und zum Verbrauch von seltenen Erden in großer Menge und solange der für E-Autos verwendete Strom nicht aus erneuerbaren Energien kommt, ist auch der Verbrauch nicht klimafreundlich. Hinzu kommt, dass durch Reifen- und Bremsenabrieb weiterhin Feinstaub erzeugt wird.
Zum dritten ist es so, dass auch bei E-Autos letztlich innerhalb des Kapitalismus eine Überproduktion stattfindet, also ebenso Arbeitsplätze dadurch gefährdet bleiben. Die sinnvollste Transformation wäre eine gesamtgesellschaftliche Umstellung weg vom Individualverkehr auf den öffentlichen Verkehr, kombiniert mit demokratisch entwickelten Car-Sharing-Lösungen. Aber wie kann das gelingen, ohne dabei massenhaft Arbeitsplätze zu gefährden? Unter den Vorzeichen kapitalistischer Profit- und Konkurrenzlogik ist das nicht möglich.
Gemeineigentum an Produktionsmitteln
In der IG Metall-Satzung wird nicht ohne Grund die „Überführung von Schlüsselindustrien und anderen marktbeherrschenden Unternehmen in Gemeineigentum“ gefordert. Das erst würde die Voraussetzung für eine geplante Umstellung der Produktion unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die Beschäftigten und die arbeitende Bevölkerung insgesamt schaffen. So könnte gesellschaftlich sinnvoll geplant werden, was mit den Produktionsanlagen alternativ produziert werden soll und gleichzeitig sichergestellt werden, dass durch eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich Beschäftigte nicht ihre Arbeitsplätze und ihren Lebensunterhalt verlieren.
Die jetzigen Gewerkschaftsführungen scheuen die Forderung nach Gemeineigentum an den Produktionsmitteln wie der Teufel das Weihwasser. Umso wichtiger ist es, dass Linke und Sozialist*innen diese Forderung offensiv in die Debatte bringen und am Bewusstsein von Kolleg*innen ansetzend möglichst konkret erklären, was damit gemeint ist und warum es für sie einen Weg aufzeigt, ihr Werk oder ihre Arbeitsplätze zu retten. Im nächsten Schritt kann aufgezeigt werden, warum das nicht nur für einen Betrieb gelten sollte. Denn nicht nur in der Automobilindustrie, sondern auch bei Stahl, Chemie, Pharmazie, Medizingeräten, Lebensmitteln, Energiegewinnung, Wohnungsbau, Banken und anderen wichtige Industrien und Dienstleistungen ist die Frage, in welchem Interesse die Wirtschaft geführt wird – dem einiger weniger Eigentümer*innen, Großaktionär*innen und Kapitalbesitzer*innen, oder im Interesse der großen Masse.
Arbeitskampfmaßnahmen ergreifen
Ein konsequenter Kampf für den Erhalt aller Arbeitsplätze muss organisiert werden. Dafür werden Streiks und möglicherweise auch Betriebsbesetzungen erforderlich sein. Aktuell sollten Versammlungen von Vertrauensleuten und Beschäftigten in allen betroffenen Betrieben durchgeführt werden. Nötig ist der gemeinsame Kampf, auch über Ländergrenzen hinweg, sowie die Koordination von Abwehrkämpfen in verschiedenen von Arbeitsplatzabbau betroffenen Unternehmen von Audi bis ZF. Leider setzt die jetzige IG Metall-Führung, wie auch viele Betriebsräte, weiter auf Sozialpartnerschaft mit denselben Bossen, die Massenentlassungen durchführen wollen. Daher sollten sich kämpferische Kolleg*innen miteinander vernetzen und organisieren, um über Kampfvorschläge und deren Durchsetzung zu diskutieren.
Initiative von unten
Sollte die IG Metall-Führung, wie so oft, nicht bereit für die notwendigen Schritte zur Mobilisierung von Kolleg*innen sein, sollten betriebliche sowie überbetriebliche Aktionskomitees gebildet werden, welche Streiks und auch Besetzungen von Produktionsstätten diskutieren und ggf. organisieren. Ein Beispiel hierfür können die wilden Streiks bei den Bochumer Opel Werken 2004 sein. Damals organisierte die Arbeiter*innenschaft mithilfe von Aktionskomitees und außerordentlichen Betriebsversammlungen selbstständig Streiks, während die IG Metall-Führung lieber auf Verhandlungen mit den Konzernchefs setzte, anstatt den Kampf zu organisieren.
Öffentliche Daseinsvorsorge: verteidigen und ausbauen
Während in der Privatwirtschaft Stellen abgebaut werden, stellt sich im öffentlichen Dienst und den privatisierten Dienstleistungsbetrieben in der öffentlichen Daseinsvorsorge das Problem des Personalmangels. Während der Pandemie klatschten Politiker*innen aller etablierten Parteien den Beschäftigten im öffentliche Dienst heuchlerisch Beifall und es wurde so getan, als ob man sich um eine verbesserte Personalausstattung kümmern wolle. Nun wird mit der Krankenhausreform groteskerweise noch dafür gesorgt, dass Krankenhäuser schließen müssen, die Versorgung sich also im Vergleich zum desaströsen Ist-Zustand verschlechtert. Das ist nicht alles. In vielen Kommunen werden zur Zeit Sparhaushalte beschlossen, und damit die Finanzierung von vielen wichtigen sozialen Einrichtungen für Kinder, Jugendliche, ältere Menschen, Menschen mit Behinderung, Frauen, Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund und vielem mehr gestrichen! Auch Schwimmbäder, Bibliotheken, Freizeiteinrichtungen, Musikschulen, Theater etc. stehen auf den Abschusslisten! Das bedeutet zum einen den Verlust von vielen hunderttausenden Arbeitsplätzen und Einkommen. Zum anderen werden viele Menschen durch den Wegfall dieser Angebote einsam, verzweifelt und krank. Kinder und Jugendliche haben noch weniger Möglichkeiten für sozialen Austausch und sportliche Aktivitäten – alles vor dem Hintergrund einer enormen Verbreitung von psychischen Krankheiten – unter anderem im Kinder- und Jugendalter.
Auch im Bundeshaushalt wird es Einschnitte zulasten der arbeitenden Bevölkerung geben, um für Reiche und Konzerne Steuern zu senken und gleichzeitig teure Aufrüstungsprogramme zu finanzieren. All das trifft sowohl Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, als auch die Arbeiter*innenklasse insgesamt. In der bevorstehenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst ist schon jetzt absehbar, dass Unternehmer*innen und Politiker*innen nicht nur sagen, es sei nicht genug Geld da, um die Forderungen zu erfüllen. Wahrscheinlich wird auch argumentiert, dass Kürzungen in den Kommunen noch härter ausfallen, wenn die Beschäftigten nicht bereit sind, den Gürtel enger zu schnallen. Damit soll auch ein Spalt in die Arbeiter*innenklasse getrieben werden. Natürlich ist es nicht so, dass ver.di nicht mehr Geld für Gesundheit, Soziales und Bildung etc. fordern würde. Immerhin fordert die Gewerkschaft seit Jahren die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und bemängelt die ungleiche Verteilung gesellschaftlichen Reichtums. Aber in Tarifrunden akzeptiert sie die Logik der vermeintlichen Sachzwänge. Dabei liegt die potenzielle Macht der Gewerkschaften, etwas zu ändern, genau da, wo man ökonomischen und politischen Druck mit Streiks aufbauen kann.
Gegenüber der Logik von CDU/CSU, FDP, SPD, Grünen (und auch der AfD), es sei kein Geld da, muss offensiv formuliert werden: Doch! Wir wissen, wo man das Geld holen muss – aus den Kassen von Reichen und Konzernen bzw. bei den Großaktionär*innen.
Linke und Sozialist*innen in den Gewerkschaften sollten in Bezug auf Forderungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge und dem öffentlichen Dienst vorschlagen, dass die Gewerkschaften – im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung – eine unmittelbare Milliardärsabgabe sowie die Besteuerung von Vermögenden und Konzernen fordern. Mit der Einführung einer Millionärssteuer von zehn Prozent ab einer Million Euro, sowie einer unmittelbaren Milliardärsabgabe von mindestens dreißig Prozent und den Stopp des Rüstungswahnsinns könnten hunderte Milliarden Euro verfügbar gemacht werden. Notwendige Investitionsprogramme in ein öffentliches und bedarfsgerechtes Gesundheitswesen, für bessere Ausstattung von Kitas, Schulen, Unis den Ausbau des Schienennetzes für Nah- und Fernverkehr sowie Schienenfahrzeuge würden dadurch frei gemacht. Es würde auch genug da sein für eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst, und für eine Ausbildungskampagne.
Tarifrunde öffentlicher Dienst
Anstatt sich wieder nur auf eine Tarifrunde mit Warnstreiks vorzubereiten, wäre es nötig, diesmal ernsthaft in den Betrieben auf eine Urabstimmung und Erzwingungsstreik hinzuarbeiten. Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst könnte entweder mitten im Wahlkampf oder unmittelbar nach den Neuwahlen stattfinden. Mit einer neuen Regierung drohen massive Kürzungen. Umso wichtiger wäre es, diese Tarifrunde als Ausgangspunkt für eine gesellschaftliche Bewegung zu nutzen. Von Anfang an muss eine Solidaritätskampagne aufgebaut werden, um den Kürzungsplänen der Regierung die Mobilisierungskraft von Beschäftigten mit Unterstützung aus allen Gewerkschaften entgegenzustellen.
Gibt es hier ein ähnlich schlechtes Ergebnis wie in der Metall- und Elektroindustrie, besteht die Gefahr, dass sich ver.di-Mitglieder nach der Tarifrunde enttäuscht von ihrer Gewerkschaft abwenden. ver.di-Kolleg*innen, die in ihrem Betrieb aktiv sind und eine kämpferische Strategie voranbringen wollen, ist das „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di“ ein Angebot zur Vernetzung. Je mehr Kolleg*innen sich hier vernetzen, umso besser werden die Voraussetzungen, sich systematisch für einen Kurswechsel weg von sozialpartnerschaftlicher Ausrichtung hin zu einer kämpferischen Strategie einzusetzen und damit ihre Gewerkschaft zu stärken.
Agenda 2030 droht
Aufgrund der kapitalistischen Krise und dem verschärften weltweiten Konkurrenzkampf, inklusive Militarisierung und Aufrüstung, drängt das Kapital auf eine Agenda 2030. Auf der Wunschliste stehen Flexibilisierungsmöglichkeiten bei den Arbeitszeiten und Arbeitszeitverlängerung, Erhöhung des Renteneinstiegsalters, Abschaffung des Bürgergelds in der derzeitigen Form. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte im Juni 2023 die feuchten Kapitalistenträume bezüglich des Streikrechts in einem Positionspapier festgehalten: Streiks in Bereichen der „kritischen Infrastruktur“ sollen drei Tage vorher angekündigt und ein Notbetrieb von fünfzig Prozent sichergestellt werden. Zudem sollen Warnstreiks nur noch maximal vier Stunden dauern dürfen, gefolgt von einer 72-stündigen „Abkühlungsphase“. Sollten Unternehmer*innen oder Gewerkschaften eine Schlichtung wünschen, würde sie verpflichtend.
Das Streikrecht in der Bundesrepublik ist kein umfassendes, sondern ein beschränktes Recht. Es basiert nicht auf klaren gesetzlichen Regeln, sondern auf dem Grundgesetzartikel 9, Absatz 3, von dem abgeleitet wird, dass das Streikrecht nur in Tarifauseinandersetzungen besteht. Durch Gerichtsentscheidungen ist so eine Rechtspraxis entstanden, die vorsieht, dass nur Gewerkschaften im Rahmen von Tarifverhandlungen zum Streik aufrufen dürfen. Viele Arbeitsrechtler*innen sehen darin jedoch einen Widerspruch zum Grundrecht auf Streik und zu internationalen Abkommen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Deshalb sollten die Gewerkschaften zum Beispiel die Behauptung, politische Streiks seien verboten, zurückweisen und ein Recht auf politischen Streik (wie es bisher die Gewerkschaften ver.di, GEW und IG BAU auch tun) explizit einfordern.
Angriffe gegen das Streikrecht, aber auch auf Arbeitszeitgesetze, Renten und anderes, sind Angriffe politischer Natur gegen die Arbeiter*innenklasse. Hier gelten keine Tarifverträge oder Friedenspflichten. Um solche Angriffe abzuwehren, werden Proteste und Demonstrationen nicht ausreichen. Daher wird es immer wichtiger, in der Gewerkschaften für den Einsatz des politischen Streiks zu kämpfen. Häufig wird auch von Seiten der Gewerkschaftsführungen argumentiert, dass es kein Recht auf politischen Streik gebe und ein solcher deshalb nicht möglich sei. Allerdings gibt es kein Gesetz, welches ihn untersagt. Letztlich kann sich die Rechtspraxis mit den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ändern. In der Geschichte hat es auch in Deutschland immer wieder, wenn auch begrenzte, Arbeitsniederlegungen gegen Angriffe von Regierungen gegeben. Zuletzt beteiligten sich im Jahr 2007 300.000 Metallarbeiter*innen an Arbeitsniederlegungen gegen die Rente mit 67.
Wir schlagen Alarm!
Noch ist nicht klar, welche Maßnahmen genau umgesetzt werden und wann. Leider ergreifen die Gewerkschaftsführungen nicht die notwendigen Kampfmaßnahmen und halten sich weiter am Traum von sozialpartnerschaftlichem Miteinander fest. Deshalb haben Mitglieder der Sol im letzten Jahr in Vorausschau der Ereignisse einen Aufruf unter dem Motto „Wir schlagen Alarm“ gestartet. Hier heißt es:
(…) Diesem Klassenkampf von oben müssen Beschäftigte und Gewerkschaften im Bündnis mit sozialen Bewegungen entschlossenen Widerstand entgegensetzen.
Wir setzen uns in den Gewerkschaften dafür ein, an jeder Stelle Widerspruch zu formulieren, Widerstand zu organisieren und lokale, regionale und bundesweite Netzwerke gegen drohende weitreichende Angriffe aufzubauen. Dazu sollen Aktionskonferenzen einberufen werden, um einen gemeinsamen Aktionsplan für Proteste bis hin zu einer bundesweiten Großdemonstration z.B. für folgende Forderungen zu diskutieren. (…) Wir erklären unsere Bereitschaft, entsprechende Initiativen von unten selbst anzustoßen und dabei mitzuarbeiten.
Die begonnene Vernetzung wird in den nächsten Monaten wichtiger und kann angesichts der konkreteren Bedrohung weiter aufgebaut werden.
Politische Alternative für die Arbeiter*innenklasse
Angesichts der tiefen sozialen, ökologischen, ökonomischen und politischen Krise braucht die Arbeiter*innenklasse nicht nur kämpferische Gewerkschaften, sondern es muss auch eine politische Alternative aufgebaut werden, die die Klasseninteressen von Lohnabhängigen vertritt. Momentan ist die Gefahr, dass die AfD weiter Stimmen auch von Arbeiter*innen und Gewerkschaftsmitgliedern bekommt. Das liegt auch am Versagen der Partei Die Linke, eine konsequente und sichtbare Alternative aufzuzeigen. In einem Neuformierungsprozess einer linken politischen Alternative müssen kämpferische Gewerkschafter*innen eine Rolle spielen.
Die derzeitigen Gewerkschaftsführungen sind zum großen Teil eng mit der prokapitalistischen SPD verbunden, die nun im Wahlkampf links blinken wird, um wieder Stimmen zu gewinnen. Doch von all ihren sozialen Versprechen wird wieder nichts übrig bleiben. Es darf nicht vergessen werden, dass nicht nur die Schröder-Regierung die Agenda 2010, sondern auch die von Scholz geführte Ampel-Regierung Kürzungen durchgeführt hat. Gegen die enormen Preissteigerungen wurden keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen, beim Bürgergeld scharfe Sanktionen eingeführt und geplante Investitionen für den Ausbau des Schienenverkehrs gestrichen. Die SPD ist schon lange keine Partei mehr, die die Interessen der Arbeiter*innenklasse vertritt, sondern diejenigen von Reichen, Banken und Konzernen. Auch die Grünen haben sich inzwischen klar als grüne Partei des Kapitals entpuppt. Deshalb ist es nötig, für einen Bruch der Gewerkschaften mit diesen Parteien zu argumentieren.
Im aktuellen Wahlkampf ist es wichtig, sich in den Gewerkschaften für die Wahl der Linken starkzumachen, weil sie die einzige Partei ist, die sich gegen die Sozialabbau-Pläne stellt. Doch auch Die Linke hat in den letzten Jahren eine Politik betrieben, mit der sie keine klare Alternative zu den prokapitalistischen Parteien dargestellt hat. Stattdessen hat sie in Regierungsbeteiligungen auf Länderebene die kapitalistische Kürzungspolitik mitvollzogen – bis hin zum Verkauf von öffentlichem Eigentum. Deshalb muss auch die Diskussion geführt werden, was für eine Art politischer Interessenvertretung die Arbeiter*innenklasse braucht und welche Rolle aktive Gewerkschafter*innen dabei spielen können.
Diese Diskussion sollte mit dem nötigen Aufbau von Widerstand verbunden werden, bzw. kann sich aus Kämpfen und Bewegungen heraus entwickeln. So war auch die Protestbewegung gegen die Agenda 2010 ein wichtiger Ausgangspunkt für die Gründung der WASG (Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit), die dann mit der PDS 2007 die Partei Die Linke gründete. Gewerkschafter*innen spielten eine wichtige Rolle, die WASG zu gründen.
Die Frage einer konsequenten politischen Interessenvertretung für die Arbeiter*innen in Form einer Massenpartei ist wichtiger denn je und darf in den Gewerkschaften kein Tabuthema sein. Im Gegenteil – fehlt es an einer klaren Alternative von links, wird die AfD in dieses Vakuum stoßen, die mit ihrer arbeiter*innenfeindlichen Politik eine große Gefahr darstellt.
Grundlage für eine Arbeiter*innenpartei sollten Programmpunkte wie massive Investitionen in Gesundheit, Bildung, Wohnen, Umwelt und Soziales, finanziert aus Vermögen und Unternehmensgewinnen sein; Stopp des Rüstungswahnsinns und keine Unterstützung von Kriegen für imperialistische Interessen; deutliche Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich; auskömmliche Löhne und Mindestsicherung; Rücknahme von Privatisierungen und stattdessen Überführung von Schlüsselindustrien in Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung; demokratische, gesellschaftliche Planung nach Bedarf. Ein solches Programm sollte schließlich auf der Perspektive einer grundlegenden Überwindung des Kapitalismus hin zu einer sozialistischen Demokratie basieren – aber auch, wenn es das anfangs nicht tut, wäre eine solche Partei ein riesiger Fortschritt. Kämpferische Gewerkschafter*innen können eine wichtige Rolle spielen, um eine politische Alternative mit Potenzial für eine Massenarbeiter*innenpartei aus Teilen der Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der Partei Die Linke und anderen linken Kräften zu schmieden.
Die derzeitigen Gewerkschaftsführungen werden die nötigen Aufgaben der Organisierung von Widerstand nicht in dem Maße ausführen, wie es nötig ist. Deshalb müssen sich aktive, kritische Kolleg*innen miteinander vernetzen, um einen Kurswechsel herbeizuführen, und die Gewerkschaften auf diese Weise zu stärken. Die Sol will einen aktiven Beitrag dabei leisten.
Angelika Teweleit ist Sprecherin des Netzwerks für eine demokratische und kämpferische ver.di, im Koordinierungskreis der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und Mitglied der Sol-Bundesleitung.