
Großbritannien vor einem politischen Erdbeben
Interview mit Sarah Sachs-Eldridge, Vorstandsmitglied der Socialist Party in England und Wales, über die Ankündigung der Abgeordneten Jeremy Corbyn und Zarah Sultana, eine neue linke Partei ins Leben zu rufen. Daraufhin hatten über 700.000 Menschen online ihr Interesse an einer solchen Partei bekundet.
Über 700.000 Menschen haben sich für die von Jeremy Corbyn und Zarah Sultana angekündigte Gründung einer neuen Partei angemeldet. Was ist der Hintergrund dieser Entwicklung?
Die enorme Sparpolitik seit der Wirtschaftskrise 2007/08 und die daraus resultierende Wut. Die Wahl von Jeremy Corbyn zum Labour-Vorsitzenden im Jahr 2015 und die Streikwelle von 2022/23, an der über eine Million Arbeiter*innen beteiligt waren, waren einige der Ausdrucksformen dieser Wut. Seit Oktober 2023 gibt es auch eine anhaltende Antikriegsbewegung.
Dann kam es im Juli letzten Jahres zu historischen Parlamentswahlen. Die Tories, die erfolgreichste kapitalistische Partei aller Zeiten, wurden vernichtend geschlagen. Aber auch der Labour-Vorsitzende Keir Starmer versucht, die Interessen der Kapitalist*innenklasse zu verteidigen. Labour gewann vor allem deshalb so deutlich, weil die Tories so verhasst waren – aber mit dem niedrigsten Stimmenanteil, den eine siegreiche Partei jemals erzielt hat: nur 20,1 Prozent der Wähler*innenstimmen!
Dieses winzige Mandat bedeutet, dass es nicht einfach sein wird, die Interessen der Kapitalist*innenklasse durchzusetzen. So musste Starmer beispielsweise eine Kehrtwende bei den Kürzungen von fünf Milliarden Pfund für die Unterstützung von Menschen mit Behinderung und bei anderen Kürzungen machen. Diese Rückzieher haben das Vertrauen gestärkt, dass diese Regierung besiegt werden kann.
Warum ist jetzt eine neue Partei auf der Tagesordnung?
Aufgrund der Realität der Labour-Regierung. Die Kapitalist*innenklasse hoffte, dass Starmer die Kürzungspolitik besser durchsetzen könnte, indem er an die Errungenschaften der Arbeiter*innen unter früheren Labour-Regierungen appelliert.
Während der Konferenz der Gewerkschaft „Unite the Union“, der größten Mitgliedsorganisation der Labour-Partei, kündigte der von Labour geführte Stadtrat von Birmingham an, streikende Stadtreinigungskräfte zu entlassen, wenn sie keine Lohnkürzungen von 25 Prozent akzeptieren würden. In einem Dringlichkeitsantrag wurde beschlossen, die Beziehungen zwischen Unite und Labour zu überprüfen.
Die Gewerkschaftsführer*innen können die Begeisterung für eine neue Partei, die sich für die Interessen der Arbeiter <*innen einsetzt, nicht eindämmen – und es wird eine heftige Debatte entbrennen.
Was für eine Partei sollte das sein?
Um Starmers Kürzungs- und Kriegsagenda zu bekämpfen, muss es eine Arbeiter*innenpartei sein. Labour wurde gegründet, als die Arbeiter*innenklasse, die sich an ihren Arbeitsplätzen und in ihren Gemeinden organisierte, für ihre eigene politische Vertretung kämpfte. Sie begann als föderale Organisation mit Vertreter*innen verschiedener Gewerkschaften und sozialistischer Organisationen.
Vor Blairs Umwandlung in New Labour war Labour eine „kapitalistische Arbeiter*innenpartei“ mit einer Führung, die das kapitalistische System verteidigte. Anders als heute verfügte sie über Strukturen, durch die ihre breite Basis in der Arbeiter*innenklasse Druck ausüben konnte. In den späten 1960er Jahren gelang es dieser Basis, die Führung davon abzuhalten, gewerkschaftsfeindliche Gesetze zu verabschieden und Truppen zur Unterstützung Nixons nach Vietnam zu schicken.
Die Pandemie hat gezeigt, dass die Arbeiter*innenklasse nach wie vor entscheidend für das Funktionieren der Gesellschaft ist. Die Streikwelle hat gezeigt, dass kollektives Handeln zum Erfolg führen kann. Wir sind der Meinung, dass die Arbeiter*innenklasse aufgrund ihrer Rolle und ihres kollektiven Charakters im Kapitalismus über ein enormes Potenzial verfügt. Der Kapitalismus ist ein System, das auf der Ausbeutung der Mehrheit zum Profit einiger weniger basiert. Im Jahr 2025 müssen wir weder das Elend erklären, das er verursacht, noch die ihm innewohnende Ungleichheit.
Aber wir müssen klar machen, dass unsere Klasse die Macht hat, die Gesellschaft zu verändern. Dazu müssen wir auch aufzeigen, wie dieses Potenzial ausgeschöpft werden kann – und der Schlüssel dazu ist der Aufbau einer Massenpartei, in der die Arbeiter*innen gemeinsam für alle ihre Interessen kämpfen können.
Ein sozialistisches Programm zur Planung der gesellschaftlichen Ressourcen, um soziale Bedürfnisse zu befriedigen – anstatt dass eine Handvoll Milliardär*innen die Kontrolle darüber haben –, bringt diese Interessen am deutlichsten zum Ausdruck und würde schnell breitere Teile der Gesellschaft für sich gewinnen.
Es gibt eine Diskussion über die Struktur der neuen Partei. Was schlagt Ihr vor?
Es gibt viele Diskussionen. Eine offene Debatte zwischen Zarah Sultana und Jeremy Corbyn über die Struktur wird von der kapitalistischen Presse genutzt, um zu behaupten, die Linke sei immer gespalten. Aber eine Debatte ist notwendig.
Die Socialist Party beteiligt sich energisch an dieser Debatte. Unsere Mitglieder, die in die Gewerkschaftsvorstände gewählt wurden, berufen Versammlungen in ihren Gewerkschaften ein, um zu diskutieren, wie sie für eine politische Stimme kämpfen können, die die Interessen der Mitglieder vertritt. Unsere Ortsgruppen haben rund sechzig öffentliche Versammlungen in ganz England und Wales einberufen.
Zentral ist die Frage, wie die Partei am effektivsten als kollektive Stimme der Arbeiter*innenklasse auftreten und wie sie die Stimme der organisierten Arbeiter*innenklasse – der sechs Millionen Gewerkschaftsmitglieder – zum Ausdruck bringen kann.
Dies kommt in der breiteren Debatte zwischen den Befürwortern von „One Member One Vote” (OMOV) und denjenigen zum Ausdruck, die wie wir eine föderale Struktur für die Gründung einer neuen Partei befürworten.
OMOV war Teil der Umwandlung der Labour Party in „New Labour”, eine Partei, die sich den Interessen der Bosse verschrieben hat. Sie untergrub die kollektive Rolle der Gewerkschaften bei der Beschlussfassung in der Partei.
In einer Gewerkschaft haben die Mitglieder ein Mitspracherecht, aber ihre demokratische Organisation ermöglicht es ihnen, kollektiv zu handeln. OMOV käme einer Aussage gleich, dass alle Gewerkschaftsmitglieder lediglich Einzelmitglieder sind – und würde damit ihre Fähigkeit, über ein kollektives Vorgehen oder eine gemeinsame Politik zu entscheiden, negieren. Damit würde das wesentliche Element der repräsentativen Demokratie beseitigt.
Als sie am 21. Juli 2025 an der von dem ehemaligen sozialistischen Labour-Abgeordneten Dave Nellist organisierten Versammlung „Gewerkschafter*innen für eine neue Partei” teilnahm, plädierte Zarah für „eine Partei, die auf der Seite der Arbeiter*innen steht und nicht auf der Seite der Reichen, eine echte demokratische sozialistische Alternative, die in der Gewerkschaftsbewegung verwurzelt ist und von und für unsere Klasse, die Arbeiter*innenklasse, aufgebaut wird”.
In Interviews seitdem hat sie sich jedoch für eine Struktur auf der Grundlage von OMOV ausgesprochen. In einem Interview sagte sie: „Wir sollten eine breite Beteiligung anstreben, im Gegensatz zu einer engen Delegiertenstruktur, die unsere Basis möglicherweise nicht repräsentativ vertritt.”
In der Debatte hat Jeremy Corbyn eine föderale Struktur vorgeschlagen. Tatsächlich hat die Trade Unionist and Socialist Coalition (TUSC) -ein Wahlbündnis, an dem die Socialist Party beteiligt ist – eine demokratische föderale „Dachstruktur“ angenommen. Dies hat es der TUSC ermöglicht, Gewerkschafter*innen und Sozialist*innen zusammenzubringen, um mit einem grundlegenden – und demokratisch vereinbarten – Anti-Austeritätsprogramm an Wahlen teilzunehmen. In zehn der 15 Jahre, in denen die TUSC besteht, hatte die RMT mit 80.000 Mitgliedern einen Sitz im Lenkungsausschuss – und damit ein Mitspracherecht.
Was bedeutet das für die ersten Schritte heute?
Eine weitere Erfahrung, auf die die Socialist Party zurückgreifen kann, ist die Zeit, als Militant, unsere Vorgängerorganisation, von 1983 bis 1985 den Stadtrat von Liverpool führte. Durch den Stadtrat errang die Arbeiter*innenklasse von Liverpool enorme Siege – darunter Tausende von Sozialwohnungen, Kindergärten, Ausbildungsplätze für Jugendliche und vieles mehr.
Durch die District Labour Party mit mehr als 600 Delegierten aus Gewerkschaften, Labour-Parteien in den Stadtbezirken usw. wurde der Kurs des Kampfes festgelegt. Es war eine Art Parlament der Arbeiter*innenbewegung, das sowohl die Politik für die Stadträte festlegte als auch Streiks und Demonstrationen zu deren Unterstützung organisierte.
Wir schlagen eine Gründungskonferenz mit Delegierten aus angeschlossenen Gewerkschaften, angeschlossenen politischen und Arbeiter*innenorganisationen, einschließlich sozialistischer Organisationen, sowie Gruppen unabhängiger Ratsmitglieder vor. Autonomie für die Parteistrukturen in Schottland und Wales.
Lokale Mitgliederorganisationen der Partei könnten auch auf nationalen Konferenzen vertreten sein, wenn sich die Partei auf föderaler Basis entwickelt.
Die Fähigkeit der neuen Partei, eine Stimme für unsere Klasse zu sein, hängt davon ab, wie sie organisiert ist – und wofür sie steht. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Die Kapitalist*innenklasse wird alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um die Führung einer Arbeiter*innenpartei dazu zu bringen, die Grenzen des bestehenden Kapitalismus zu akzeptieren.
Wie würde sich die Socialist Party zu einer neuen Partei verhalten?
Die Socialist Party setzt sich seit der kapitalistischen Umwandlung der Labour-Partei unter Blair für eine neue Massenpartei der Arbeiter*innenklasse ein. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass die Gewerkschaften Kandidat*innen aufstellen. Hunderte von Gewerkschafts- und Community-Aktivist*innen haben im Laufe der Jahre als Kandidat*innen der TUSC kandidiert, um den Wähler*innen eine sozialistische Alternative zu bieten und den Kampf gegen die Bosse zu stärken.
Bei den Parlamentswahlen 2017 und 2019, als Jeremy Corbyn Vorsitzender der Labour-Partei war, trat die TUSC jedoch nicht an. Die Socialist Party beantragte die Wiederaufnahme in Corbyns Labour Party auf föderaler Basis. Leider wurde dies nicht akzeptiert.
Trotzdem haben wir uns enthusiastisch für Jeremys Anti-Austeritätsprogramm eingesetzt, im Gegensatz zu den Blair-Anhänger*innen im Parlament, die alles taten, um das Potenzial der Labour Party, eine Anti-Austeritätspartei zu werden, zu sabotieren.
Wenn das Programm einer neuen Partei in etwa dem Labour-Manifest von 2017 entspricht – Verstaatlichung privatisierter Versorgungsunternehmen, massiver sozialer Wohnungsbau, Mietpreisbindung, kostenlose Bildung, Anhebung des Mindestlohns, ein Green New Deal und die Abschaffung gewerkschaftsfeindlicher Gesetze –, wäre sie äußerst populär.
Wir haben 2017 gewarnt: „Die Feindseligkeit, der Jeremy Corbyn in der Opposition ausgesetzt ist, ist nur ein schwacher Abglanz dessen, wie sie versuchen würden, eine von Jeremy Corbyn geführte Regierung zu Fall zu bringen. Um dies zu verhindern, sind weitreichende sozialistische Maßnahmen erforderlich, darunter die Verstaatlichung der rund hundert großen Unternehmen und Banken, die die britische Wirtschaft dominieren, um einen demokratischen sozialistischen Plan umsetzen zu können. Dies würde es einer sozialistischen Regierung ermöglichen, die Wirtschaft unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innen planmäßig zu steuern – das wäre wirklich „for the many, not the few“ (für die Vielen, nicht für die Wenigen). Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um unsere Fähigkeit zu stärken, innerhalb einer neuen Partei für sozialistische Ideen zu kämpfen.
Wenn Du Dir vorstellst, dass eine solche Partei entsteht – wie könnte sie Großbritannien in den nächsten Jahren verändern?
Wenn organisierte Arbeiter*innen beginnen, eine eigene Partei aufzubauen, wird dies das Selbstbewusstsein und den Zusammenhalt der Arbeiter*innenklasse stärken. Das ist ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg, die kapitalistische Klasse herauszufordern.
Dazu gehört auch, dass wir uns Sabotageversuchen der Kapitalist*innenenklasse stellen müssen, die versuchen wird, die Entwicklung einer solchen Partei zu verhindern. Das wird ein Kampf sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei sein. Die Frage ist, wie wir uns darauf vorbereiten.
Diese entscheidenden Fragen werden unweigerlich in jeder Partei diskutiert werden, die ernsthaft für die Interessen der Arbeiter*innenklasse kämpfen will. Die Socialist Party wird sich an vorderster Front für das notwendige sozialistische Programm einsetzen.
