
Politische Resolution der Sol-Bundeskonferenz vom 12. April 2025
- Wir befinden uns in einer Zeit enormer gesellschaftlicher Verwerfungen, Polarisierungen, Krisen, Verschiebungen von Kräfteverhältnissen und politischen Landschaften, die sich in einem amtemberaubenden Tempo vollziehen. Es ist eine neue Periode, die zwar Parallelen zu früheren Perioden in der Geschichte des Kapitalismus aufweist, aber aufgrund der besonderen Konstellation der Klassenkräfte letztlich beispiellos ist. Das ist eine große Herausforderung für unsere bescheidenen Kräfte, die im Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale organisiert sind. Die marxistische Methode liefert uns das Werkzeug, um diese Herausforderung zu meistern und die Kräfte des revolutionären Marxismus zu stärken. Es ist aber auch unvermeidlich, dass wir dabei Fehler machen werden, die wir ehrlich bilanzieren, bewerten und korrigieren müssen. Wir lernen im Vorwärtsgehen und im Kampf – entscheidend ist, dass unsere Mitglieder den Willen zum Kampf und zum Lernen haben. Dann haben wir eine Welt zu gewinnen.
- Das Tempo und die Fülle von Ereignissen haben den Effekt, dass die Wahrnehmung der Entwicklungen dazu tendiert, impressionistisch zu sein (sich also stärker von einzelnen Ereignissen, als den Entwicklungsprozessen beeinflussen zu lassen). Schnell geraten Ereignisse in Vergessenheit, obwohl sie noch gar nicht lange her sind. Als marxistische Organisation ist die Sol auch ein Gedächtnis der Arbeiter*innenklasse. Das gilt nicht nur für die fast 200 Jahre der organisierten Arbeiter*innenbewegung, für die Siege und Niederlagen der Vergangenheit, die theoretischen, programmatischen und methodischen Erkenntnisse und Errungenschaften. Es gilt auch für die Ereignisse, Erfolge, Niederlagen, Fehler, Erkenntnisse der jüngeren Vergangenheit.
- Diese Resolution fasst die wichtigsten Entwicklungen seit der letzten Sol-Bundeskonferenz im Dezember 2023 zusammen, stellt Perspektiven für die zu erwartenden explosiven Entwicklungen auf und benennt zu einigen wichtigen Fragen unsere Haltung und programmatischen Positionen. Sie hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Genoss*innen sollten die Analysen auf den Webseiten der Sol und des CWI für weitere und detailliertere Analysen lesen.
Weltlage
- Wir haben in den letzten Jahren sehr oft von Wendepunkten in der internationalen Lage gesprochen. Das traf auf die Corona-Pandemie, den Ukraine-Krieg, den Krieg gegen Gaza zweifellos zu. Gleichzeitig gibt es eine prozesshafte Wendung in den internationalen Beziehungen und der Entwicklung der Weltwirtschaft, die wir beschrieben und analysiert haben: der tendenzielle Niedergang des US-Imperialismus und der ökonomische, militärische und politische Aufstieg Chinas. Das geht einher mit einem Prozess der Neuordnung der internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen (auch „Deglobalisierung“ genannt) und einer Ausweitung des Protektionismus, sowie der Entwicklung einer multipolaren Welt, in der es zwar mit den USA und China zwei Hauptmächte gibt, aber viele andere Staaten unterschiedliche Bündniskonstellationen eingehen, um in dem Geflecht von Konkurrenz und gleichzeitigen gegenseitigen Abhängigkeiten nicht unterzugehen.
- Wir betrachten diese Entwicklungen als unvollendet und widersprüchlich. Die Analysen anderer Gruppen – wie teilweise unserer ehemaligen Genoss*innen, die uns 2019 verlassen haben – kranken oftmals an einem gewissen Schematismus und der Neigung, Phänomene als absolut darzustellen, die in Wirklichkeit im Fluss, unvollendet und widersprüchlich sind. Kategorien wie „Ende des Neoliberalismus“, „Neuer Kalter Krieg“ und die Einschätzung der weltweiten Kräfteverhältnisse als „bipolar“ erfassen die neuen, dynamischen Realitäten nicht.
- Die Wahl von Donald Trump zum 47. Präsidenten der USA markiert einen weiteren Wendepunkt, dessen Auswirkungen noch nicht absehbar sind. Seine Politik wird viele der Krisenprozesse in den USA und im globalen Kapitalismus verstärken und beschleunigen. Das gilt global für die Auswirkungen, die seine Zollpolitik haben kann, welche das Wachstum der Weltwirtschaft bremsen und sogar Auslöser für eine Rezession sein kann, aber auch für eine mögliche Verschärfung von globalen Konflikten. Seine Ankündigungen hinsichtlich eines möglichen militärischen Vorgehens zur Einnahme des Panama-Kanals und Grönlands klingen zwar nach Säbelrasseln, sollten aber ernst genommen werden. Trump versucht, die Macht der USA auszubauen und führt die Regierung wie ein kapitalistisches Monopolunternehmen, das sich alles kaufen und erlauben kann. Der Auftritt von Trumps Stellvertreter Vance bei der Münchener Sicherheitskonferenz und der öffentliche Streit mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj zeigten, dass sich auch die Beziehungen zwischen den USA und Europa grundlegend verändern können. Das wird innerhalb der EU und Europas sowohl den Druck erhöhen, militärisch unabhängig von den USA zu werden, also aufzurüsten, kann aber auch die Konflikte unter den europäischen Staaten vergrößern. Wie weit Trump gehen kann und was er genau vor hat, auch hinsichtlich des Nahen Ostens und einer Neubestimmung des Verhältnisses zu Russland, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorherzusehen. Klar ist aber, dass Spannungen, Konflikte und Instabilität zunehmen werden.
- Trump hat nach seiner Amtseinführung ein Dekret nach dem anderen erlassen und ein deutliches Signal gesetzt, dass er die US-Gesellschaft radikal umbauen will. Das hat schon erste Konflikte mit anderen staatlichen Institutionen ausgelöst. Wie weit er sich wird durchsetzen können, ist offen. Auch wenn sich viele Milliardär*innen hinter Trump stellen und seine unternehmerfreundliche Politik von Steuersenkungen für die Bourgeoisie (Kapitalist*innenklasse) unterstützen, ist es weiterhin so, dass ein wesentlicher – und der weitsichtigere – Teil der US-Kapitalist*innenklasse Trump als ein Sicherheitsrisiko für ihre Interessen betrachtet. Trumps Präsidentschaft wird zweifellos weitergehend bonapartistische (das heißt autoritär-undemokratische) Züge haben, als seine erste Amtszeit und auch international einen Trend in Richtung Abbau von bürgerlich-demokratischen Rechten und Entscheidungsprozessen verstärken.
- Dabei hatte Trump die Wahl weniger gewonnen, als dass die Demokrat*innen sie verloren haben. Nachdem sich unter dem angeblich „arbeiter*innenfreundlichsten Präsidenten seit Franklin D. Roosevelt“ die Lage der Arbeiter*innenklasse nicht verbessert, sondern verschlechtert hatte, wurde seine Vizepräsidentin und mögliche Nachfolgerin nicht gewählt. Doch Trump wurde nur von 28 Prozent der in den USA potenziell wahlberechtigten Menschen gewählt und hat keine starke soziale Basis in der Breite der Gesellschaft, wenn er den Kern seiner Unterstützer*innen auch ausbauen und festigen konnte. Auch wenn es zu seiner Amtseinführung und seitdem keine größeren Proteste gegeben hat, ist es nur eine Frage der Zeit, dass sich das ändern wird. Es gibt zwar einen Rechtsruck auf der institutionellen Ebene, es ist aber auf jeden Fall falsch, von einem gesellschaftlichen Rechtsruck in den USA zu sprechen, was sich nicht zuletzt an den Ergebnissen der vielen Volksabstimmungen zeigt, die am Tag der Präsidentschaftswahl in verschiedenen Bundesstaaten stattfanden und in denen in der großen Mehrzahl sowohl das Recht auf Abtreibung als auch höhere Mindestlöhne und bessere Arbeiter*innenrechte Mehrheiten fanden. Das drückt sich auch in den großen Kundgebungen aus, die Bernie Sanders und Alexandria Octasio-Cortez (AOC) in den letzten Wochen durchgeführt haben und bei denen Sanders auch die Frage unabhängiger Kandidaturen aufgeworfen hat, wenn auch nicht als Schritt um mit den Demokrat*innen zu brechen und eine neue Arbeiter*innenpartei zu bilden, was dringend nötig wäre.
- Angesichts von Trumps Wahlsieg und der Stärkung von rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften in vielen Ländern, sprechen manche Linke von einem internationalen Rechtsruck. Wir sprechen von einer Polarisierung, die oftmals jedoch auf der Rechten einen politischen und organisatorischen Ausdruck findet und auf der Linken aufgrund des Zustands der Gewerkschaftsführungen und der linken Parteien weniger. Zweifellos gibt es in vielen Ländern einen Rechtsruck in der herrschenden Politik und das oftmals unabhängig davon, ob Konservative, Liberale, Sozialdemokrat*innen, Grüne oder Rechtspopulist*innen regieren und gab es zum Beispiel auch bei den Europawahlen im vergangenen Jahr eine Stärkung rechtspopulistischer Parteien, wie es diese auch bei den Wahlen in Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland gegeben hat.
- Tatsächlich ist aber das globale Gesamtbild differenzierter, sowohl was den Klassenkampf angeht als auch hinsichtlich von Wahlergebnissen. Bei den Europawahlen haben in verschiedenen Ländern auch linke Parteien zugelegt, so in Skandinavien (wo die Rechtspopulist*innen deutliche Stimmenverluste erlitten), in Belgien, Frankreich, Griechenland. In Mexiko gewann die linksliberale Claudia Sheinbaum im Oktober die Präsidentschaftswahl, in Sri Lanka gewann die National People’s Power die Präsidentschaftswahl und erzielte bei der Parlamentswahl einen Erdrutschsieg mit der Steigerung von 3 auf 159 von 225 Sitzen, in Großbritannien wurden die Tories abgewählt. Vor allem galt: wer regiert, verliert. Außer in Mexiko verloren bei rund achtzig Wahlen weltweit die Regierungsparteien Stimmen und in vielen Fällen auch das Regierungsamt.
- Noch wichtiger ist die Fortsetzung des Klassenkampfes und von Massenbewegungen. 2023 war international sicher der vorläufige Höhepunkt einer neuen Streikwelle gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, aber auch 2024 haben wir in vielen Ländern wichtige Streiks gesehen, nicht zuletzt in den USA, wo es ungewöhnlicherweise auch in den Monaten vor der Präsidentschaftswahl große Streiks gab. In Nordirland waren unsere Genoss*innen maßgeblich am größten Streik in der Geschichte beteiligt, der im Januar 2024 stattfand und entscheidend dafür war, dass die politische Lähmung des Landes, die zur Nichtauszahlung von Löhnen geführt hatte (bzw. missbraucht wurde) beendet wurde. 2024 hat unter anderem das Scheitern des von Präsident Yoon Suk Yeol ausgerufenen Ausnahmezustands durch die Generalstreiksankündigung der südkoreanischen Gewerkschaften und die Massenstreiks gegen das neoliberale Programm der rechtsextremen Regierung von Javier Milei in Argentinien gesehen. Die großartige Massenbewegungen der Studierenden in Serbien (die große Unterstützung aus der Arbeiter*innenklasse hat) hält an und hat Ende März mit einer Demonstration von 800.000 Menschen in Belgrad einen vorläufigen Höhepunkt erlangt. Hier entwickeln sich auch bedeutende Formen der Selbstorganisation. In der Türkei waren sogar über eine Million gegen das Erdoğan-Regime auf der Straße und in Griechenland und Belgien haben wir in den ersten Monaten des Jahres 2025 Generalstreiks erlebt.
- Das zeigt, dass es global keinen einseitigen Rechtsruck gibt, sondern eine Polarisierung und eine Zuspitzung von Klassenkämpfen. Diese werden jedoch gebremst und können sich nicht entfalten aufgrund der Politik der Führungen der Arbeiter*innenorganisationen und linken Parteien, die in der Regel eine Blockade für Kämpfe und Bewegungen darstellen. Gleichzeitig ist das politische Bewusstsein und der Grad von Selbstorganisation der Arbeiter*innenklasse und der Jugend weiterhin nicht entwickelt genug, als dass diese Blockaden von unten durchbrochen werden könnten. Doch die Kämpfe und Bewegungen der letzten Jahre haben eine neue Stufe im Wiederaufbau der Arbeiter*innenbewegung in einer Reihe von Ländern eingeleitet, indem frische Schichten sich an Kämpfen beteiligt haben und neue Aktivist*innen hinzugekommen sind, auch wenn dieser Prozess langsamer vonstatten geht, als wir gehofft und erwartet hatten.
- Die Weltlage ist weiterhin von den beiden wichtigsten Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten geprägt. Wir haben in beiden Fällen dem Druck der bürgerlichen Gesellschaft und von Teilen der Linken getrotzt und einen unabhängigen Klassenstandpunkt eingenommen. Das beinhaltet die Forderung nach Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine genauso wie die nach dem Rückzug der ukrainischen Truppen aus Russland und eine Ablehnung von Waffenlieferungen an die nationalistische und kapitalistische Selenskyj-Regierung. Im Bezug auf den Nahen Osten bedeutet es die bedingungslose Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser*innen, die Forderung nach einem Ende der Besatzung der Palästinenser*innengebiete durch den Staat Israel ohne dabei die Kritik an der reaktionären Hamas aufzugeben sowie darauf hinzuweisen, dass zumindest große Teile der israelisch-jüdischen Arbeiter*innenklasse von der Unterstützung der Netanjahu-Regierung und des kapitalistischen, israelischen Staats weggebrochen werden müssen. Vor allem erklären wir, dass es für den Nahen Osten und für die Ukraine keine Lösung und keinen dauerhaften Frieden ohne eine sozialistische Veränderung der Region geben kann.
- Die Wahl von Trump wird enorme Auswirkungen auf diese beiden Kriege haben. Der Beginn von direkten Verhandlungen mit Russland unter Ausschluss der Ukraine und der EU und der öffentliche Zusammenstoß mit Selenskyj beim Pressegespräch im Oval Office zeigen, wohin die Reise gehen wird. Es spricht viel dafür, dass es trotz dieses Eklats in den nächsten Monaten zu einem Einfrieren des Kriegs unter weitgehender Beibehaltung der russischen Besatzungsgebiete kommen wird. Die Bevölkerungen Russlands und der Ukraine werden nicht gefragt werden und haben unter kapitalistischen Verhältnissen keine Chance, über ihr eigenes Schicksal zu bestimmen.
Trumps Vorschlag, die Palästinenser*innen dauerhaft aus Gaza zu vertreiben und aus dem Küstenstreifen „die Riviera des Nahen Ostens“ zu machen, drückt aus, wie sehr Trump Politik wie ein Geschäftsmann macht und hat unter den bürgerlichen zionistischen Eliten in Israel die Sektkorken knallen lassen. Es ist schwer vorstellbar, dass es zu einer Umsetzung dieses Vorschlags kommen kann, da dies ohne eine Zustimmung der arabischen Regime nicht möglich sein wird, diese aber aus Rücksicht auf die „arabische Straße“ diesen Weg kaum werden gehen können. Gleichzeitig sollten wir in diesen neuen instabilen und unsicheren Zeiten nicht ausschließen, dass es zumindest Schritte in diese Richtung geben wird. Die Bildung einer israelischen Regierungsbehörde zur Förderung der Ausreise von Palästinenser*innen aus Gaza, also zur ethnischen Säuberung des Küstenstreifens, ist Ausdruck davon, dass es den rechtsextremen Teilen der Regierung und Netanjahu ernst mit diesem Gedanken ist. Gleichzeitig hat sich eine Massenbewegung gegen die Wiederaufnahme des Krieges durch Israel entwickelt, die im März zu einer Massendemonstration von 100.000 Menschen führte. Auch wenn diese Bewegung von bürgerlich-zionistischen Kräften geführt wird, zeigt sie sowohl Risse in der herrschenden Klasse Israels als auch eine bedeutende Veränderung im Bewusstsein von Teilen der Bevölkerung und Arbeiter*innenklasse. - Die Weltwirtschaft wird, wie schon erwähnt, von der zu erwartenden Verschärfung der US-amerikanischen Zollpolitik getroffen werden. Der Internationale Währungsfonds geht von einem schwachen Wachstum von 1,8 Prozent in den entwickelten kapitalistischen Ländern und weltweit von circa drei Prozent aus, was dem Vorjahresniveau entsprechen würde (bei einem Bevölkerungswachstum von circa einem Prozent) – ohne den Effekt weiterer Zollbeschränkungen eingerechnet zu haben.
- Der Kapitalismus befindet sich seit dem Endes des Nachkriegsaufschwungs Anfang der 1970er Jahre in einem tendenziellen Niedergang, der von tendenziell tieferen Krisen und schwächeren Konjunkturerholungen gekennzeichnet ist. Die Große Rezession von 2007-09 hat die strukturelle Krise des Systems verschärft. Weiterhin gilt, dass die Krisenfaktoren in den letzten Jahren nicht reduziert wurden und eine weltweite Rezession oder gar ein drastischer Wirtschaftseinbruch jederzeit möglich sind. Dazu gehören neben der weiterhin hohen Inflation, die ebenfalls weiterhin großen Überkapazitäten, wie zum Beispiel in der Automobilindustrie, die Spekulationsblasen und die enorme Verschuldung, sowohl von Staaten, Unternehmen und Privatpersonen. Diese ist dreieinhalb Mal so hoch wie die weltweite, jährliche Wirtschaftsleistung – eine tickende Zeitbombe, die auch durch geopolitische Krisen, neue Kriege und militärische Konflikte oder andere politische Entwicklungen zur Explosion gebracht werden kann.
- Die Zunahme von Krisen und innerimperialistischer Konkurrenz hat in den letzten Jahren Aufrüstung und Militarisierung enorm beschleunigt. Die weltweiten Rüstungsausgaben haben 2023 mit 2,4 Billionen US-Dollar einen Rekord erreicht. Trumps Politik, vor allem gegenüber den anderen NATO-Mitgliedsländern, wird diesen Trend weiter verschärfen. Rüstungsinvestitionen hatten in der Vergangenheit phasenweise wie ein Rüstungskeynesianismus gewirkt und Wirtschaftswachstum gefördert. Auch gegenwärtig und in der Zukunft wird ein Teil der wachsenden Rüstungsausgaben durch Schulden finanziert und kann einen Wachstumseffekt haben. In der heutigen Periode des Kapitalismus ist aber eher damit zu rechnen, dass eine Erhöhung der Rüstungsausgaben zu Kürzungen bei Sozialausgaben führen werden und auf Kosten anderer Investitionen gehen werden.
- Selbst diejenigen, die – fälschlicherweise – von einem Neuen Kalten Krieg gesprochen haben, sind zu dem Schluss gekommen, dass das Adjektiv „kalt“ die globalen Entwicklungen nicht passend beschreibt. Schließlich ist der (heiße) Ukraine-Krieg auch ein Stellvertreterkrieg der großen imperialistischen Mächte. Aber die heutige Weltlage ist kein „Gleichgewicht des Schreckens“, wie der mit Atomwaffen bestückte Systemgegensatz zwischen der Sowjetunion und den USA inklusive der jeweiligen den beiden großen Blöcken zugehörigen Staaten genannt wurde. Es gibt kein Gleichgewicht mehr. Das alleine macht militärische Auseinandersetzungen und Kriege sehr viel wahrscheinlicher, wird aber auch zu anderen Formen der Konfliktführung, wie Angriffen auf Datennetze und Infrastruktur führen. Aufgrund der Existenz von Atomwaffen, der, neben der gewachsenen Konkurrenz, weiterhin bestehenden gegenseitigen Abhängigkeiten auch der USA und anderer westlicher Staaten und Chinas und der Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, ist ein Dritter Weltkrieg jedoch nicht wahrscheinlich. Aber Stellvertreterkriege werden genauso zunehmen, wie militärische Konflikte in der neokolonialen Welt, wie wir es gerade in der Demokratischen Republik Kongo beobachten müssen. Der Nahe Osten ist und bleibt ein Pulverfass und eine mögliche Eskalation des Taiwan-Konflikts könnte zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen den USA und China führen. Die Gefahr, dass es zu einem begrenzten Einsatz von so genannten taktischen Nuklearwaffen kommt, wächst und das kann nicht mehr ausgeschlossen werden.
- Europa und die Europäische Union befinden sich innerhalb der globalen Krise des Weltkapitalismus in einer speziellen Krise und geraten zwischen den USA und China mehr und mehr unter die Räder. Die EU wird, wie schon gesagt, durch die Trump-Präsidentschaft stark unter Druck gesetzt, wie auch andere Institutionen des Weltkapitalismus geschwächt werden. Das erhöht einerseits den Druck auf die europäischen Kapialist*innenklassen enger zusammenzurücken. Trump wird aber mit seiner Politik des Bilateralismus auch zu den zentrifugalen Kräften in der EU beisteuern, wie es auch der Aufstieg des Rechtspopulismus, die ökonomischen Entwicklungen und die Aufrüstung und mit ihr einhergehenden Sozialkürzungen und Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse (und die daraus resultierenden Klassenkämpfe) tun. Deutschlands Position als dominierende Macht innerhalb der EU wird in diesem Kontext tendenziell geschwächt. Eine neue Staatsschuldenkrise innerhalb der EU liegt in der Luft und kann diesmal größere Volkswirtschaften als Griechenland treffen. Die Zukunft des Euro und der EU in ihrer heutigen Form ist ungewiss und ein Auseinanderbrechen bzw. eine Neuformierung mit weniger Staaten sind möglich. Es ist unsere Aufgabe, gegen die EU als Zusammenschluss europäischer Kapitalist*innenklassen und gegen den neu erstarkten Nationalismus von Teilen dieser herrschenden Klassen deutlich Position zu beziehen und die auf freiwilliger und gleichberechtigter Basis Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa als Alternative zu propagieren.
- Jeder Krieg verschärft auch die Klimakatastrophe. Eine im Juni 2024 veröffentlichte Studie hat errechnet, dass die durch den Ukraine-Krieg und den notwendig werdenden Wiederaufbau zusätzlich freigesetzten CO2-Emmissionen dem jährlichen CO2-Ausstoß der Niederlande oder von neunzig Millionen Autos entsprechen.
- Auch 2024 hat der Klimawandel zu Naturkatastrophen und Extremwetterereignissen geführt. 400 Menschen starben bei Hurrikanen, die insgesamt 227 Milliarden US-Dollar Schäden verursachten. Die Waldbrände in den USA und die Flutkatastrophe im spanischen Staat (220 Todesopfer) waren zwei von vielen Folgen des Klimawandels. Schwerer in Zahlen zu fassen, sind die enormen Leiden, die zum Beispiel durch extreme Dürren für die Wasser- und Lebensmittelversorgung in vielen Ländern des globalen Südens ausgelöst werden und zu Hungersnöten, Toten und Fluchtbewegungen führen. Umgekehrt proportional zur Zunahme von durch die Klimakatastrophe verursachten Schäden waren die Ergebnisse der UN-Klimakonferenz im erdölproduzierenden Aserbaidschan. Auch bzgl. der ohnehin völlig unzureichenden Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels wird die Trump-Präsidentschaft negative Auswirkungen haben. Es gibt keinen Grund zur Annahme, das ein immer tiefer in wirtschaftliche und politische Krisen geratender Kapitalismus effektive Maßnahmen gegen den Klimawandel ergreifen wird. Im Gegenteil ist damit zu rechnen, dass aus ökonomischen und politischen Gründen eher beschlossene Maßnahmen, wie das Aus für Verbrennermotoren wieder rückgängig gemacht oder hinausgeschoben werden. Nur die Überwindung des Kapitalismus und die Überführung der Schlüsselindustrien in öffentliches Eigentum und eine demokratisch geplante Wirtschaft machen es möglich, den Klimawandel effektiv zu bekämpfen und ein menschenwürdiges Leben sicherzustellen.
Deutschland – Ökonomie
- Deutschland wird 2025 möglicherweise das dritte Rezessionsjahr in Folge erleben. Das gab es noch nie seit Gründung der BRD. 2024 gab es fast ein Viertel mehr Unternehmenspleiten als 2023 und mit 22.400 Unternehmen so viel wie seit 2015 nicht mehr. Für 2025 wird mit einem weiteren Anstieg gerechnet. Deutschland ist (wieder) der „kranke Mann Europas“.
- Im internationalen Vergleich wird die Krise besonders deutlich. Während das reale Bruttoinlandsprodukt Deutschlands Mitte 2024 nur knapp über dem Stand von Ende 2019 lag, liegen die USA (über zehn Prozent), aber auch die Eurozone insgesamt (fast vier Prozent) hinsichtlich des Wirtschaftswachstums deutlich vorn. Deutschland ist beim Wachstum Schlusslicht in der G7 und von einem Motor zu einer Konjunkturbremse in der EU geworden.
- Die deutsche Wirtschaft basiert mehr als jene anderer Länder auf dem Export industrieller Waren. Ein Viertel der Wertschöpfung kommt aus der Industrie. Umso schwerer wiegt der Rückgang in diesem Bereich. Die gesamte Industrieproduktion lag Mitte letzten Jahres 15 Prozent unter dem Stand von Ende 2017.
Ein Blick auf die Gründe zeigt, dass keine schnelle und nachhaltige Erholung kommen wird: Globale Überkapazitäten durch den schwächelnden Weltmarkt, mehr Konkurrenz vor allem mit Firmen aus den USA und China, gestiegene Energiepreise, fehlende Investitionen und Fachkräftemangel. Im Gegenteil: Ein neuer Schock, zum Beispiel an den Finanzmärkten oder in Form anderer Ereignisse, zum Beispiel eine durch Donald Trump ausgelöste weitere Zunahme von Zöllen und Einfuhrbeschränkungen, könnten weiter Öl ins Feuer gießen. Die Bundesbank schätzt ein, dass Trumps Zollpläne das BIP Deutschlands um ein Prozent senken könnten. - Deutlich wird das im Kernstück der deutschen Wirtschaft, der Autoindustrie. Die zunehmende Konkurrenz, insbesondere mit chinesischen und US-Konzernen und die nachlassende Nachfrage auf dem Weltmarkt, bedrohen die Dividenden der Aktionär*innen. Der VW-Vorstand spricht von Überkapazitäten von etwa zwei Millionen Autos in Deutschland. Zehntausende Beschäftigte und ganze Regionen sind potenziell allein dadurch betroffen. In der Zulieferindustrie ist der Stellenabbau in vollem Gang, ebenso gibt es Abbau in der Chemieindustrie oder die Drohung bei ThyssenKrupp Stahl, tausende Arbeitsplätze zu vernichten.
- Die exportorientierte Industrie war einst eine Stärke der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb. Vom Aufstieg des chinesischen Staatskapitalismus und seiner Integration in den Weltmarkt, ebenso wie von der Schaffung des europäischen Binnenmarktes, profitierte der deutsche Kapitalismus wie kaum eine andere Volkswirtschaft. Nach der Weltwirtschaftskrise 2007-2009 war die Nachfrage vor allem aus China groß, und deutsche Unternehmer*innen konnten den Euro nutzen, um ihre Waren billiger abzusetzen. Das galt vor allem für die deutsche Autoindustrie. Die Schaffung des europäischen Binnenmarkts und des Euro und die Agenda 2010 mit einem Niedriglohnsektor, der Ausweitung von Leiharbeit, Befristungen und Werkverträgen plus die Existenz von Billiglohnländern und Absatzmärkten in Osteuropa haben den deutschen Autokonzernen einen enormen Konkurrenzvorteil gegenüber den europäischen Konkurrenten verschafft. Von 2000 bis 2023 fielen die Produktionszahlen in Frankreich um 64 Prozent, in Italien um 62 Prozent und Britannien um 45 Prozent, während sie in Deutschland bis 2017 anstiegen und erst seither rückläufig sind auf 4,1 Millionen in 2023. Von 2000 bis 2020 wurden in Westeuropa 500.000 Arbeitsplätze in der Autoindustrie vernichtet, während die Beschäftigtenzahl in Deutschland bei knapp 800.000 gehalten wurde. Deutsche Konzerne hatten nach der Krise 2007 bis 2009 einen Branchenboom aufgrund der steigenden Nachfrage in China. Dies hat zu einer Produktionsverlagerung nach China und in andere Niedriglohnländer geführt. In Deutschland wurden 2023 4,1 Millionen Autos hergestellt. Im selben Jahr produzierten deutsche Hersteller zehn Millionen Autos im Ausland. Auch die Zulieferindustrie hat Produktion ins Ausland verlagert. 2024 hat China dreißig Millionen Fahrzeuge produziert und ist zum größten Autoproduzenten aufgestiegen und exportiert auch die meisten Autos. VW, Mercedes und BMW produzieren in China für den chinesischen Markt und den Export. Inzwischen sind chinesische Hersteller auf dem chinesischen Markt und zunehmend auch auf dem europäischen Markt vor allem bei E-Autos der Hauptkonkurrent für deutsche Konzerne und haben einen enormen technologischen Vorsprung. China hat zudem den Vorteil eigener Rohstoffquellen und eine Schlüsselposition bei der Batterieherstellung. Die deutschen Autokonzerne verlieren immer mehr Anteile am Weltmarkt und sind von der weltweiten Überkapazitätskrise mit am stärksten betroffen. Die von Trump angekündigten zusätzlichen Zölle auf Autos und Autoteile aus Europa von 25 Prozent bedrohen die deutsche und europäische Autoindustrie weiter, denn mit 13,1 Prozent aller Autoexporte sind die USA der wichtigste Exportmarkt. VW könnte am stärksten betroffen sein, während sich die Reichen und Superreichen auch mit 25 Prozent Aufschlag einen Premium SUV von Mercedes, BMW, Audi oder einen Porsche leisten können. Jeder dritte in Deutschland produzierte Porsche geht in die USA. Neben massivem Arbeitsplatzabbau und niedrigeren Löhnen verlangen die Autokonzerne Steuererleichterungen, billigen Strom, Investitionen in Ladesäulen und Angriffe auf erkämpfte soziale Errungenschaften der Arbeiter*innenklasse. Über die Einführung von E-Prämien, um den Absatz von E-Autos zu befördern, gibt es Uneinigkeit. Gleichzeitig gibt es von den Autokonzernen die Ansage, länger als ursprünglich geplant, Verbrenner zu bauen bis hin zur Forderung, das Verbrennerverbot in der EU aufzuheben. In den USA hat Trump die E-Autoinitiative von Biden bereits aufgehoben. Die Lage für die Autoindustrie in Deutschland ist dramatisch. Auf kapitalistischer Grundlage wird es zu einem weiteren Abbau von Produktionskapazitäten und Arbeitsplätzen kommen. Die Umstellung von Kapazitäten in der Autoindustrie auf Rüstungsproduktion wird eine weitere massive Arbeitsplatzvernichtung nicht verhindern. Die Autoindustrie muss in Gemeineigentum überführt und durch die Arbeiter*innenklasse demokratisch verwaltet und kontrolliert werden. Die Produktion muss in Richtung von Fahrzeugen für den öffentlichen Verkehr und andere gesellschaftlich sinnvolle Güter anstatt auf die Produktion von Militärfahrzeugen und Munition umgestellt werden Gleichzeitig muss die Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich reduziert werden.
- Vor diesem Hintergrund hat nur der Konsum einen größeren Rückgang der Wirtschaftsleistung verhindert und hier vor allem der staatliche Konsum. Während der private Konsum 2024 nur knapp über dem Niveau von 2019 lag, ist der staatliche seitdem um circa zwölf Prozent gewachsen. Das war die Zeit der notlagenbedingten Aussetzung der Schuldenbremse und von staatlichen Sonderleistungen, wie auch des 100 Milliarden-Sondervermögens für die Bundeswehr. Die Aufhebung der Schuldenbremse für Rüstungsausgaben über einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts und das 500 Milliarden schwere Sondervermögen für Infrastrukturinvestitionen über zwölf Jahre werden auch die Wirkung eines Konjunkturförderprogramms haben. Dem werden jedoch umfangreiche öffentliche Kürzungen gegenüberstehen. Ob der staatliche Konsum, trotz dieser schuldenbasierten Maßnahmen, einen ähnlichen Effekt haben wird, bleibt also fraglich.
- Die Pandemie und der Ukraine-Krieg waren Beschleuniger von Krisenprozessen und Widersprüchen in einer ohnehin unter großen strukturellen Problemen und Überkapazitäten ächzenden Weltwirtschaft. Sie haben in besonderem Maße zu Nachfrageeinbrüchen bzw. höheren Kosten, unter anderem bei Energielieferungen, geführt, waren aber nicht tieferliegende Ursache der Krise. Diese ergibt sich aus den unlösbaren Widersprüchen des Kapitalismus, der versucht, eine international und gesellschaftlich weit verzweigte Produktion von Gütern unter Beibehaltung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Fortexistenz von Nationalstaaten zu bändigen. Aus dem, dem Kapitalismus innewohnenden, Wettstreit um Profite ergeben sich zwangsläufig Absatz- und Überkapazitätskrisen, aber auch Konflikte und Spannungen zwischen Staaten. Diese sind heute viel ausgeprägter und die zunehmenden protektionistischen Maßnahmen, wie Zölle, treffen in besonderem Maße exportorientierte Unternehmen.
Diese Widersprüche haben auch die „inländischen“ Probleme des deutschen Kapitalismus mitzuverschulden. Entgegen der kapitalistischen Märchen, dass Gewinne naturgemäß zu neuen privaten und staatlichen Investitionen und damit Produktivitätssteigerungen führen, herrscht eine (selbst im internationalen Vergleich) große Investitions- und Produktivitätskrise. Kein EU-Land hat zwischen 2000 und 2020 gemessen an der Wirtschaftsleistung so wenig in die öffentliche Infrastruktur investiert wie Deutschland. Der Anteil privater Nettoinvestitionen liegt seit 2020 unter zwei Prozent des BIP. Das Kapital suchte und sucht lieber nach schnellen Gewinnen durch Spekulation und nach langfristigen Investitionen, deren Profitaussichten in instabilen Zeiten unsicher sind. So lässt sich auch erklären, warum trotz Rezessionsnachrichten an der Börse Partystimmung herrscht und der DAX seit Monaten immer wieder Rekorde feiert. - Die Krise in den wichtigen Industriezweigen wird auch Auswirkungen auf den Rest der Wirtschaft haben. Die Zahl der Beschäftigten ist im dritten Quartal 2024 erstmals seit 2021 zurückgegangen, um 45.000, und auch die Arbeitslosenquote ist im Januar auf 6,4 Prozent geklettert, das sind knapp drei Millionen Menschen. Das HRI (Handelsblatt Research Institute) erwartet in diesem Jahr einen Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen um 10.000 pro Monat, die Arbeitslosigkeit soll um 20.000 pro Monat steigen.
Gerade tendenziell besser bezahlte Industriearbeitsplätze wurden in den vergangenen Jahren (und werden weiterhin) zu Hunderttausenden abgebaut, während es einen Aufbau bei (insbesondere staatsnahen) Dienstleistungen gab. Diese Verlagerung bedeutet für die Beschäftigten und die Arbeiter*innenklasse insgesamt daher Einkommensverluste, was auch den privaten Konsum drückt. Der Arbeitskräftemangel bremst diese Entwicklung aktuell noch etwas, da sich die Bosse überlegen müssen, ob sie in Zukunft geeignetes Personal so schnell wiedereinstellen können - Doch das hält die einzelnen Unternehmen nicht davon ab, das zu tun, was aus ihrer Sicht nötig ist, um ihre Profite zu retten. Die Milliardengewinne der letzten Jahre sollen weiter in die Aktionärstaschen fließen. Im Rahmen des Kapitalismus sind solche Krisen zwangsläufig und sie werden auf dem Rücken der Beschäftigten „gelöst“ – durch Stellenabbau und Lohnverzicht, Verlagerung in „Billiglohnländer“, Werkschließungen, Steigerung der Arbeitshetze, kurz mehr Ausbeutung.
- Auch die derzeitige Rezession wird ein Ende finden und durch einen, wenn auch wahrscheinlich begrenzten, Wirtschaftsaufschwung abgelöst werden, wozu die steigenden Rüstungs- und Infrastrukturausgaben einen Beitrag leisten werden. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass die deutsche Wirtschaft vor einer solchen Entwicklung noch von einer Weltwirtschaftsrezession getroffen wird.
- Diese Entwicklung hat in der Öffentlichkeit und auch unter Linken zu einer Diskussion über die Frage geführt, ob sich in der Bundesrepublik eine Deindustrialisierung entwickelt. Im Sinne von einem Abbau von Industriestandorten und Industriearbeitsplätzen ist dies ein über die letzten Jahrzehnte schon stattfindender Prozess, der mit jeder Wirtschaftskrise ein Stück weiter geht. Während zum Zeitpunkt der Vereinigung von BRD und DDR noch 33 Prozent des BIP aus der Industrieproduktion rührte und 36 Prozent der Beschäftigten dort tätig waren, sind es heute noch knapp 27 Prozent und 23 Prozent.
- Dieser Prozess geht weiter, aber es ist nicht damit zu rechnen, dass er in den nächsten Jahren, also auch nicht in diesem und dem nächsten Krisenzyklus, eine qualitative Veränderung nehmen wird, die den Abbau der Industrie zum Beispiel mit der Situation in Großbritannien vergleichbar machen würde. Deutschland wird auch in absehbarer Zeit ein Industriestandort der Auto- und Chemieindustrie, bei Maschinenbau und Elektrotechnik sein. Hinzu kommt, dass die Ausweitung der Rüstungsindustrie zur Umwandlung von Produktionsstätten oder auch dem Aufbau neuer Fabriken führen kann. Die Industriearbeiter*innenklasse wird also auch weiterhin entscheidend für den Erfolg beim Wiederaufbau einer sozialistischen Arbeiter*innenbewegung und für eine erfolgreiche sozialistische Revolution sein. Die Zunahme von Protektionismus kann jedoch zu weiteren Verlagerungen von Industrieanlagen führen, um, zum Beispiel in den USA, vor Ort zu produzieren und damit die Zollbeschränkungen zu umgehen. Umgekehrt kann es aber auch bedeuten, dass es bestimme Rückholungen von Produktionen nach Deutschland geben kann, wenn das auch wegen des kleineren Marktes begrenzt sein wird bzw. Produktion in osteuropäischen EU-Nachbarländern günstiger ist. Insgesamt ist die Debatte über Reshoring und Nearshoring (das heißt das Zurückholen von Produktionsstätten ins eigene Land oder nahe Ausland), die im Zuge der Lieferkettenprobleme im Zusammenhang mit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg geführt wurde, weitgehend zu einem Ende gekommen. Untersuchungen zeigten, dass eine weitgehende Rückholung von Produktion nach Deutschland verheerende Auswirkungen auf die Wirtschaft haben würden, weil die Profitaussichten dadurch massiv verschlechtert würden.1
2024 – Massenproteste, neue politische Landschaft und Ampel-Aus
- 2024 war ein Jahr voller Massenproteste, Streiks, politischen Verwerfungen und fortschreitender Polarisierung. Es begann mit einer Welle von großen Mobilisierungen. Die Bäuerinnen und Bauern hielten die Republik in Atem. Dazu schrieben wir, dass diese „kein ‘reaktionärer Aufstand’ waren, wie es manche Linke geschrieben haben, sondern eine gerechtfertigte Protestbewegung des bäuerlichen Kleinbürgertums gegen Maßnahmen, die für sie eine existenzielle Bedrohung darstellen. Wir haben als Marxist*innen dabei eine differenzierte Haltung eingenommen und auf soziale und Klassenunterschiede zwischen Kleinbauern, großen Agrarunternehmen und lohnabhängigen Landarbeiter*innen hingewiesen, gleichzeitig aber die Kernforderungen der Bäuerinnen und Bauern als gerechtfertigt unterstützt. Dabei verschließen wir nicht die Augen vor dem Versuch der AfD und anderer rechtsextremer und auch faschistischer Kräfte, Einfluss unter den Landwirt*innen zu erzielen und deren Proteste zu instrumentalisieren. Aber gerade dieser Versuch der Einflussnahme durch rechtsextreme Kräfte hätte ein Grund mehr sein müssen, dass Die Linke und die Gewerkschaften den Bäuerinnen und Bauern eine gemeinsame Kampffront auf Basis eines Programms im Interesse der Arbeiter*innenklasse und der Mittelschichten hätte anbieten sollen. Das hätte die Ampel-Koalition unter unvergleichlich höheren Druck gesetzt. Die Sympathie in der arbeitenden Bevölkerung mit den Landwirt*innen war dazu jedenfalls ausreichend vorhanden.“
- Kurz nach dem Aufstand der Landwirt*innen beteiligten sich zwei Millionen Menschen an Massendemonstrationen gegen die AfD. Auslöser war die Berichterstattung über Geheimtreffen von AfD-Politiker*innen mit dem Chef der Identitären Bewegung Österreichs, Martin Sellner, auf denen Pläne für die massenweise Ausweisung – Remigration genannt – von Menschen mit Migrationshintergrund diskutiert worden waren. Dazu schrieben wir: „Die Proteste haben gezeigt, dass die Mehrheit in der Bundesrepublik gegen die AfD eingestellt ist. Diese Mehrheit wird, so zeigen es Umfragen, auch nicht kleiner. Es ist keine Frage, dass diese Proteste positiv sind und die gesellschaftliche Stimmung beeinflussen, auch wenn sie politisch begrenzt sind und von den Regierungsparteien missbraucht werden. Aber jede*r kennt jemanden, der auf einer der Demonstrationen war, welche auch in kleinen Städten und Ortschaften stattfanden. Auch in Gegenden, in denen es eine starke rechtsextreme Szene gibt, haben sich viele auf die Straße getraut und haben Gesicht gezeigt. Das ist viel wert und hoffentlich werden dadurch viele Menschen selbstbewusster, auch in ihrem direkten Umfeld den Mund gegen Rassismus und die AfD aufzumachen. (…) Die Demonstrationen sind aufgrund ihres politischen Charakters kaum dazu geeignet, AfD-Wähler*innen oder -Sympathisant*innen von den Rechtspopulist*innen wegzubrechen. Dies ist der Fall, weil es klassenübergreifende Demos sind, wo in vielen Fällen Regierungspolitiker*innen mitdemonstrieren. In Görlitz hatte sogar der sächsische Ministerpräsident Kretschmer auf einer Kundgebung gesprochen. Das macht es der AfD einfach, zu behaupten, es handle sich um von den Regierenden gesteuerte Demonstrationen. So unsinnig das ist, so sehr versuchen die etablierten bürgerlichen Parteien, mit den Demos von ihrer eigenen Verantwortung für gesellschaftliche Probleme abzulenken. Dabei ist es die Politik dieser Parteien, die den Boden für die AfD bereitet. Wir treten deshalb dafür ein, dass die Bewegung gegen die AfD auch die Ursachen für das Erstarken der Rechtsextremen ins Visier nimmt und sich sowohl gegen Sozialkürzungen, arbeiter*innenfeindliche Regierungspolitik als auch gegen staatlichen Rassismus ausspricht.“ Die Wahlergebnisse für die AfD im Laufe des Jahres bestätigten unsere Warnung, wenn diese auch teilweise unter den Umfragewerten lagen, die die AfD vor der Massenbewegung erreichen konnte, was jedoch auch mit der Bildung des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zu tun haben könnte.
- Das BSW wurde im Januar als Partei gegründet und konnte auf Anhieb sowohl ins Europaparlament, als auch in die ostdeutschen Landtage in Brandenburg, Sachsen und Thüringen einziehen. Das hat die Parteienlandschaft in Deutschland aufgewirbelt und, gemeinsam mit der Stärkung der AfD, Koalitionsoptionen weiter verkompliziert. Das zeigte sich dann in Sachsen und Thüringen, wo erstmals Minderheitsregierungen ins Amt gewählt wurden, die auf die Stimmen der Linkspartei angewiesen waren. Das hat die politische Instabilität enorm verstärkt und spielte auch eine Rolle beim Auseinanderbrechen der Ampel-Koalition.
- Das vorzeitige Aus der Ampel-Koalition kam nicht wirklich überraschend. Über Monate befand sich die Regierung in einem Dauerkrisenzustand. Wir haben in der Resolution unserer Bundeskonferenz vom Dezember 2023 geschrieben: „Die nächsten regulären Bundestagswahlen sind für 2025 geplant. Es war angesichts der grassierenden Unzufriedenheit vor dem Karlsruher Urteil bereits gut möglich, dass die Ampel-Koalition vorher auseinanderbricht. Das ist jetzt wahrscheinlicher geworden.“ Wir benannten als mögliche Auslöser die Haushaltsdebatte, die Europa- und die ostdeutschen Landtagswahlen und wiesen darauf hin, dass die FDP mit einem Bruch der Ampel möglicherweise „ihre Haut retten will“. Das bestätigte sich dann im November letzten Jahres.
- Zum Bruch der Koalition schrieben wir: „Die Konflikte in der nun zerbrochenen Koalition drücken unterschiedliche Vorstellungen unterschiedlicher Vertreter*innen des Kapitalismus darüber aus, wie ihr System am besten aufrechterhalten werden kann. (…)
Dabei prallen, vereinfacht ausgedrückt, zwei Strategien aufeinander: Frontalangriff auf die Arbeiter*innenklasse oder versuchen, die Gewerkschaftsführungen einzubinden und Angriffe etwas weniger scharf bzw. scheibchenweise durchzuführen. Der Konflikt um die Schuldenbremse drückt das in verzerrter Form aus – verzerrt, weil auch Teile des Kapitals eine Reform der Schuldenbremse befürworten, um mehr Spielraum für staatliche Investitionen zu erlangen, die ihren Profitinteressen dienen (nicht um gesellschaftlich sinnvolle und nötige Investitionen in Bildung, Gesundheit, Umwelt, Soziales etc. zu ermöglichen).
Hintergrund des vor allem von der FDP provozierten Bruchs der Koalition sind auch die täglich lauter werdenden Forderungen von Kapitalvertreter*innen für eine so genannte Wirtschaftswende. (…) Das Papier von FDP-Chef Lindner stellte ein Programm für diese von den Kapitalist*innen geforderte ‘Wirtschaftswende’ dar. Es war gleichzeitig, wie in bürgerlichen Medien genannt, ein ‘Scheidungspapier’ und eine Provokation gegenüber SPD und Grünen, die diese nicht unbeantwortet lassen konnten, ohne das Gesicht zu verlieren. (…)
Politisch hat die FDP mit ihrem Vorgehen eine Flucht nach vorn angetreten. (…) Aber alle Ampel-Parteien müssen abgewogen haben, ob ein Durchwurschteln in einer Dauerkrise und ein faktisch zehnmonatiger Wahlkampf bis zum regulären Wahltermin im September kommenden Jahres, ihre Ausgangssituation verbessert hätte. Offenbar sind sie zu dem Schluss gekommen, dass dies nicht der Fall gewesen wäre und ein Ende mit Schrecken eher die Chance beinhaltet, in einem intensiven viermonatigen Wahlkampf Boden gutzumachen.“
Agenda 2030
- Schon seit Ende 2022 wurden die Rufe aus FDP, CDU/CSU und Wirtschaftsverbänden laut, die eine Verbesserung der Profitbedingungen für die Bourgeoisie forderten. Dafür wurden unterschiedliche Begriffe benutzt, wie „Wirtschaftswende“ und „Agenda 2030“ in Anlehnung an die Agenda 2010, die die SPD-geführte Schröder-Regierung 2004 beschloss und die den bis dato größten Angriff auf die sozialen Sicherungssysteme in der Bundesrepublik darstellte.
- Die Forderungen, die von Kapitalseite erhoben wurden variieren je nach Lage und fordernder Person, aber beinhalteten und beinhalten unter anderem eine Senkung von Unternehmenssteuern, Flexibilisierungen bei den Arbeitszeiten, Erhöhung des Renteneinstiegsalters, Abschaffung des Elterngelds, Einschränkung des Streikrechts, Verlegung von Feiertagen auf einen Sonntag, Abschaffung der Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag, Bürokratieabbau“ (d.h. Deregulierung), niedrigere Energiekosten (d.h. Industriestrompreise), Investitionen in Infrastruktur, auch eine Lockerung der Schuldenbremse etc.
Viele dieser Forderungen aus dem Katalog der Agenda 20230 werden in bürgerlichen Debatten unter dem Schlagwort der „internationalen Wettbewerbsfähigkeit“ subsummiert, die angesichts der erstarkenden internationalen Konkurrenz unbedingt bewahrt werden müsse, wenn „wir“ unseren Lebensstandard langfristig sichern wollten. Dabei verschleiert dieser Begriff, was eigentlich gemeint ist: Arbeiter*innenfeindliche Maßnahmen, um die hiesigen Arbeitsbedingungen zunehmend denen in solchen Ländern anzupassen, wo derzeit am profitabelsten produziert werden kann. Dies soll dazu dienen, Kapital anzuziehen oder im Land zu halten. Mit dem Hinweis auf „unseren“ Lebensstandard ist in diesem Sinne denn auch lediglich die Profitmaximierung der Kapitalist*innen gemeint. - Friedrich Merz hat die Forderung nach einer Agenda 2030 zu seinem Wahlprogramm gemacht und wird versuchen für die Kapitalist*innen, die noch deutlich weitergehende Forderungen stellen, abzuliefern.
Aber auch wenn die SPD zu fast jeder Schandtat bereit ist, um den deutschen Kapitalismus am Laufen zu halten, wird sie über die Schulter auf ihre schwindende Basis unter Lohnabhängigen und Gewerkschafter*innen schauen müssen, wenn Merz von ihr Zustimmung zu seinen Agenda-2030-Plänen verlangt. Ein Blick nach Österreich zeigt, dass es für Konservative und Sozialdemokrat*innen Kompromisslinien geben kann, wenn sie dazu verdammt sind.
Wir schrieben nach der Wahl: „Merz kann sich Zustimmung zu Unternehmenssteuersenkungen, Angriffen aufs Bürgergeld oder Flexibilisierung von Arbeitszeitregelungen zum Beispiel durch eine Zustimmung zu einer Reform der Schuldenbremse ‘erkaufen’, welche er wahrscheinlich ohnehin will, weil klar ist, dass wesentliche Teile der Kapitalist*innenklasse (und auch der CDU/CSU) sich dafür aussprechen, um mehr Spielraum für Investitionen in Rüstung und Infrastruktur zu haben, die aus Sicht der Kapitalist*innen notwendig sind.“
Nun haben CDU/CSU, SPD und Grüne genau das umgesetzt. Sie haben den alten Bundestag zusammen kommen lassen, um die Grundgesetzänderung zur Aussetzung der Schuldenbremse für alle Rüstungsausgaben, die ein Prozent des BIP überschreiten und zum Sondervermögen von 500 Milliarden Euro über zwölf Jahre für Investitionen in die Infrastruktur abzustimmen. Das wird zum größten Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik führen, von 400 Milliarden Euro ist die Rede, die die Bundeswehr angeblich „braucht“, um „kriegstüchtig“ zu werden. Die Rechnung dafür wird der Arbeiter*innenklasse früher oder später durch Kürzungen präsentiert werden. - Wir haben frühzeitig auf diese Forderungen und Vorhaben hingewiesen und die Gewerkschaften aufgefordert, den Widerstand dagegen vorzubereiten und gleichzeitig den Kampf gegen die schon stattfindenden Kürzungen zu organisieren. Damit haben wir ein Beispiel dafür gesetzt, dass der Marxismus auch die Wissenschaft von Perspektiven ist und dass Perspektiven Anleitung zum Handeln sind. Hätten die Gewerkschaftsführungen unsere Vorschläge aufgegriffen, wäre die Arbeiter*innenklasse in Deutschland heute in einer sehr viel besseren Position, um Widerstand gegen die Pläne von Merz und seinen Kapitalist*innenfreunden zu leisten.
Krise der Kommunen
- Prognosen gehen davon aus, dass sich das Defizit der Kommunen 2024 auf 13,2 Milliarden Euro mehr als verdoppelt hat. Die Kommunen leiden massiv unter der Wirtschaftskrise, unter anderem wegen den Einnahmeausfällen aus der Gewerbesteuer. Kommunale Kürzungen sind schon in vielen Kommunen an der Tagesordnung und werden es in den nächsten Jahren sein. Haushaltssperren drohen. Der Städtetagspräsident Markus Lewe sprach von einer drohenden „Spirale der Grausamkeit“.
- Diese Situation ist Folge der strukturellen Unterfinanzierung der Kommunen, die seit Jahren zusätzliche Aufgaben übernehmen mussten ohne entsprechend finanziell dafür ausgestattet zu werden. Deshalb treten wir für eine grundlegende Änderung der Gemeindefinanzierung ein und stellen uns gegen alle Kürzungen.
- Widerstand gegen kommunale Kürzungen hat es unter anderem in Berlin und Dresden gegeben. In Dresden spielten unsere Genoss*innen eine entscheidende Rolle dabei, dass es über Monate große Proteste gegen die Kürzungspläne des Oberbürgermeisters gegeben hat. Die deutliche Reduzierung des ursprünglich vorgesehenen Kürzungsvolumens durch eine Mehrheit im Dresdner Stadtrat ist ein großer Erfolg für das Dresdner Bündnis gegen Kürzungen und unsere Genoss*innen der Sol Dresden. Es hat sich aber auch gezeigt, dass es ohne die Kraft der organisierten Arbeiter*innenklasse und ohne eine klare politische Vorstellung, wie dieser Kampf geführt werden kann, in der jetzigen Situation kaum möglich ist, Kürzungsvorhaben in Gänze zu verhindern. Das kann sich in Zukunft aber ändern, wenn Protestbewegungen massiver und radikaler werden.
Migrationsdebatte
- Im Laufe des Jahres 2024 und bis zur Bundestagswahl im Februar 2025 wurde die öffentliche Debatte immer wieder von sozialen und ökonomischen Themen und der Haushaltsdebatte hin zur Debatte über Migration verschoben. Dazu nutzten AfD, bürgerliche Parteien und prokapitalistische Medien verschiedene schwere Gewalttaten und Morde, die von Migrant*innen bzw. Geflüchteten verübt wurden. Dabei handelt es sich teils um ein Ablenkungsmanöver, teils um den Reflex bürgerlicher Politiker*innen, eine weitere Stärkung der AfD dadurch stoppen zu wollen, dieser inhaltlich nachzugeben. Wir weisen seit Jahren darauf hin, dass das nicht funktioniert und diejenigen, die ihre Wahlentscheidung nach der restriktivsten Einwanderungspolitik treffen, nicht zu anderen Parteien wechseln, wenn diese sich in dieser Frage der AfD anpassen, weil entscheidende Faktoren für die Wahl der AfD außerdem ihre Wahrnehmung als Anti-Establishment-Kraft und die Entfremdung von den etablierten Parteien ist.
- Es ist den bürgerlichen Kräften gelungen, die Stimmung zum Thema Migration stark zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Mehrheiten sind für mehr Abschiebungen, mehr Grenzkontrollen und Einschränkungen beim Asylrecht.
Zustimmung zu objektiv rassistischen Maßnahmen, wie sie von allen Parteien außer der Linken gefordert werden, ist aber nicht gleichbedeutend mit „subjektivem“ oder „ideologischem“ Rassismus und daher vor allem nicht unveränderbar. Die Unterstützung für eine Einschränkung von Migration ist vor allem, wenn auch nicht nur, getragen von berechtigten sozialen Ängsten angesichts sich verschlechternder öffentlicher Daseinsvorsorge und Infrastruktur (Wohnen, Kita-Plätze, überfüllte Schulklassen, Lehrer*innenmangel etc.) und geschürten (und irrationalen) Sicherheitsängsten. Dass diese Fragen im Denken von Vielen dominant geworden sind und das Thema Migration weit oben in den Meinungsumfragen steht, ist auch darauf zurückzuführen, dass die Gewerkschaftsführungen keine Kampagne geführt haben, um die Verteilungsfrage (ganz zu schweigen von der Eigentumsfrage) nach oben auf die Agenda zu rücken und dass Die Linke dabei jahrelang versagt hat, eine überzeugende und glaubwürdige politische Interessenvertretung für Lohnabhängige anzubieten. Das hat auch das Gefühl verstärkt, dass man an Fragen der Reichtumsverteilung und ähnlichen eh nichts ändern kann, bei der Frage von Einschränkung der Migration aber schon. - Wir haben uns konsequent an die Seite der Migrant*innen und Geflüchteten gestellt und sind von unserem Programm gegen Rassismus, für sichere Fluchtwege, gegen rassistische Grenzkontrollen, Bleiberecht und gleiche Rechte für alle trotz des öffentlichen Drucks nicht abgewichen. Gleichzeitig haben wir ein großes Augenmerk darauf gelegt, unsere Argumentation gegen Rassismus und Rechtspopulismus von einem Klassenstandpunkt aus zu entwickeln und in den Mittelpunkt zu stellen, dass die Migrationsdebatte ein Ablenkungsmanöver, die AfD arbeiter*innenfeindlich ist etc.
Wir haben auch nicht darauf verzichtet den staatlichen Rassismus anzugreifen und auf die Heuchelei der bürgerlichen Parteien hingewiesen, die einerseits über die AfD schimpfen und gleichzeitig das Asylrecht verschärfen.
Ausgang der Bundestagswahl und Aussichten für die Regierungsbildung
- Das Ergebnis der Bundestagswahl kann in vielerlei Hinsicht als historisch und als eine Zäsur bezeichnet werden. SPD und CDU/CSU erreichen erstmals zusammen keine fünfzig Prozent der abgegebenen Stimmen, die SPD fährt ein historisch schlechtes Ergebnis ein (1887 erhielt sie zum letzten Mal weniger Prozente), die Union erreicht trotz Wahlsieg ihr zweitschlechtestes Ergebnis in der Geschichte, die AfD verdoppelt ihr Ergebnis auf knapp zwanzig Prozent und wird stärkste Partei in Ostdeutschland, die „kleine Partei des großen Kapitals“ (FDP) fliegt aus dem Bundestag, das BSW scheitert am Einzug in denselben und Die Linke legt ein fulminantes Comeback hin. Diese Wahl ist nicht nur Ausdruck von all den Prozessen, die wir seit Jahren analysieren (zunehmende Instabilität, Auflösung der Bindung von Wähler*innen an Parteien), sondern verschärft diese Phänomene weiter.
- Gleichzeitig ist sie Ausdruck einer Politisierung der Gesellschaft, was sich in der hohen Wahlbeteiligung von 83 Prozent und auch in den vielen Eintritten in unterschiedliche Parteien in den letzten Wochen und Monaten ausdrückt – jedoch auch davon, dass die Kampagne gegen Migrant*innen und Migration dazu geführt hat, dass Innere Sicherheit und Zuwanderung für 33 Prozent der Wahlberechtigten die wichtigsten Themen waren, während soziale Sicherheit und Preissteigerungen das nur für 23 Prozent waren. Auffällig ist aber, dass bei Umfragen zur persönlichen Wahlentscheidung Migration nur auf Platz vier rangierte.
Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass Millionen migrantische Arbeiter*innen kein Wahlrecht haben und in dem Wahlergebnis nicht abgebildet sind. - „Wer regiert, verliert“ galt auch bei dieser Wahl. Alle drei Ampel-Parteien haben Prozentpunkte verloren. Die Flucht nach vorne der FDP hat nicht funktioniert und das – möglicherweise vorläufige – Ende der politischen Karriere von Christian Lindner ausgelöst. Ihn wird kein*e Lohnabhängige*r vermissen. Für die Kapitalist*innen in Deutschland ist das jedoch eine herbe Niederlage, war die FDP doch immer ein Garant dafür, die Kapitalinteressen ohne Rücksicht auf die Stimmung in der Arbeiter*innenklasse zu formulieren. Auch in anderen Verlierer-Parteien wird es personelle Änderungen geben – bedeutende politische Veränderungen sind jedoch nicht zu erwarten.
Der historische Niedergang der SPD setzt sich fort. Wenn die SPD nun als Juniorpartnerin in eine von Friedrich Merz geführte Regierung gehen wird, wird sie möglicherweise versuchen, etwas Opposition innerhalb der Regierung zu spielen, es ist aber unwahrscheinlich, dass das eine Wirkung auf ihre Wahlunterstützung haben wird. - Insbesondere das Ergebnis bei jungen Wähler*innen zeigt, wie volatil und unberechenbar das Wahlverhalten junger Menschen ist und einiges spricht dafür, dass das bei Vielen so bleibt, wenn sie älter werden. Während bei der letzten Bundestagswahl noch Grüne und FDP unter jungen Menschen die stärksten Parteien waren und bei den Wahlen im letzten Jahr die AfD dort die Spitzenwerte erzielte, ist nun Die Linke stärkste Kraft unter jungen Erwachsenen, wobei sich das vor allem auf die jungen Frauen stützt. Das beinhaltet eine große Chance für die Partei, sollte aber nicht mit gefestigter Unterstützung verwechselt werden. Die Rolle, die soziale Medien bei der Wahlentscheidung besonders für junge Wähler*innen spielen, scheint immer größer zu werden und muss auch von uns in unseren Analysen und Perspektiven mehr beachtet werden.
- Es ist nun eingetreten, worauf wir in den letzten Wochen hingewiesen haben: der nächste Bundestag wird zwei Parteien weniger haben und es wird sehr wahrscheinlich eine Zweier-Koalition aus CDU/CSU und SPD gebildet werden. Dass die von 14 Prozent der Wähler*innen gewählten Parteien (und sehr viel mehr Menschen, die nicht gewählt haben bzw. nicht wählen durften) gar nicht im Parlament vertreten sein werden, schwächt die gesellschaftliche Basis der Institution Bundestag, die ohnehin nicht stark ausgeprägt ist, und auch die Tatsache, dass eine so genannte Große Koalition nicht einmal mehr die Mehrheit der abgegebenen Stimmen repräsentieren würde, bedeutet, dass die soziale Basis einer solchen Regierung schwach sein wird. Trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, dass eine von Friedrich Merz geführte schwarz-rosarote Koalition erst einmal stabiler regieren wird, als es die Ampel tat. Ihre Mehrheit im Bundestag ist mit 12 Sitzen jedoch nicht komfortabel und gerade in der SPD wird es Debatten darüber geben, dass man sich nicht von Merz am Nasenring durch die Manege führen lassen darf. Konflikte zwischen Union und SPD um den Plan von Merz, eine Agenda 2030 durchzuführen und AfD-Politik beim Thema Migration umzusetzen, zeigten sich in den Koalitionsverhandlungen. Österreich zeigt jedoch auch, dass es Spielräume für Kompromisse zwischen Konservativen und Sozialdemokrat*innen geben kann, um eine Regierung zu bilden und sich die Spannungen erst im Laufe der Zeit auswirken könnten. Durch das undemokratische Vorgehen bezüglich der Beschlussfassung der Grundgesetzänderungen zur Schuldenbremse und zum Sondervermögen durch den alten Bundestag und weil die CDU/CSU eine 180-Grad-Wende zur Frage der Schuldenbremse hingelegt und ihre Wahlversprechen gebrochen hat, hat die neue Regierung schon viel Vertrauen eingebüßt, bevor sie überhaupt gebildet wurde. In den Meinungsumfragen verlieren die Union und SPD, während AfD und Die Linke zulegen. Die politische Polarisierung setzt sich also fort. Die Regierung steckt aufgrund des Erstarkens von AfD und Linken von Anfang an in einem Dilemma. CDU/CSU und SPD wollen Politik fürs Kapital machen und brechen die ohnehin bescheidenen Wahlversprechen. Hinzu kommen die internationalen Ereignisse, die die politische Instabilität in Deutschland weiter erhöhen und die Regierung mit riesigen Problemen konfrontieren. Gleichzeitig gibt es mit der AfD und der Linken einen Faktor, den sie nicht ignorieren können und deren Umfragewerte seit der Wahl weiter gestiegen sind. Die Aussage von Markus Söder, dass diese Regierung die „letzte Patrone der Demokratie“ ist, bringt die Angst der etablierten Parteien in dieser Lage zum Ausdruck.
AfD
- Die AfD ist zweitstärkste Kraft geworden und in allen ostdeutschen Bundesländern (mit Ausnahme Berlins) stärkste Partei. Sie profitiert vom Niedergang der Sozialdemokratie als Vertretung von Arbeiter*innen, der allgemeinen Entfremdung vom politischen Establishment, der Schwäche und der Anpassung der Linkspartei (vor allem in Ostdeutschland) und der rassistischen Migrationsdebatte und -politik, die von allen Parteien außer der Linken mitgetragen wurden und Wind in den Segeln von Weidel und Co. waren.
- Der Trend, dass die Zahl der Protestwähler*innen bei der AfD abnimmt und die Zahl derjenigen zunimmt, die die Partei aus Überzeugung wählen, hält an. Der Anteil derjenigen, die das angeben, ist nur noch geringfügig niedriger als bei allen Wähler*innen. Das ist eine Warnung für die Arbeiter*innenbewegung und Linke. Trotzdem ist die AfD-Wähler*innenschaft politisch nicht homogen. Während zwar nahezu alle AfD-Wähler*innen eine Begrenzung von Migration fordern, sagen 42 Prozent, dass sich die Partei nicht ausreichend von rechtsextremen Kräften distanziert und unterstützen nur 18 Prozent den Gedanken, dass in Deutschland nur Deutsche leben sollten und nur neun Prozent teilen die Remigrationsphantasien, dass auch eingebürgerte Migrant*innen abgeschoben werden sollten.
- Die AfD konnte am meisten frühere Nichtwähler*innen mobilisieren. Das ist nicht das erste Mal der Fall, müssen wir aber in unseren Analysen verarbeiten. Der von uns in der Vergangenheit oftmals gemachte Hinweis, dass Studien zu dem Ergebnis gekommen waren, dass sich Nichtwähler*innen überdurchschnittlich links verorten, muss in Frage gestellt bzw. müsste zumindest überprüft werden, denn offensichtlich hat die AfD einen Teil der bisherigen Nichtwähler*innen mobilisieren können – mehr als Die Linke, was wiederum bedeuten kann, dass für diese das übrig gebliebene Potenzial größer sein kann.
- Die AfD ist eine rechtspopulistische Partei mit rechtsextremen und faschistischen Elementen. In ihrer Gesamtheit ist sie nicht faschistisch – weder von ihrem Selbstverständnis, der politischen Zielsetzung, der Mehrheit der Mitglieder oder auch dem Aspekt der fehlenden militanten Strukturen. Eine genaue Analyse ist Voraussetzung für eine effektive Taktik zur Bekämpfung reaktionärer Kräfte – für uns ist „faschistisch“ kein Schimpfwort, sondern eine Definition einer besonderen Form kapitalistischer Reaktion. Trotzdem ist sie keine Partei wie die anderen und muss aufgrund ihres aggressiv rassistischen und arbeiter*innenfeindlichen Charakters – und weil in ihrem Windschatten tatsächlich faschistische Gruppen stärker werden und Nazi-Terror wieder zunimmt – besonders bekämpft werden. Dies muss vor allem dadurch geschehen, dass eine Alternative in Form einer Arbeiter*innenpartei mit sozialistischem Programm aufgebaut wird, die Teile der jetzigen AfD-Wähler*innen für sich gewinnen könnte (so wie es der Labour Party unter Jeremy Corbyn gelungen war, eine Million frühere UKIP-Wähler*innen zu gewinnen). Proteste gegen AfD-Veranstaltungen spielen eine wichtige Rolle dabei, den Rechtspopulismus zu bekämpfen, die liberale und rein moralische Kritik am Rechtspopulismus funktioniert aber nicht. Wir argumentieren dafür, dass Propaganda und Politik zur Eindämmung der AfD als Ausgangspunkt die gemeinsamen Klasseninteressen aller Lohnabhängigen nehmen sollte und nicht eine moralische Verurteilung von Rassismus. Wir unterstützen nicht die Forderung nach einem Verbot der AfD, weil wir davon ausgehen, dass ein solches und auch schon die Kampagne dafür, der AfD in die Karten spielt und nicht die Ursachen für deren Erstarken bekämpft. Außerdem haben wir kein Vertrauen in den bürgerlichen Staat, wenn es um den Kampf gegen die AfD geht und wissen, dass staatliche Maßnahmen gegen Rechts den Boden für Maßnahmen gegen die Arbeiter*innenbewegung und die Linke vorbereiten können.
- Alice Weidel hat am Wahlabend betont, dass die AfD ihre Hand zur Regierungsbildung in Richtung CDU/CSU ausgestreckt habe. Andere Vertreter*innen der Rechtspopulist*innen haben eher betont, dass es keine Regierungsbeteiligung der AfD brauche, um Gesetze mit der Union zusammen zu verabschieden. Der Rechtsaußen Björn Höcke betonte, die AfD wolle nicht Juniorpartnerin in einer Koalition mit der CDU/CSU sein. Vor der Bundestagswahl konnten diese unterschiedlichen Positionen und Flügel in scheinbarer Eintracht zusammen gehalten werden. Beim letzten Bundesparteitag verschärfte Alice Weidel ihre Rhetorik und sprach sich für „Remigration“ aus, während gleichzeitig inhaltliche Beschlüsse gefällt wurden, um dem Kapital zu signalisieren, dass die AfD verlässlich ist, wie der Verzicht auf die Forderung nach einem Austritt aus der EU und die Auflösung der deutlich rechtsextremistischeren Jugendorganisation Junge Alternative. Die Junge Alternative soll durch eine neue Organisation ersetzt werden, die eng an die AfD gebunden ist.
Der Konflikt der unterschiedlichen Lager in der AfD wird weiter gehen. Wie genau er sich entwickeln wird und welche Kräfte sich durchsetzen werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorherzusehen. - Klar ist aber, dass die so genannte Brandmauer durch das Vorgehen von Friedrich Merz im Zusammenhang mit den Bundestagsabstimmungen zum so genannten „Zuzugsbegrenzungsgesetz“ deutliche Risse bekommen hat. Diese sind auch durch alle Beteuerungen seitens Merz, nicht mit der AfD kooperieren zu wollen, nicht gekittet. Der Prozess von Zusammenarbeit mit der AfD ist auf kommunaler Ebene schon in vollem Gange. Die immer instabiler werdenden Landesregierungen in Ostdeutschland werden früher oder später zu Regierungsbeteiligungen oder sogar AfD-Minderheitsregierungen dort führen. Es besteht die Gefahr, dass die AfD auch in der nächsten Legislaturperiode die Hauptprofiteurin der zu erwartenden Krise und Regierungspolitik sein wird. 28 Prozent sprechen sich für eine Koalition von CDU/CSU und AfD aus, was ein Hinweis auf das derzeitige Wähler*innenpotenzial der AfD ist. Um die AfD wieder zu schwächen, sind große Klassenkämpfe und damit einhergehend die Schaffung einer überzeugenden linken Alternative nötig.
BSW
- Das BSW war unter anderem mit dem Versprechen angetreten, den Aufstieg der AfD zu stoppen, indem eine vermeintlich linke Sozialpolitik mit einer restriktiven Migrationspolitik verbunden werden sollte. Im Wahlkampf haben sich Sahra Wagenknecht und ihre Unterstützer*innen dadurch hervor getan, dass sie die rassistische Migrationsdebatte massiv mit angeheizt haben und oftmals die ersten waren, die Gewaltverbrechen von Geflüchteten mit dem Ruf nach Abschiebungen und pauschalisierten Forderungen nach Begrenzung der Zuwanderung verbunden haben. Es hat dem BSW bei der Wahl nichts gebracht, wahrscheinlich sogar geschadet.
- Das knappe Verfehlen der fünf Prozent hat sicher einerseits damit zu tun, dass eine Schicht von links orientierten BSW-Wähler*innen aufgrund der migrationsfeindlichen Rhetorik von Sahra Wagenknecht nicht mehr folgen konnten, was sich auch in einzelnen prominenten Parteiaustritten zeigte. Andererseits hat die Partei sich durch ihre Eintritte in die Landesregierungen von Brandenburg und Thüringen selbst den Nimbus der Anti-Establishment-Kraft genommen. Das hat sicher auch einen Beitrag dazu geleistet, dass der Höhenflug ein abruptes Ende nahm und Wagenknecht und Co. nun aus dem Bundestag geflogen sind.
- Das BSW hat kaum soziale Verankerung – weder in der Gesellschaft noch in einer großen Mitgliedschaft. Das wird ihm nun auf die Füße fallen. Ob die Partei weiter eine Rolle spielen wird oder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wird, ist offen und wird sicher auch davon abhängen, ob Wagenknecht selbst den Rückzug antritt oder nicht. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Partei sich noch in den Bundestag klagen kann. Möglicherweise wird sie auch zur neuen ostdeutschen Regionalpartei, denn dort hatte sie mit 9,3 Prozent ein deutlich besseres Ergebnis und ist in drei Landesparlamenten stark vertreten.
- Wir hatten bei der letzten Sol-Bundeskonferenz eine Debatte darüber, ob es innerhalb des BSW linke Kräfte gibt und ob wir der Partei gegenüber die Einheitsfrontmethode anwenden, wo es möglich ist, also zum Beispiel bei Sozialprotesten oder in der Antikriegsbewegung.
Es ist keine Frage, dass es Kräfte im BSW gibt, die sich selbst als links verstehen und in der Linkspartei lange Zeit auf dem linken Flügel waren. Gerade die prominenten Vertreter*innen aus diesem Kreis haben aber kein Wort der Kritik an der spalterischen Migrationspolitik des BSW verlauten lassen, einzelne Abgeordnete sind nicht zu den entscheidenden Bundestagsabstimmungen aufgetaucht bzw. haben sich enthalten und haben sich so der politischen Verantwortung entzogen. Die Tatsache, dass es Parteiaustritte wegen der Migrationspolitik gab, weist auch daraufhin, dass es linke Kräfte im BSW zumindest gab. Auch in unserer politischen Praxis mussten wir uns mit dem BSW auseinandersetzen, ob bei Antikriegsprotesten oder beim Kampf gegen kommunale Kürzungen. Hier können wir das BSW nicht wie andere bürgerliche, etablierte Parteien behandeln. Das nicht zuletzt, weil das BSW sich deutlicher gegen Waffenlieferungen und Russland-Sanktionen ausgesprochen hat als Die Linke. Eine begrenzte Zusammenarbeit in Bündnissen können wir daher nicht ausschließen, müssen dies aber immer mit deutlicher Kritik an der Partei verbinden. Gleichzeitig hat das BSW eine qualitative Entwicklung nach rechts genommen, weshalb wir keine Forderungen an das BSW richten oder ihm direkte Einheitsfrontangebote machen sollten und weshalb es unwahrscheinlich ist, dass die Partei noch Schichten ansprechen wird, die für eine zukünftige Arbeiter*innenpartei von Bedeutung sein werden.
Die Linke und die Frage einer neuen Arbeiter*innenpartei
- Das Wahlergebnis der Linken ist eine Bestätigung unserer These, dass wir uns in einer Situation gesellschaftlicher Polarisierung und nicht eines einfachen Rechtsrucks befinden. Die 8,7 Prozent und zehntausenden neuen Mitglieder sind eine sehr positive Entwicklung für die Arbeiter*innenklasse in Deutschland und ein Grund zur Freude. Für viele Jugendliche und Lohnabhängige, vor allem auch solche mit Migrationshintergrund, ist das Wahlergebnis und die Stärkung der Linken ein wichtiges Signal der Hoffnung und löst eine gewisse Begeisterung aus. Es gibt eine Dynamik in der Partei, einen Willen weiterzumachen und aufzubauen und Die Linke ist so für einen Teil von Arbeiter*innen und Jugendlichen wieder zu einem Bezugspunkt geworden.
Von besonderer Bedeutung ist das verhältnismäßig gute Ergebnis in Westdeutschland, wo die Partei 7,6 Prozent erhielt und in Berlin-Neukölln mit über dreißig Prozent erstmals einen Wahlkreis direkt holte. Es sind tausende neue Mitglieder aktiv geworden, darunter besonders viele junge Menschen und Frauen. Fünfzig Prozent der Mitglieder sind nach der Abspaltung des Wagenknecht-Lagers in die Partei eingetreten. Die Partei ist in einem Veränderungsprozess und es ist zur Zeit nicht vorhersehbar, wohin genau dieser führen wird. - Wir müssen selbstkritisch bilanzieren, dass wir diese Entwicklung nicht vorhergesehen und eine andere Entwicklung für wahrscheinlicher gehalten haben. Die Frage ist, ob dies überhaupt möglich gewesen wäre, da dies auch mit Faktoren und Ereignissen zu tun hatte, die nicht absehbar waren. Trotzdem müssen wir diskutieren, welche Faktoren wir möglicherweise unterschätzt haben. Bestätigt hat sich allerdings, dass wir Die Linke nicht völlig abgeschrieben haben, wie das zum Beispiel die Marx21-Abspaltungen Sozialismus von Unten und Revolutionäre Linke getan haben, und dass wir darauf hingewiesen haben, dass ein neuerlicher Aufschwung der Partei möglich ist. So schrieben wir in unserer Konferenzresolution im Jahr 2022: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Partei vor dem Hintergrund der tiefen Klassenpolarisierung wieder bessere Umfragewerte und Wahlergebnisse erzielt. Es ist auch möglich, dass sie in begrenztem Maße neue Mitglieder gewinnt (…). Sie bleibt auch ein wichtiger Raum für die Debatte um sozialistische Politik, den Aufbau einer breiten, sozialistischen Arbeiter*innenpartei und auch für die Artikulation der politischen Interessen der Arbeiter*innenklasse – es wird aber leider immer wahrscheinlicher, dass die Partei ihren Gebrauchswert immer mehr verliert und Arbeiter*innen und Jugendliche in den Kämpfen der kommenden Jahre einen anderen Weg einschlagen werden, um eine politische Interessenvertretung zu schaffen.“
- Bei aller Bedeutung des Wahlergebnisses und des Mitgliederwachstums dürfen wir auch den Sinn für Proportionen nie verlieren. Es ist der Linken gelungen, den parlamentarischen Tod abzuwenden – was nur nötig war, weil sie in die Existenzkrise geraten war. Das Wahlergebnis ist trotzdem schlechter als 2009 und 2017 und die Partei hat in den 17 Jahren seit der Großen Rezession darin versagt, die durch die Krise des Kapitalismus sich besser entwickelnden Bedingungen für den Aufbau einer sozialistischen Massenpartei zu nutzen. Es gilt auch weiterhin, was wir in den letzten Wochen und Monaten betont haben: Die Gründe für die Existenzkrise der Partei wurden weder analysiert noch aufgearbeitet und die Gefahr, dass die Geschichte sich wiederholen wird, ist groß.
- Der Aufschwung der Partei hat verschiedene Phasen durchlaufen seit dem Austritt von Sahra Wagenknecht und ihren Unterstützer*innen. Es gab eine erste Eintrittswelle, unter anderem von organisierten Linksradikalen, unmittelbar danach, die aber keine große Wirkung erzielte. Die Wahl einer neuen Parteiführung mit Ines Schwerdtner und Jan van Aken hat die Stimmung in der Partei verbessert, nachdem sie bei den ostdeutschen Landtagswahlen katastrophale Ergebnisse eingefahren hatte und in Brandenburg aus dem Landtag geflogen war. Als dann die Ampel-Regierung auseinanderbrach und Neuwahlen anstanden, wurde klar, dass es um das Überleben der Linken geht. Das hat eine mobilisierende Wirkung in einer breiteren Schicht von Jugendlichen und Lohnabhängigen ausgelöst, die wir nicht erwartet hatten.
Wir haben zu dem qualitativen Sprung bei diesem Aufschwung der Linken schon vor der Bundestagswahl geschrieben: „Die Eintritts- und Aktivierungswelle ist vor allem eine Reaktion auf das Erstarken der AfD, die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und das Einreißen der sogenannten ‘Brandmauer’ zur AfD durch CDU-Chef Friedrich Merz, aber auch auf die gleichzeitig stattfindende weitere Rechtsentwicklung von SPD und Grünen. Diese haben zum Beispiel das Asylrecht ebenso verschärft und wollen die Militärausgaben ebenso weiter erhöhen. Sie blasen in der Migrationsfrage letztlich in dasselbe Horn wie die anderen etablierten Parteien, nur etwas leiser, aber Olaf Scholz ist stolz auf die vielen Abschiebungen und Politiker*innen beider Parteien beteiligen sich daran, einzelne Gewalttaten zu Migrationsproblemen zu erklären. Ganz abgesehen davon, haben sie in den entscheidenden sozialen Fragen Mieten, Preissteigerungen, Arbeitsplatzvernichtung und Personalmangel in vielen Bereichen als Regierungsparteien keine Verbesserungen eingeleitet. Viele Menschen ziehen angesichts dieser Entwicklungen, aber auch der Kriege, des Klimawandels und der multiplen Krise des Kapitalismus mit all ihren sozialen Folgen die Schlussfolgerung, dass es einen linken Gegenpol zu diesen Entwicklungen und den zerstörerischen Kräften, die der Kapitalismus freisetzt, braucht. Gerade die Existenzkrise der Linkspartei und die Gefahr, dass sie aus dem Bundestag fliegt, haben dazu geführt, dass es nun von einer wichtigen Schicht, vor allem junger Menschen, eine Hinwendung zu ihr gibt.“ Und: „Die neue Linke-Führung scheint zu glauben, dass die Eintrittswelle auch oder sogar vor allem mit ihr zu tun hat, mit der neuen ‘Einigkeit’ seitdem Ines Schwerdtner und Jan van Aken zu Parteivorsitzenden gewählt wurden und der Fokussierung des Wahlkampfs auf einige wenige soziale Themen, wie Wohnen, Inflation und Reichtumsumverteilung. Es mag sein, dass Die Linke in den letzten Monaten wieder mehr klare Botschaften vermittelt und das Ende öffentlich ausgetragener Streitereien ihre Attraktivität erhöht hat. Tatsächlich gibt es aber eine Dialektik der Existenzkrise der Partei. Angesichts des Erstarkens der AfD, der Alternativlosigkeit auf der Linken und der fortgesetzten Rechtsentwicklung bei SPD und Grünen, wurde vielen Menschen klar, dass ein Land ohne Linkspartei ein sehr viel dunkleres Land wäre – die Eintrittswelle war sozusagen umgekehrt proportional ausgeprägt zur Stärke und positiven Ausstrahlungskraft der Partei.“ - Wahlerfolg und Zulauf drücken aber wahrscheinlich noch weitere Faktoren aus. Die Linke hat vor allem von SPD und Grünen Wähler*innen gewonnen und verhältnismäßig weniger von Nichtwähler*innen. Diese sind aus Enttäuschung mit SPD und Grünen, teilweise wegen deren Verhalten gegenüber dem Thema Migration und Friedrich Merz zur Linken gewechselt. Die bewusste Mehrheitsbeschaffung bei der AfD für den 5-Punkte-Plan von Merz für eine massive Verschärfung der Asylpolitik und sein „Zuzugsbegrenzungsgesetz“ haben dazu geführt, dass innerhalb von 24 Stunden 1151 Menschen in die Linke eingetreten sind. Schon vorher hat sich gezeigt, wie einzelne Ereignisse, wie die erste und zweite Wahl von Trump, der Austritt von Sahra Wagenknecht, das Geheimtreffen in Potsdam zur Remigration oder das Auseinanderbrechen der Ampel Menschen politisierten und zum Eintritt in Die Linke bewogen haben. Würde Die Linke im Bundestag mit harten Attacken gegen die herrschende Klasse und die anderen Parteien polarisieren, könnte das auch dazu führen, dass weitere Schichten in die Partei eintreten. Bei der Erreichung einiger Direktmandate waren Haustürgespräche beim jetzigen Zustand der Linken wahlentscheidend. Die Sol fordert schon immer die Begrenzung der Einkommen der Abgeordneten auf einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn. Es ist eine positive Entwicklung, dass die seit einiger Zeit und vor allem durch die KPÖ-Erfahrung in der Linken beförderte Debatte um die Begrenzung der Abgeordnetendiäten geführt wird und die Parteivorsitzenden und einige Abgeordnete sich freiwillig auf ein Einkommen von netto 2500 Euro im Monat beschränken. Bei einigen Abgeordneten, die durch Direktwahl in den Bundestag kamen, war dies ein wichtiger Faktor für ihren Wahlerfolg. Wir kämpfen in der Linken weiter für eine Einkommensbegrenzung auf das Niveau eines Facharbeiter*innenlohns.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele der neuen Mitglieder mit großem Engagement eintreten, aber auch mit einem geringen Verständnis derjenigen Fragen, die die Entwicklung der Linkspartei in den letzten Jahren geprägt haben. Das gilt für die Frage von Regierungsbeteiligungen mit prokapitalistischen Parteien, des Verhältnisses zu SPD und Grünen und zur bürgerlichen Demokratie generell im Kampf gegen die AfD und auch zu internationalen Fragen wie dem Ukraine-Krieg und Nahost-Konflikt.
Es gibt aber zweifelsfrei auch ein kritisches Potenzial unter einer Schicht der neuen Mitglieder, ein Interesse an marxistischen Ideen und ein Potenzial, das wir als revolutionäre Organisation erreichen können. Die hohe Zahl der neuen Mitglieder kann zu einem Umschlagen von Quantität in Qualität führen und die Partei kann ein Stück weit aufgemischt werden. Hinzu kommt, dass die neue Parteiführung den Eindruck macht mit einer strategischen Konzeption an den Parteiaufbau heranzugehen, die nicht in demselben Ausmaß parlamentsfixiert ist, wie das in der Vergangenheit der Fall war. Auch hier sollten wir den Tag nicht vor dem Abend loben und zum Beispiel den Anpassungsdruck, den der Parlamentsbetrieb auf die vielen neuen Mitglieder der Bundestagsfraktion ausüben wird, nicht unterschätzen, aber aus Parteivorstand und Karl-Liebknecht-Haus kommen unter anderem Vorschläge für eine Fortsetzung der Fokussierung auf soziale Themen, die Entwicklung von Kampagnen, vor allem zum Thema Mietendeckel, eine Orientierung auf Betriebe und Gewerkschaften und politische Bildungsarbeit, die – trotz aller reformistischen Begrenztheit – die Attraktivität der Partei weiter steigern können. Das gilt auch, wenn gleichzeitig eine gewisse „NGOisierung“ der Partei durch Sozialberatungen und Mietpreisrechner stattfindet, welche wiederum bei vielen Menschen nachvollziehbarerweise gut ankommen. Ein Verständnis für die Gefahren einer solchen Ausrichtung gibt es bei den neuen Mitgliedern kaum. Wir sollten geduldig erklären, dass ein einseitiger Fokus auf „Kümmererpartei“ statt „Klassenkampfpartei“ eine Stellvertreterpolitik verstärken und ein Hindernis dabei sein kann, eine kämpferische, auf Kämpfe orientierte sozialistische Partei aufzubauen, die nicht nur Symptome sondern auch Ursachen bekämpft. In dem Zusammenhang machen wir Vorschläge, Menschen nicht nur Hilfe und Beratungen anzubieten, sondern ihnen vor allem Angebote zur Selbstorganisation und Aktivität zu machen, sowohl innerhalb der Partei, als auch in der Gewerkschaft, Mieter*inneninitiativen etc.
Außerdem gelang es der Parteiführung, eine kritische Debatte zur Zustimmung zu Waffenlieferungen an die Ukraine durch die Landesregierungen mit Linke-Beteiligung in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, die Zustimmung zum Sicherheitspaket der Bundesregierung durch Mecklenburg-Vorpommern, die Haushaltskürzungen in Bremen, die Wahl von CDU-Ministerpräsidenten in Sachsen und Thüringen mit Hilfe der dortigen Linken und der Ausschluss des Palästina-Aktivisten Ramsi Kilani zu verhindern. Während die Parteiführung und die Bundestagsfraktion richtigerweise die Aussetzung der Schuldenbremse für Rüstungsausgaben und das Sondervermögen abgelehnt haben, haben die Vertreter*innen der Linken in den Landesregierungen von Bremen und Mecklenburg-Vorpommern zugestimmt. Das hat in der Partei viel Kritik ausgelöst, die jedoch von der Parteispitze aufgefangen werden konnte. Trotzdem bietet diese Auseinandersetzung das Potenzial für eine Polarisierung innerhalb der Partei. Durch unsere Intervention auf Kreisparteitagen und Diskussionen zu dem Thema können wir Neumitgliedern die politischen Demarkationslinien innerhalb der Partei verdeutlichen und die Notwendigkeit einer Organisierung in der AKL und der Sol als revolutionärer Organisation hervorheben. Der Beschluss, den der Parteivorstand nach dem Eklat zwischen Trump und Selenskyj getätigt hat, zeigte aber, wie die Parteiführung dem hohen Druck unter dem sie steht, nachgibt und dass kein grundlegender politischer Kurswechsel stattgefunden hat und die Parteiführung weiterhin weit von einem sozialistischen Klassenstandpunkt entfernt ist. - Es ist aber auch zu beobachten, dass es unter den neuen Mitgliedern zu vielen Fragen Unsicherheit und politische Verwirrung gibt, wie zur Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine oder zum Thema Regierungsbeteiligungen mit pro-kapitalistischen Parteien. Für viele stehen solche Fragen auch nicht im Mittelpunkt, sondern sie wollen etwas gegen Rechts tun und Die Linke stärken. Dabei kann auch der Gedanke, die Einheit der Partei jetzt nicht durch Kontroversen zu gefährden eine Rolle spielen. Das spiegelt zum Einen das geringe politische Bewusstsein in der gesamten Arbeiter*innenklasse und Jugend, ist aber auch dadurch erklärbar, da sie mit dem Ziel eingetreten sind, die Partei wieder in den Bundestag zu bringen. Das ist nun geschafft und nun wird sich zeigen, wie viele der neuen Mitglieder erstens aktiv bleiben und wo sie sich zweitens politisch verorten werden. Wir sollten konstruktive Vorschläge für die weitere Aufbauarbeit der Partei, für Kampagnen und ihre inhaltlichen Positionen machen, wie wir das auch schon getan haben.
- Diese Beispiele zeigen aber auch, dass sich politisch nichts grundlegendes in der Linken verändert hat und dass die Partei Gefahr läuft, die Entwicklung der letzten Jahre zu wiederholen, wenn sie keinen Kurswechsel vollzieht. Das hängt aber auch von den Bedingungen ab, unter denen die Partei operiert. Solange sich zum Beispiel keine konkreten Optionen für weitere Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen auftun, kann sie ein oppositionelles Image wahren und eine entsprechende Ausstrahlung entwickeln. Das wird absehbar bis mindestens Mitte 2026 der Fall sein. Wenn das mit einem Aufschwung von Klassenkämpfen und Protesten zusammenfällt, kann das auch dazu führen, dass Die Linke in aktiven Teilen der Klasse wieder an Unterstützung gewinnt. Bisher hat die Partei vor allem in den Städten in einem eher akademisch geprägten Milieu und unter Beschäftigten aus Sozialberufen neue Mitglieder gewonnen. Das muss nicht so bleiben.
Gleichzeitig ist die Stärkung der Linken für das Bürgertum ein erhebliches Problem und die Strategen des Kapitals sind sich bewusst, dass eine weitere Stärkung der Linken, eine Gefahr für sie darstellt. Sie werden wahrscheinlich mit einer Mischung aus Repression und Vorgehen gegen die linken Teile der Partei und Einbindung der Partei in Bundesländern und auch bei Verfassungsänderungen im Bundestag agieren. Die steigende Gefahr einer Regierungsbeteiligung der AfD wird auch einen gesellschaftlichen, wie innerparteilichen Druck auf Die Linke erzeugen, sich einer pro-kapitalistischen Regierung mit SPD und Grünen anzuschließen. Diese Frage kann erstmals bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin im Jahr 2026 konkret werden. - In Berlin ist Die Linke bei den Bundestagswahlen stärkste Kraft geworden und konnte vier Direktmandate gewinnen, darunter mit Neukölln erstmals einen westdeutschen Wahlkreis, wo Ferat Kocak gewählt wurde. Das eröffnet für den Landesverband die Perspektive, bei den Abgeordnetenhauswahlen im kommenden Jahr zur stärksten Kraft zu werden und damit den Anspruch auf den Posten des Regierenden Bürgermeisters zu erreichen. Für viele rechte, aber leider auch linke Reformist*innen ist klar, dass dann eine Koalition mit SPD und/oder Grünen eingegangen werden sollte. Wir werden unter diesen Voraussetzungen unsere Opposition gegen eine Regierungsbeteiligung in pro-kapitalistischen Koalitionen argumentativ anpassen müssen und ähnlich, wie wir das 2014 in Thüringen gemacht haben, offensiv ein sozialistisches Regierungsprogramm einfordern, zu dem sich die anderen Parlamentsparteien dann verhalten müssten.
- Wir hatten unsere praktische Mitarbeit in der Linken in den letzten Jahren in fast allen Orten stark reduziert bzw. aufgegeben und uns aus der linksjugend[‘solid] zurückgezogen ohne unsere grundlegendes Verhältnis zur Partei zu ändern. In den letzten Monaten haben wir unsere Mitarbeit verstärkt, weil wir einen Beitrag zum Wiedereinzug in den Bundestag leisten wollten und selbst die Erfahrung machen wollten, wie sich die Partei durch den Mitgliederzuwachs verändert. Wir werden unsere Mitarbeit weiter deutlich verstärken und gleichzeitig Vorschläge für exemplarische Kampagnenarbeit, Unterstützung von Klassenkämpfen und politischer Bildungsarbeit machen und sowohl im Allgemeinen für ein sozialistisches Programm eintreten, als auch in konkreten Auseinandersetzungen immer die Eigentumsfrage, zum Beispiel durch Forderungen nach Überführung von Unternehmen in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innenklasse aufwerfen.
- Gleichzeitig bleibt unsere Flexibilität im Umgang mit der Linken und anderen politischen Formationen, die entstehen können, richtig und sollten wir die Perspektiven für die Partei und unser Verhältnis zu ihr nicht impressionistisch auf Basis kurzfristiger Erfolge der Linken definieren. Wir kämpfen weiterhin für eine Massenpartei der Arbeiter*innenklasse mit einem sozialistischen Programm. Die Linke bzw. Teile von ihr können dabei eine Rolle spielen. Wenn die Partei sich aber nicht grundlegend anders aufstellt als in der Vergangenheit, kann sie die gewachsene Unterstützung wieder verspielen. Es ist möglich, dass zukünftige Klassenkämpfe die Entwicklung der Partei qualitativ beeinflussen und zur Herausbildung eines klassenkämpferischen und sozialistischen Flügels beitragen, der eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer neuen massenhaften Arbeiter*innenpartei spielen wird. Es ist aber auch möglich, dass andere Ansätze, die sich aus Klassenkämpfen und Massenbewegungen entwickeln, eine entscheidende Rolle auf dem Weg zu einer neuen Arbeiter*innenpartei spielen.
Bewusstsein und soziale Bewegungen
- Wahlen sind nur Momentaufnahmen und geben einen Hinweis auf Stimmungen und Bewusstsein in einer Gesellschaft. Um das Bewusstsein in der Arbeiter*innenklasse und Jugend jedoch zu erfassen, müssen sehr viel mehr Faktoren einbezogen werden. Das gilt umso mehr, da ein großer Teil der Klasse entweder gar nicht an der Wahl teilnimmt oder nicht wahlberechtigt ist, aber auch, weil es kein Angebot auf der Linken gibt, dass den Unmut und die Entfremdung von großen Teilen, vor allem der untersten Schichten der Arbeiter*innenklasse, mobilisieren könnte.
- Diese Unzufriedenheit und Entfremdung besteht aber weiterhin und wächst. Sie wird teilweise von der AfD in migrant*innenfeindliche Kanäle gelenkt, was auch zu einer Zunahme rassistischer Straf- und Gewalttaten führte. Die Gefahr des Wachstums faschistischer Kräfte im Windschatten des verstärkten staatlichen Rassismus und des Wachstums der AfD ist groß und vollzieht sich unter Teilen der Jugend, vor allem in Ostdeutschland schon. Das wiederum hat in Teilen der Jugend und vor allem der Mittelschichten zu einer Gegenreaktion und großen antirassistischen Protesten geführt, in die wir mit einem klaren sozialistischen Programm und Klassenstandpunkt eingegriffen haben und die kritischsten Teile, vor allem von Jugendlichen, erreichen konnten.
- Die sich immer weiter verschlechternde soziale Lage wird unweigerlich zu Protesten führen, die auch die Form sozialer Explosionen annehmen können. Das gilt nicht zuletzt für die migrantische Jugend, die sowohl von sozialen Problemen, dem zunehmenden Rassismus und staatlicher Repression betroffen ist.
- Die Stigmatisierung und Unterdrückung der Palästina-Solidaritätsbewegung hat unter arabischen und muslimischen Jugendlichen und Arbeiter*innen tiefe Spuren hinterlassen. Das wird die Entfremdung von den Institutionen des deutschen Staates verstärken, bietet Kräften des rechten politischen Islam Möglichkeiten, ist aber auch eine Basis für linke Kräfte, zu wachsen. Die Gefahr des Selbstisolationismus wird dabei ein Faktor sein. Auch die Palästina-Solidaritätsbewegung, die von vielen migrantischen, oftmals studentischen, Jugendlichen getragen war, hat nicht ausreichend versucht, den Bogen zur Arbeiter*innenklasse zu schlagen und wurde auch aufgrund ihres Sektierertums in den anderthalb Jahren seit dem 7. Oktober schwächer.
Die Massenbewegung in der Türkei hat auch in Deutschland zu Solidaritätsdemonstrationen geführt und die türkischen und kurdischen Migrant*innen politisiert, wie auch die Aufforderung Abdullah Öcalans an die PKK, sich aufzulösen, unter Kurd*innen Diskussionen ausgelöst hat. Die Existenz der TIP, die auch in verschiedenen Städten der Bundesrepublik über Strukturen verfügt, ist für uns ein Anknüpfungspunkt, an diesen Debatten teilzunehmen. - Auch andere Fragen von Diskriminierung werden weiterhin Anlass für Proteste sein, insbesondere die Diskriminierung von Frauen und der LGBTQI+-Community. Die Tatsache, dass der §218 immer noch in Kraft ist, hat im letzten Jahr zu größeren Demonstrationen geführt und wird weiter ein Thema bleiben, wie auch Gewalt gegen Frauen. In der Frauen- und LGBTQI+-Bewegung greifen identitätspolitische Ideen weiter um sich und wir begegnen ihnen freundlich, aber deutlich mit einem Klassenstandpunkt und marxistischer Analyse.
- Jugendliche sind seit der Pandemie von der multiplen Krise des Kapitalismus besonders betroffen. Die Polarisierung ist hier besonders hoch. Die Tatsache, dass Die Linke stärkste Partei unter Jungwähler*innen ist, zeigt, welches Potenzial hier existiert. Teile der studentischen Jugend waren in den letzten Jahren vor allem in der Klimabewegung aktiv geworden. Hier gab es generell einen Rückgang, aber auch eine Differenzierung und eine Schicht hat sich in Richtung Gewerkschaften und sozialistischem Reformismus orientiert, was eine wichtige und positive Entwicklung ist, die zu Phänomenen wie der „Wir fahren zusammen“-Kampagne und dem Austritt führender Teile der Grünen Jugend und der Bildung der „Zeit für was Neues“-Initiative bzw. mittlerweile der Jungen Linken geführt hat. Entscheidend wird jedoch sein, ob Arbeiter*innenjugendliche sich an Kämpfen beteiligen und aktivieren. Gleichzeitig ist der Kampf gegen rechts aktuell für viele Jugendliche ein Ausgangspunkt für ihre Politisierung und in Teilen auch für ihre Linksentwicklung. Viele Jugendliche haben anstelle von SPD und Grünen Die Linke gewählt, weil es die einzige Partei war, die eine glaubhafte Alternative zum allgemeinen Abschiebe-Überbietungswettbewerb des bürgerlichen Lagers darstellte. „Jugend für Sozialismus“ konnte bspw. in Berlin viele Jugendliche vor allem über Demos gegen rechts kennenlernen und organisieren. „Studis gegen Rechts“ hat bundesweit große studentische Vollversammlungen durchgeführt und konnte zusammen mit dem Bündnis „widersetzen“ Zehntausende nach Riesa gegen den AfD-Parteitag mobilisieren. Im Austausch mit gegen rechts politisierten Jugendlichen machen wir dabei stets deutlich, dass eine rein moralische Ablehnung von rechter Politik nicht ausreichen wird, um die AfD und Rechte im Allgemeinen langfristig zu schwächen und AfD-Sympathisant*innen „zurückzugewinnen“. Um das zu erreichen, ist statt Störaktionen, wie beispielsweise „widersetzen“ sie durchführt, vor allem eine Orientierung auf die (Interessen der) Arbeiter*innenklasse nötig.
- Studierende leben in Deutschland immer prekärer. Über ein Drittel der Studierenden lebt in Armut und die Tendenz, dass sich Studierende neben ihrem Studium Arbeit suchen müssen, wächst. Die Ursache dafür liegt sicherlich auch darin, dass die meisten studentischen Städte von horrenden Mietpreisen geplagt sind und immer weniger Studierende einen Anspruch auf Bafög haben. Mittlerweile beziehen nur noch 13 Prozent der Studierenden Leistungen über BAföG. Das führt dazu, dass, obwohl immer mehr junge Menschen studieren, die Anzahl an 20- bis 24-jährigen die arbeiten nach kontinuierlichen Rückgang zwischen 1997 und 2015 wieder jährlich steigt. 76 Prozent der 20- bis 24-jährigen geht mittlerweile einer Arbeit nach, die meisten davon in Teilzeit. Damit lässt sich die Politisierung von einer Schicht an Studierenden nach links zumindest teilweise erklären.
- Die hohen Mieten bleiben eines der wichtigsten sozialen Probleme in Deutschland. Viele Arbeiter*innen und Jugendliche politisieren sich darüber und es wird weiterhin Potenziel für Mieter*innenproteste geben. Diese werden oftmals „Häuserkämpfe“ sein, die aber in der Zukunft auch wieder zu verallgemeinerten Bewegungen zusammenwachsen können.
Betriebe und Gewerkschaften
- Das Jahr 2024 markierte eine Fortsetzung der Streikbewegung des Jahres 2023, jedoch mit nachlassender Dynamik ab dem Frühjahr. Zu Jahresbeginn gab es die Streiks der Lokführer*innen, Streiks im öffentlichen Nahverkehr, etwas später dann bei der Telekom. In allen Fällen blieb es, wie schon im Jahr zuvor bei Warnstreiks und die Gewerkschaftsführungen konnten den Druck aus den Belegschaften auffangen, indem sie Abschlüsse aushandelten, die zwar nominell höher waren als in der Vergangenheit, angesichts der hohen Preissteigerungsraten jedoch in der Regel trotzdem einen Reallohnverlust bedeuteten. Der Rückgang der Inflationsrate war dabei sicher eine Hilfe für
- Unternehmer*innen und Gewerkschaftsführungen, um unbefristete Streiks zu verhindern. Auch in vielen anderen Bereichen kam es 2024 zu Tarifrunden und Streiks. Wir haben diese Auseinandersetzungen publizistisch und mit aktiver Solidarität begleitet – ob am Hamburger Hafen, bei den Erzieher*innen- und Lehrer*innenstreiks in Berlin, den Tarifrunden im Einzelhandel und der Geld&Wert-Branche oder beim Kampf der Belegschaften des Jüdischen Krankenhauses gegen Arbeitsplatzabbau und der CFM in Berlin und des Bundesanzeigers in Köln für einen Tarifvertrag. In einigen Kämpfen spielten Genoss*innen vor Ort eine Rolle in Arbeitskampfleitungen bzw. bei der betrieblichen Streikorganisation wie bei der Post, Telekom und im Öffentlichen Dienst. 83. Die IGM war mit der Forderung nach sieben Prozent mehr Lohn bei einer Laufzeit von zwölf Monaten in die Tarifrunde im Herbst 2023 gegangen. Stattdessen wurden Entgelterhöhungen in mehreren Stufen und eine Einmalzahlung in Höhe von 600 Euro, die nicht in die Tabelle einfließt, abgeschlossen. Erst ab April 2025 werden die Löhne um zwei Prozent erhöht. Ein Jahr später folgt eine weitere Steigerung um 3,1 Prozent. Vor dem Hintergrund der Reallohnverluste der letzten Jahre ist dies viel zu wenig. Zudem wird eine Regelung fortgesetzt, dass Zahlungen von der Umsatzrendite abhängig gemacht werden. Damit werden Belegschaften gespalten und den Konjunkturschwankungen des Kapitalismus ausgesetzt. Die Führung der IG Metall setzte damit die Standortlogik und Sozialpartnerschaft fort. 84. Die EVG-Führung ging in der diesjährigen Tarifrunde besonders weit mit einer Streikvermeidungsstrategie. Mit dem Argument, es müsse ein Abschluss vor der Bundestagswahl erreicht werden, da eine zukünftige, von Friedrich Merz geführte, Bundesregierung die Deutsche Bahn möglicherweise zerschlagen will, hat sie die Verhandlungen so weit in die Zeit der Friedenspflicht vorgezogen, dass sie in aller Seelenruhe mit dem Bahn-Vorstand verhandeln konnte, ohne von Warnstreiks und Basisaktivitäten gestört zu werden. Das Ergebnis ist ein Vertrag über 33 Monate, der weit hinter den Forderungen der Gewerkschaft zurückfällt. Als Erfolg wird im Zusammenhang mit einer möglichen Zerschlagung der DB verkauft, dass betriebs- und krankheitsbedingte Kündigungen bis 2027 weiterhin ausgeschlossen werden. Wer jedoch glaubt, dass eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung eine Zerschlagung der Deutschen Bahn AG innerhalb von anderthalb Jahren umsetzen kann und die Beschäftigungssicherung in diesem Kontext irgendeine Bedeutung hat, liegt falsch. Hier wird den Kolleg*innen Sand in die Augen gestreut. Auch bei der EVG galt aber: Kampfbereitschaft war vorhanden, es fehlen den Kolleg*innen jedoch die Strukturen und Aktivist*innen, die Bürokratie herauszufordern und selbständig aktiv zu werden. 85. Bei den Tarifrunden bei Bund und Kommunen hat die Gewerkschaftsbürokratie durch ihre Zustimmung zum Schlichtungsverfahren die Dynamik der Warnstreiks gebrochen und dann schlechten Ergebnissen zugestimmt. Bei der Mitgliederbefragung unter den Gewerkschaftsmitgliedern bei der Post gab es zwar eine Mehrheit von 54 Prozent gegen das Ergebnis, aber die Tarifkommission hat trotzdem zugestimmt. Sie argumentierten, dass für eine Fortsetzung eines Streiks in einer Urabstimmung laut Arbeitskampfrichtlinien mindestens 75 Prozent stimmen müssten. In der Tarifkommission für Bund und Kommunen hat erstmals eine große Minderheit (circa ein Drittel) von Mitgliedern gegen eine Annahme gestimmt, was die Unzufriedenheit in und den Druck aus den Betrieben widerspiegelt. Auch bei den Berliner Verkehrsbetrieben hat ver.di einem Schlichterspruch zugestimmt, obwohl in der parallel stattfindenden Urabstimmung 95,4 Prozent für unbefristeten Streik stimmten. Insbesondere die, wenn auch freiwillige, Arbeitszeitverlängerung in beiden Verhandlungsergebnissen, ist ein Skandal und führt unter Kolleg*innen zu Unmut. Es ist davon auszugehen, dass eine Folge dieser schlechten Abschlüsse Austritte aus der Gewerkschaft sein werden, eine andere aber, dass die kritischen Stimmen innerhalb von ver.di lauter werden und die Möglichkeiten für das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di größer werden. 86. Wir müssen auch weiterhin das Augenmerk auf betriebliche Kämpfe für Tarifverträge richten, wie wir sie beim Kölner Bundesanzeiger, der CFM oder amazon sehen. 87. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den Belegschaften in der Regel eine ausgeprägte Kampfbereitschaft vorhanden ist und bei Mitgliederbefragungen immer wieder deutlich wurde, dass Kolleginnen und Kollegen ein Ende des Verzichts fordern und sich einen Kampf für deutliche Reallohnsteigerungen wünschen. Andererseits hat sich gezeigt, dass sich aus den Warnstreiks im Jahr 2023 noch keine Basisstrukturen oder oppositionellen Netzwerke entwickelt haben, die die Gewerkschaftsführung effektiv unter Druck setzen oder gar einen alternativen Kurs durchsetzen könnten. Positive Ansätze, die sich beispielsweise innerhalb von ver.di Berlin entwickelt hatten oder auch erste Schritte zur Vernetzung kritischer Vertrauensleute bei der Post bestehen aber weiterhin und können Ansatzpunkte für die Entwicklung von organisierten oppositionellen Strömungen in der Zukunft sein.
Die Bürokratie hat aus der vielen Unzufriedenheit mit den Ergebnissen im Jahr 2023 – vor allem bei der Post, der Bahn und dem öffentlichen Dienst – die Schlussfolgerung gezogen, die Zügel wieder anzuziehen, bescheidenere Forderungen aufzustellen, weniger Basisbeteiligung zuzulassen. 88. Vollkommen versagen die Gewerkschaftsführungen und offenbaren ihren sozialpartnerschaftlich-prokapitalistischen Charakter, wenn es um den Kampf gegen die laufenden und anstehenden Kürzungen und gegen den massiven Arbeitsplatzabbau in der Industrie geht. Den Vogel schießt dabei immer wieder die DGB-Vorsitzende (und ehemalige SPD-Generalsekretärin) Yasmin Fahimi ab. Verteidigte sie schon 2022 Boni-Zahlungen für Manager in Unternehmen, die Staatshilfen während der Pandemie erhalten hatten und sagte, es sei nicht die Zeit für Kapitalismuskritik, hat sie im letzten Jahr der Ampel-Regierung gratuliert, als diese sich auf einen Haushaltsentwurf geeinigt hatte, der natürlich Kürzungen vorsah. Mit Blick auf die schlechte Wirtschaftslage vertritt die Gewerkschaftsführung, eine Standortlogik, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu wahren (so etwa angesichts der geplanten Arbeitsplatzvernichtung bei VW). Damit macht sie sich nicht nur des Co-Managements schuldig, wo sie doch eigentlich unumwunden die Interessen der Arbeiter*innen verteidigen sollte, sondern beschwört auch unweigerlich einen Nationalismus, der eine vermeintliche Einheit zwischen deutschen Beschäftigten und deutschem Kapital gegen die ökonomische „Bedrohung“ aus dem Ausland suggeriert. Auf diese Weise nimmt die Gewerkschaftsführung die Spaltung der internationalen Arbeiter*innenklasse nicht nur in Kauf, sondern befördert sie aktiv. 89. Hinsichtlich der Kürzungen, die von der Ampel-Regierung beschlossen bzw. von dem zukünftigen Kanzler Friedrich Merz angedroht und in vielen Kommunen schon exekutiert werden, hat die Gewerkschaftsführung keinen Kampf organisiert. Vor Ort sieht das zwar punktuell etwas anders aus und Gewerkschaften beteiligen sich an Protesten oder rufen, wie in Berlin, sogar federführend dazu auf, aber von einem ernsthaften Kampf ist auch das weit entfernt. Zudem können die Gewerkschaftsführungen versuchen, sich hinter solchen Bündnissen zu verstecken, um ihrer Verantwortung für den Kampf auf der politischen Ebene nicht gerecht zu werden. 90. Noch schlimmer stellt sich die Situation hinsichtlich des massiven Arbeitsplatzabbaus in der Industrie dar. Zehntausende Stellen sind im letzten Jahr abgebaut worden, Standorte sind geschlossen worden, aber es hat so gut wie nirgendwo ein ernsthafter Kampf dagegen stattgefunden. Besonders schändlich war die Politik der IG Metall-Führung bei Volkswagen. Nachdem die Geschäftsleitung die Schließung von drei Werken angekündigt hatte, wurden nur begrenzte Warnstreiks organisiert, um dann einem Abkommen zuzustimmen, das zwar keine Werksschließungen, aber den Abbau von 35.000 Arbeitsplätzen vorsieht und damit den Forderungen der Kapitalist*innen entspricht. Hinzu kommen Arbeitszeitverlängerung und Lohnverzicht und das Ziel einer dreißigprozentigen Produktivitätssteigerung. Das wurde dann von der Gewerkschaftsbürokratie auch noch als „Weihnachtswunder“ und Erfolg verkauft. Doch auch hier gibt es unter einer Schicht von Kolleg*innen Unzufriedenheit oder zumindest eine Infragestellung der Vereinbarung zwischen Gewerkschaft und VW-Konzern. Diese Erfahrungen mit der fortschreitenden Krise des Kapitalismus und der verräterischen Politik der Gewerkschaftsbürokratie wird in der IG Metall und anderen Gewerkschaften die Basis für die Herausbildung oppositioneller Gruppen von Gewerkschafter*innen legen. Dieser Prozess kann von Linken und auch von uns beschleunigt werden, vollzieht sich aber aufgrund der Schwäche linker Kräfte noch verhältnismäßig langsam. 91. Vieles spricht dafür, dass es im Rahmen der institutionalisierten Tarifrunden in der nächsten Phase in der Regel nicht über Warnstreiks hinaus zu Urabstimmungen und Erzwingungsstreiks kommen wird, da die ökonomische Situation und die Haltung der Gewerkschaftsbürokratie das verhindern und die Belegschaften noch keine Mittel entwickelt haben, sich dagegen durchzusetzen. Gleichzeitig werden auf kommunaler und früher oder später auch auf Bundesebene Haushaltskürzungen anstehen, die Kämpfe und Proteste auslösen können, wie das schon in den letzten Monaten in einigen Städten der Fall war.
Fazit
- 92. Die nächsten Jahre werden uns vor große Herausforderungen und Chancen stellen. Die neue Weltlage ist mit keiner früheren Phase des Kapitalismus gleichzusetzen. Wir müssen im Vorwärtsgehen und im Kampf lernen und die marxistische Methode auf neue Verhältnisse anwenden. Wir befinden uns in einer Zeit großer Polarisierung, in der es Tendenzen der Revolution und der Konterrevolution gibt. Sicher ist, dass der Kapitalismus die Lebensverhältnisse der Massen in Deutschland und international verschlechtern wird und dass daraus große Klassenkämpfe sich entwickeln werden. Es ist unmöglich genaue Zeiträume für diese Entwicklungen vorherzusagen, aber sie werden kommen: Unsere Aufgabe ist es, uns darauf vorzubereiten, indem wir jede Gelegenheit zur Stärkung unserer Organisation nutzen – durch neue Mitglieder und durch die politische Ausbildung unserer Mitglieder, damit wir in der Zukunft einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf der Klassenkämpfe nehmen können.
1Effekte der Rückverlagerung deutscher Produktion 2022 | Statista