
Argumente gegen 12-Stunden-Tage und für Arbeitszeitverkürzung
Mit markigen Worten hat der neue Bundeskanzler Friedrich Merz die Lohnabhängigen in
Deutschland zu mehr Arbeit aufgefordert. „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden
wir den Wohlstand unseres Landes nicht erhalten können“, so verdiente sich der ehemalige Black-
Rock-Manager den Applaus der anwesenden Kapitalist*innen beim CDU-Wirtschaftsrat-Treffen. Mit der Abschaffung des 8-Stunden-Tags holt die neue schwarz-rote Regierung zum ersten großen Schlag gegen die Arbeiter*innenklasse aus. Sie zielt auf eine historische Errungenschaften, die hart
erkämpft werden musste. Gewerkschaften und Linke dürfen ihren Widerstand dagegen nicht auf
empörte Worte beschränken.
von Tom Hoffmann, Sol-Bundesleitung
In den letzten Jahren gerieten die Profite vieler großer Konzerne im Zuge der wirtschaftlichen Krise unter Druck. Um die Margen wieder zu erhöhen, muss im Kapitalismus immer die Arbeiter*innenklasse bluten: durch Druck auf Reallöhne, höhere Arbeitsdichte und längere Arbeitszeiten. Regierung und Unternehmerverbände wollen nun das Arbeitszeitgesetz liberalisieren. Sie streuen dabei der Bevölkerung Sand in die Augen, um diese Reform zu begründen und den Lohnabhängigen anzupreisen.
In Deutschland wird nicht zu wenig gearbeitet
Zum Beispiel wird behauptet, dass in Deutschland weniger gearbeitet wird als in anderen Ländern. Das sei auch ein wesentlicher Grund für die aktuellen wirtschaftlichen Probleme. Zuletzt schlug das unternehmernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) mit einer Studie Alarm: „Griechen arbeiten 135 Stunden im Jahr mehr als Deutsche“.
Nun sollte sich die Arbeiter*innenbewegung grundsätzlich nicht auf internationale Vergleiche einlassen, die einzig dazu dienen, die Abwärtsspirale bei Arbeitsbedingungen und Löhnen anzukurbeln. Dabei kann sie nur verlieren. Statt sich auf diese Standortlogik einzulassen, welche die Arbeitenden gegeneinander ausspielt, muss sie für bessere Arbeitsbedingungen international kämpfen und zusammenstehen.
Aber es stimmt auch einfach nicht, dass in Deutschland zu wenig gearbeitet wird. Das IW stützt sich auf Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zur durchschnittlichen Jahresarbeitszeit. Die OECD erklärt selbst, dass diese Daten aufgrund unterschiedlicher Berechnungsmethoden in den jeweiligen Ländern nicht in einem konkreten Jahr miteinander zu vergleichen sind.
Wesentlichere Faktoren zur Bewertung, ob in Deutschland weniger gearbeitet wird, sind:
– das Gesamtarbeitsvolumen (alle geleisteten Arbeitsstunden)
– die absolute Erwerbstätigkeit (die Zahl der real Beschäftigten)
Hier sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: Sowohl die Zahl der abhängig Beschäftigten als auch das Gesamtarbeitsvolumen sind auf Rekordniveau. Abhängig Beschäftigte haben 2023 54,59 Milliarden Stunden gearbeitet – das sind 2,39 Milliarden Arbeitsstunden mehr als 1991. Es werden zudem jedes Jahr hunderte Millionen Überstunden geleistet, mehr als die Hälfte davon unbezahlt. 2024 wurden 1,2 Milliarden Euro Überstunden geleistet: Das entspricht mehr als 750.000 Vollzeitstellen!
Dass es mehr Beschäftigte und ein größeres Arbeitsvolumen gibt, liegt vor allem daran, dass mehr Frauen in Erwerbsarbeit stehen. Zwischen 1991 und 2024 ist der Anteil berufstätiger Frauen um 17 Prozentpunkte auf 74 Prozent gestiegen. Fast die Hälfte arbeitet allerdings in Teilzeit – und das oft nicht gewollt, sondern weil Kindererziehung und Angehörigenpflege der Vollzeit im Weg stehen (was im Übrigen auch unbezahlte Arbeit ist, die in den offiziellen Statistiken nicht auftaucht).
Rechnerisch senkt der hohe Anteil von Teilzeitbeschäftigten die durchschnittliche Jahresarbeitszeit pro Kopf. Blickt man nur auf die durchschnittliche Jahresarbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten entspricht diese dem EU-Durchschnitt.
Arbeitszeitgesetz in Deutschland
Die Unternehmer*innenmonieren zudem, das bisherige Arbeitszeitgesetz sei zu unflexibel geworden. Sie berufen sich auch darauf, dass sich Beschäftigte mehr Spielraum wünschen, um ihre beruflichen und privaten Verpflichtungen vereinbaren zu können. Zum Beispiel, indem sie ihre Arbeitszeit an weniger Tagen abstottern als mit dem 8-Stunden-Tag möglich sei.
Der 8-Stunden-Tag wurde den Lohnabhängigen nicht geschenkt, sondern er wurde von Millionen Arbeiter*innen über Jahrzehnte erkämpft. Erst die Novemberrevolution 1918/1919, die den Kaiser stürzte und den Kapitalismus bedrohte, machte ihn zur Realität. Seither gilt er als gesetzliche Norm für die maximale Dauer eines Arbeitstages. Allerdings gab es seit 1919 Aufweichungen des 8-Stunden-Tags und beinhaltet das aktuelle Arbeitszeitgesetz bereits viele Ausnahmeregelungen.
Ohne Begründung ist zum Beispiel eine Arbeitszeit von bis zu 10 Stunden am Tag möglich, wenn innerhalb von sechs Monaten ein Ausgleich erfolgt. Darüber hinaus gibt es Tätigkeiten und Branchen, in denen Ausnahmen durch Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen oder behördliche Genehmigungen möglich wurden (zum Beispiel in der Kranken- und Altenpflege).
Bundesregierung und Kapital wollen den 8-Stunden-Tag abschaffen und nur noch eine wöchentliche Obergrenze von 48 Stundenzulassen, entsprechend der EU-Arbeitszeitrichtlinie. Diese sieht aber auch explizit Ausnahmemöglichkeiten vor. Bei Anwendung der Wochenarbeitszeitregelung aus der EU-Richtlinie und Beachtung der bisherigen Regelungen zu Ruhe- und Pausenzeiten sowie des halbjährlichen Ausgleichszeitraums in Deutschland wären laut Hans Böckler Stiftung in Zukunft bis zu 73,5-Stunden-Wochen möglich (12,25 Stunden à 6 Tage)!
„Flexibilität“ für wen?
Von Kapitalseite wird argumentiert, dass eine Abschaffung der täglichen Arbeitszeitgrenze auch Beschäftigten zu gute kommt. So könnten Arbeitszeiten individuell zwischen Chef und Beschäftigten ausgehandelt und allen Bedürfnissen (wie zum Beispiel nach mehr absolutem Lohn, Vereinbarkeit mit der Familie) entsprochen werden. Das mag manchen Beschäftigten sympathisch erscheinen, ist aber süßes Gift.
Bereits in den letzten Jahrzehnten gab es die Tendenz zu mehr sogenannter „Flexibilisierung“ in den Arbeitsverhältnissen. Das entsprach in erster Linie den Bedürfnissen der Kapitalist*innen, die entsprechend der schwankenden Auftragslage die Produktion hoch- und herunterfahren wollten. In der Industrie sollte im Zusammenspiel mit just-in-time-Lieferketten Kosten gespart werden. Eingeführt wurden „Arbeitszeitkorridore“ oder Möglichkeiten zur individuellen Arbeitszeitabsenkung (in der Regel ohne vollen Lohnausgleich), die den Beschäftigten teils auch als in ihrem Sinne verkauft wurden.
In der betrieblichen Praxis stehen sich Chefs und Beschäftigte aber nicht als gleichberechtigte Partner*innen gegenüber. Die Entscheidung, ob man kurzfristig länger oder kürzer arbeiten muss bzw. kann, obliegt in der Regel der Geschäftsleitung. Laut einer Umfrage der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aus dem Jahr 2023 kann die Hälfte der Beschäftigten heutzutage beeinflussen, wann sie den Arbeitstag beginnen und beenden. Die andere Hälfte kann es nicht.
Die konkreten Folgen unterscheiden sich sicher nach Branchen und Betriebsgrößen. In vielen größeren Betrieben gibt es Arbeitszeitkorridore oder -konten oder Mehrschichtmodelle aus Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen sowie Betriebsräte, die zumindest den Anspruch haben, deren Einhaltung zu kontrollieren. Wo es keine Tarifverträge und Betriebsräte gibt, ist Kontrolle sehr viel schwieriger und individualisiert.
Mehr als die Hälfte der Beschäftigten arbeitet nicht zu Tarifbedingungen. Mehr als die Hälfte wird nicht von Betriebsräten im Betrieb vertreten. Wo es keine Kontrolle gibt, kann von gesetzlichen Regelungen und Arbeitsverträgen in der Praxis abgewichen werden. Selbst die Rechte, die einem im Kapitalismus formal zu stehen, muss man sich erkämpfen, was alles andere als leicht ist angesichts der ökonomischen Abhängigkeit vom Arbeitsplatz.
Die Abschaffung des 8-Stunden-Tagswürde für Millionen Beschäftigte unmittelbar den Druck erhöhen, der Geschäftsführung flexibler zur Verfügung zu stehen und ihr Recht auf Freizeit beschneiden. In vielen Berufen, zum Beispiel im sozialen Bereich, kann eine solche Regelung den ohnehin bestehenden Druck verstärken, den existierenden und wachsenden Personalmangel durch Mehrarbeit aufzufangen.
In Branchen, wo Niedriglöhner*innen oder Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus arbeiten, ist das Abhängigkeitsverhältnis ohnehin gesteigert und wird die neue Regelung zu mehr Ausbeutung führen. Eine Aufhebung der Tageshöchstarbeitszeit wird in der Praxis dazu führen, dass es für viele Kolleg*innen schwieriger wird, Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz überhaupt zu erkennen, geschweige denn zur Ahndung zu bringen.
Mehr Flexibilität für das Unternehmen, das heißt mehr unplanbare Arbeitszeiten und längere Arbeitstage. Das neue Gesetz kommt den meisten Beschäftigten und ihren Familien nicht entgegen. Frauen dürften dadurch vom Zugang zu Arbeit wieder mehr eingeschränkt werden, da Frauen weiterhin den größeren Teil von Kinderbetreuung und Angehörigenpflege übernehmen.
8-Stunden-Tag verteidigen, 30-Stunden-Woche erkämpfen
„8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Schlafen, 8 Stunden Leben“ war ein Schlachtruf der Arbeiter*innenbewegung seit dem frühen 19. Jahrhunderts! Seitdem ist die Produktivität der Arbeit gewachsen, weswegen die Arbeiter*innenbewegung für Arbeitszeitverkürzungen kämpfte, damit sie ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum nicht einbüßte.
Auch heute gibt es gute Gründe, die Grenze von 8 Stunden pro Tag als Maximum zu verteidigen. Verschiedene Studien weisen die gesundheitsschädigende Wirkung langer Arbeitszeiten nach. Unmittelbar steigt das Unfallrisiko ab der 8. Arbeitsstunde exponentiell an. Arbeitszeiten über 10 Stunden täglich sind hoch riskant. Ab 12 Stunden verdoppelt sich die Unfallrate bei der Arbeit oder auf dem Heimweg. Auf längere Sicht befördern lange Arbeitszeiten stressbedingte und psychische Erkrankungen, sowie körperliche Leiden (Schlaganfälle, Diabetes und erhöhtes Krebsrisiko).
Anhand der Bereiche, wo durch Personalmangel bereits jetzt lange und ungünstige Arbeitszeiten gang und gäbe sind, zeigt sich die Gesundheitsgefährdung besonders krass. Beispiel: Kranken- und Altenpflege. Die Krankheitstage pro Jahr pro Beschäftigtem liegen hier mit 37 mehr als zwei Wochen über dem Durchschnitt. Nur jede Fünfte glaubt, den Job bis zur Rente durchhalten zu können.
Seit Normalisierung der 40-Stunden-Woche Mitte der 1970er-Jahre ist die Arbeitsproduktivität deutlich gestiegen. Dass sie seit Mitte der 2000er stagniert, hat seine Wurzel in der strukturellen Krise des Kapitalismus, der die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes nicht weiter entwickeln kann. Merz, Klingbeil und Co. wollen diese Krise auf dem Rücken der Lohnabhängigen abwälzen, was Merz’ Kommentare zu 4-Tage-Woche und Work-Life-Balance verdeutlichen.
Leider ist bisher nicht abzusehen, dass die Gewerkschaftsführungen diesem Angriff den nötigen erbitterten Widerstand entgegensetzen. Zwar hat der DGB eine Kampagne unter dem Namen „Mit Macht für die 8“ gestartet. Allerdings wird in dieser bislang nur dazu aufgerufen, andere Kolleg*innen über die Risiken der wöchentlichen Höchstarbeitszeit zu informieren und für eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft zu werben. Anzeichen für konsequente Gegenwehr in den Betrieben und auf der Straße gibt es nicht.Auch der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke hat eine Kampagne für das zweite Halbjahr ankündigt. Eine wirkliche Gegenwehr kann sich nicht auf Lobbyarbeit und vereinzelte Protestaktionen beschränken, sondern müsste die Masse der Beschäftigen in den Betrieben und auf der Straße mobilisieren. Dafür müssen sich aktive und kritische Kolleg*innen in ver.di einsetzen. Das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di hat in einer Musterresolution an den ver.di-Bundesvorstand konkrete Vorschläge für solch eine Kampagne aufgeführt.
Dass solcher Druck von unten nötig sein wird, zeigt sich darin, dass in der Praxis von Seiten der Gewerkschaftsführungen kein ernsthafter Kampf gegen zu lange Arbeitszeiten geführt wird: Ver.di hat bei Bund und Kommunen einer „freiwilligen“ Arbeitszeitverlängerungsoption zugestimmt, obwohl viele Kolleg*innen für eine Arbeitszeitverkürzung streiken wollten. Dass die IG-Metall von der Forderung nach einer 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich nun sogar öffentlich abrückt, ist ein Kotau vor dem Kapital und eine Einladung für noch mehr Angriffe.
In den letzten Jahren hat sich leider auch die Praxis eingeschlichen, Tarifverträge zu akzeptieren, die Beschäftigte vor die individuelle Wahl zwischen Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhungen stellt. Das läuft aber darauf hinaus, Belegschaften zu spalten und den Umgang mit den systemgemachten Problemen (Inflation, Krise bei Kitabetreuung und Pflege, psychische und körperliche Belastung etc.) zu individualisieren.
Nötig wäre stattdessen eine systematische Kampagne zur Verteidigung des 8-Stunden-Tags als Tageshöchstgrenze und für drastische Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich.Beides, ein voller Lohn- und Personalausgleich, ist möglich auf Kosten der horrenden Profite und Rücklagen der großen Banken und Konzerne und durch Besteuerung der Vermögen der Super-Reichen. Beides ist nötig, damit Arbeitszeitverkürzung nicht auf Kosten der Beschäftigten geht und sie diese selbst finanzieren – durch geringere Löhne oder die gleiche Leistung in weniger Zeit. Die Sol kämpft für die Einführung einer 30-Stunden-Woche sowie für weitergehende, sozialistische Maßnahmen, um die Wirtschaft und die öffentlichen Dienste im Sinne der arbeitenden Mehrheit demokratisch umzubauen. Das ist keine Utopie, sondern möglich:
Durch Ausbildungsoffensiven, eine Aufwertung vieler Berufe bei Löhnen und Arbeitsbedingungen und massive öffentliche Investitionen in Kinderbetreuung, Pflege, Gesundheit und vieles mehr – finanziert durch die Super-Reichen! Durch einen demokratischen Umbau der Wirtschaft auf Basis von öffentlichem Eigentum an den großen Banken und Konzernen! Dann könnte geplant produziert werden, was wirklich gebraucht wird und auch in welcher Menge.Die gesellschaftlich nötige Arbeit könnte auf alle verteilt werden, um Arbeitshetze und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.Beschäftigte in Industrien, die gesellschaftlich gar nicht (u.a. Waffen, Werbung) oder nicht im aktuellen Umfang (u.a. Automobile) sinnvoll sind, würden kostenlose Umschulungen und Ersatzarbeitsplätze zu mindestens gleichen Bedingungen garantiert werden.
Solch ein Programm sollte auch Die Linke vorschlagen und Proteste gegen die Pläne von Merz und Klingbeil mitorganisieren, um deutlich zu machen, wie eine sozialistische Alternative im Sinne der Beschäftigen aussehen könnte.