Serbien in Aufruhr

Studierendenproteste in Belgrad, CC0 1.0 Universal

Monatelange Studierendenproteste erschüttern die Regierung

Die Situation in Serbien kocht über, nachdem drei Monate lang Studierendenproteste Gerechtigkeit für die fünfzehn Opfer des eingestürzten Daches des Bahnhofs in der Stadt Novi Sad gefordert haben. Das Vučić-Regime ist schwer erschüttert. Der Premierminister ist zurückgetreten, zweifellos auf Drängen des Präsidenten Vučić, nachdem zuvor einige Minister*innen als Sündenböcke zurückgetreten waren oder die für die Tragödie „Verantwortlichen“ nur zum Schein verhaftet wurden. Aber Vučić selbst, der Autokrat, der seit über einem Jahrzehnt regiert, ist noch immer im Amt.

von Mira Glavardanov

Der Einsturz des Daches im vergangenen November war nach jahrelanger Profitmacherei der mafiösen Regierung der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Bald darauf brachen Studierendenproteste aus, die Universitäten und Hochschulen im ganzen Land blockierten. Das Lehrpersonal unterstützte die Proteste mit Streiks, die in den meisten Fällen nicht von den Gewerkschaften unterstützt wurden. Landwirt*innen, die sich über die Politik, die die einheimische Lebensmittelproduktion ruiniert, oder über die Landnahmeversuche des Bergbauunternehmens Rio Tinto beschweren, unterstützten die Studierenden von Anfang an. Sie organisierten Proteste in ihren Städten und Dörfern und besuchten die Studis auf dem Campus, brachten landwirtschaftliche Erzeugnisse mit und kochten für sie Abendessen.

Die Studierenden haben die Beschäftigten zu Streiks aufgerufen, und einige unabhängige Gewerkschaften sind dem Aufruf gefolgt. Es gab zahlreiche kurze Arbeitsniederlegungen, die am 24. Januar in einem so genannten Generalstreik gipfelten (eher ein „landesweiter Streik“, da die meisten Gewerkschaften sich nicht offiziell beteiligten). Riesige Massen von Beschäftigten und Studierenden gingen auf die Straße. Das Lehrpersonal, deren Gewerkschaften den Streik nicht unterstützten, bildete „Foren“, in denen sie beschlossen, die Arbeit niederzulegen. Einige Postbeschäftigte und Bergleute legten ebenfalls die Arbeit nieder. Unter einigen Gewerkschaftsführer*innen und anderen wurde darüber diskutiert, wie ein richtiger Generalstreik organisiert werden könnte.

Auf jeden „Höhepunkt“ der Ereignisse folgte bald ein weiterer, größerer. Eine Woche später marschierten Hunderte Studierende aus Belgrad achtzig Kilometer nach Novi Sad, um die drei Donaubrücken zu besetzen und damit der Tatsache zu gedenken, dass der Einsturz des Bahnhofsdaches vor drei Monaten stattgefunden hatte. Sie marschierten zwei Tage lang und wurden unterwegs in den Städten und Dörfern mit reichlich Essen und Trinken und einem solchen Jubel empfangen, dass man ihn mit den Begrüßungen der Befreiungsarmeen am Ende der beiden Weltkriege verglich. Der Empfang in Novi Sad war spektakulär, die Menschenmassen waren riesig. Landwirte begleiteten die Studierenden auf Traktoren und mit langen Schlangen von Motorrädern und Radfahrer*innen.

Die Stimmung im Land hat sich gewandelt. Nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens und drei Jahrzehnten mit Kriegen, Sanktionen, NATO-Bombardements und ultranationalistischen Regierungen, an deren Spitze das Vučić-Mafia-Regime stand, waren die Menschen in Serbien demoralisiert, verarmt, verängstigt und zynisch, was die Möglichkeit eines Wandels anging. In nur drei Monaten hat die Studierendenbewegung dies grundlegend geändert. Das ist eine unglaubliche Leistung, die sie ihrer Entschlossenheit und ihrem Einfallsreichtum zu verdanken hat, vor allem aber der Tatsache, dass die Menschen die Selbstorganisierung der Studierenden anerkennen und die Unfähigkeit der misstrauischen offiziellen Opposition sehen, sie in irgendeiner Weise beeinflussen zu können.

Vučić hat erfolglos jeden Trick versucht, um die Bewegung zu korrumpieren, aber bisher hat er außer Gewalt keine Antwort. Seine Schläger haben Autos in die Demonstrierenden gefahren und sie zusammengeschlagen, aber jeder neue verletzte Studierende befeuert weiter die Proteste. Er hat versucht, sie mit dem Versprechen zu kaufen, die Universitätsgebühren um fünfzig Prozent zu senken (eine der Forderungen der Studierenden ist die Erhöhung der staatlichen Universitätsfinanzierung um zwanzig Prozent), aber das wurde von ihnen als Sieg angesehen und hat ihre Entschlossenheit nur noch verstärkt.

Vučić gelang es, einige korrupte Führer*innen der Gewerkschaft des Lehrpersonals zu kaufen, die für eine mickrige Gehaltserhöhung einem Moratorium für Streiks zustimmten. Es gibt Berichte über Massenabwanderungen von Mitgliedern aus diesen Gewerkschaften und den Beitritt zu unabhängigen Gewerkschaften. Die Vereinbarung wurde nach dem Rücktritt des Premierministers unterzeichnet, was praktisch den Zusammenbruch der Regierung bedeutete. Mit wem haben die Gewerkschaften also die Vereinbarung unterzeichnet? In Serbien weiß jeder, wer die Fäden in der Hand hält. Ähnlich wie das Lehrpersonal haben auch die Bergleute, die seit Jahren über die Korruption ihrer Gewerkschaft verärgert sind, beschlossen, eine neue Gewerkschaft zu gründen.

Schweigen der EU

Das Schweigen der EU, die immer bereit ist, „demokratische“ Proteste zu unterstützen, wenn es in ihrem imperialistischen Interesse liegt, spricht Bände. Die EU verurteilte „die gewaltsame Besetzung von Institutionen“, was sich offensichtlich auf die Blockaden der Universitäten durch Studierende bezog, auch wenn es keine Gewalt gegeben hat. Die Wahrheit ist, dass die EU Vučić im Amt halten will, weil er ihr serbische Lithiumreserven versprochen hat und ein Regierungswechsel dies gefährden würde. Die EU ist bestrebt, im Wettlauf mit China bei der Herstellung von Elektroautos aufzuholen, und Lithium ist dabei entscheidend. Der Kampf gegen die Mine ist noch lange nicht vorbei. Rio Tinto betreibt derzeit Lobbyarbeit bei der EU, damit diese sich offiziell hinter das Projekt stellt. Angesichts der bereits bestehenden Mobilisierung der Menschen in Serbien gegen die Mine und die Regierung wissen Rio Tinto, die EU und Vučić sehr wohl, dass die Mine nicht ohne den Einsatz von schwerer Gewalt durchgesetzt werden kann. Aber im Kapitalismus stehen die Profite über den Menschenrechten und es ist nicht undenkbar, dass sie darauf zurückgreifen könnten.


Die USA schweigen ebenfalls, und einer der Gründe dafür ist, dass Vučić Trumps Schwiegersohn einen erstklassigen Standort in Belgrad zur Verfügung gestellt hat – ironischerweise ein ehemaliges Hauptquartier der jugoslawischen Armee, das durch die NATO-Bombardierung Serbiens im Jahr 1999 beschädigt wurde – um ein „Trump-Hotel“ zu bauen. All dies zeigt, dass Korruption das Herzstück des profitgesteuerten Systems des Kapitalismus ist; Vučić und Trump sind nur eklatante Manifestationen davon. Auch Russland hat auf „Stabilität“ in Serbien gedrängt, da es ebenfalls in Serbien investiert. Vučić hat es geschafft, alle miteinander konkurrierenden kapitalistischen Mächte zu seiner Unterstützung zu vereinen und nutzt dies, um sich an der Macht zu halten.

Die Studierendenbewegung hingegen hat damit begonnen, die Menschen in der Region wieder zusammenzuführen. Studierende aus Kroatien, Bosnien und Montenegro veranstalten Solidaritätskundgebungen. In Kroatien wurden sie von den Behörden verurteilt, da diese befürchteten, dass die Proteste sich gegen die korrupte Innenpolitik wenden könnten. Die EU-Mächte müssen dasselbe befürchten. Die serbische Diaspora hat in vielen europäischen und anderen Städten Solidaritätsproteste organisiert. 

Früher oder später wird das Vučić-Regime stürzen, aber was dann? Die Opposition, die schon vor Vučić an der Macht war, wird von den Massen nicht als Alternative gesehen. Die Linke ist sehr klein und zersplittert, und einige von ihnen unterstützen nicht einmal die Studierendenbewegung, weil ihr “der Klassencharakter fehlt“, und geben damit die eigentliche Aufgabe der Linken auf, in dieser Zeit eines sehr geringen Klassenbewusstseins Orientierung zu bieten. Andere in der Linken erkennen den grundlegend fortschrittlichen Charakter der Proteste an, insbesondere die Studierendenversammlungen als Selbstverwaltungsorgane, die zusammen mit den Foren des Lehrpersonals einen Ausblick darauf geben, wie ein demokratischer Arbeiter*innenstaat funktionieren könnte. Einige liberale Gruppen schlagen eine „Expertenregierung“ für eine Übergangszeit vor, aber dies beruht auf der Illusion, dass ein Staat neutral zwischen den Interessen des Großkapitals und der Arbeiter*innenklasse und allen einfachen Menschen sein kann. Dies offenbart eine weitere Verwirrung: dass es möglich ist, über eine „demokratische, freie Gesellschaft“ zu sprechen, ohne über den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Systemen, dem Kapitalismus und einer demokratischen sozialistischen Gesellschaft, zu sprechen.

 Die meisten Menschen in Serbien wissen, dass die Dinge nach dem Sturz von Milošević im Jahr 2000 deshalb schief liefen, weil ebenso korrupte Kräfte die Macht an sich gerissen haben. Damals protestierten Massen von Studierenden und Beschäftigten, genau wie heute. Ein großer Unterschied war, dass die westlichen Mächte Milošević loswerden wollten, auch weil er das Land nicht genug für ausländisches Kapital geöffnet hatte (Privatisierungen kamen einheimischen Tycoons zugute).

Das Fehlen eines politischen Programms für die Massen war damals wie heute offensichtlich. Die Aufgabe, ein politisches Programm zu entwickeln, das die Interessen der Beschäftigten, Studierenden, Landwirt*innen entschieden vertritt, Minderheitenrechte wahrt und über die nationale Frage hinweg vereint, ist mehr als dringend.