Massenproteste gegen Macron und seine Politik

Französ*innen, die „französisch lernen“?

Jahrzehntelang waren „Kämpfen wie in Frankreich“ oder „Französisch lernen“ Parolen linker Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen in Deutschland, die gewerkschaftliche und soziale Kämpfe auch bei uns forderten. Die letzten zwei Jahre hätte man befürchten können, dass die Französ*innen es selbst verlernt haben. Der 10. und 18. September haben gezeigt, dass dies nicht der Fall ist.

von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart

Die Regierung Bayrou hatte massive Kürzungen angekündigt, 44 Milliarden Euro aus dem Haushalt, die Streichung von zwei Feiertagen: also angesichts von Massenarbeitslosigkeit noch länger arbeiten, statt dass die Arbeit auf alle verteilt wird. Ein Großteil der deutschen Medien stellt den Sozialkahlschlag als alternativlos dar. Sie verweisen auf die dritthöchste Staatsverschuldung in der Eurozone (im ersten Quartal 2025 114,1 Prozent des BIP), nur Griechenland (152,5 Prozent) und Italien (137,9 Prozent) stehen schlechter da.

An den Märkten kursiert die Angst vor einer neuen Schuldenkrise, ähnlich der Krise mehrerer südeuropäischer Länder ab 2010, als die Staatsverschuldung durch die Rettung kapitalistischer Banken und Konzerne in der Finanzkrise 2007-2009 explodierte. Im September stiegen die Zinsen für französische Staatsanleihen teils auf die höchsten Werte seit 16 Jahren. 

Proteste

Die französischen Arbeiter*innen, die seit Jahrzehnten unter immer neuen staatlichen Kürzungsrunden und Angriffen leiden, ließen sich dadurch nicht einschüchtern. Die Mobilisierung für den 10. September begann rund um eine Petition auf Social Media und hatte zunächst einige Parallelen zu den Gelbwesten-Protesten von 2018 und 2019 gegen höhere Steuern. Die Palette der Forderungen wurde schnell erweitert und der Protest verknüpfte sich mit dem Protest gegen das Duplomb-Gesetz, das im Interesse der Agrarkonzerne Pestizideinsatz legalisiert, und gegen den Genozid in Gaza. La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) spielte eine wichtige Rolle, verschiedene Gewerkschaften unterstützten die Proteste.

Die Bayrou-Regierung trat die Flucht nach vorn an und stellte am 8. September die Vertrauensfrage im Parlament, die sie wie erwartet krachend verlor. Das konnte der Bewegung keineswegs den Wind aus den Segeln nehmen. Die Proteste am 10. September mit zahlreichen Straßenblockaden in Gelbwesten-Tradition waren eine Aufwärmübung von Massenstreiks von knapp einer Million Beschäftigter am 18. September.

Der neue Ministerpräsident Lecornu hat der Bewegung kleine Zugeständnisse gemacht, aber diese Proteste reichten nicht aus, eine grundlegende Kehrtwende zu erzwingen. Gauche Révolutionnaire (GR, CWI in Frankreich) hatte daher von vornherein für einen dreitägigen Streik von 18. bis 20 September als nächsten Schritt plädiert. Nach dem Streik schrieben GR:

„Was man jetzt braucht, ist ein massiver und entschlossener Streik.”

Die Gewerkschaftsleitungen wollten sich mit diesem Ultimatum, das angesichts der Unklarheit der Drohung nicht wirklich eines ist, offensiv zeigen: Lecornu hätte bis zum 24. September Zeit, um die Grundzüge eines Haushaltsplans vorzulegen, der den Erwartungen entspricht, sonst würden die Gewerkschaften zur Fortsetzung des Streiks aufrufen.

In Wirklichkeit erwarten die mobilisierten Arbeiter*innen und Jugendlichen nichts von Lecornu; sie wollen, dass er geht! Und Macron mit! Damit wir alles zurückbekommen, was sie uns seit 25 Jahren stehlen, und endlich eine Politik sehen, die unserer Gesellschaftsklasse dient. Die Erklärung von Binet [Generalsekretärin der Gewerkschaft CGT], die sagte, dass ,die Straße den Haushalt schreiben muss’, ist ein guter Ansatzpunkt, um weiterzumachen. Na dann los! Wenn wir das möglich machen wollen, müssen wir eine Bewegung aufbauen, die es den Arbeiter*innen ermöglicht, zu entscheiden.

Es ist sicher, dass Macron jetzt nicht nachgeben wird. Die Erklärungen der Gewerkschaftsführungen müssen genutzt werden, um den Kampf an den Arbeitsplätzen, in den Bildungseinrichtungen und auf der Straße weiter auszubauen.“

Hintergrund und Lehren

Der Hintergrund der staatlichen Kürzungspolitik sind die kapitalistischen Wirtschaftsprobleme, die in Europa noch schärfer sind als Beispielsweise in den USA oder China. Trumps Zollpolitik bedeutet eine weitere Zuspitzung. Die Schuldenkrise ab 2010 hatte die EU in eine tiefe Krise gestürzt. Damals kursierte der böse Satz: Das Beste an den Griech*innen ist, dass es so wenige von ihnen gibt. In der nächsten Phase könnte sich eine neue Runde der europäischen Schuldenkrise entwickeln, aber mit Ländern wie Frankreich und Italien, mit einer viel größeren Bevölkerung und einem viel größeren wirtschaftlichen Gewicht und noch viel größeren Auswirkungen.

So oder so droht Merz „Reformen“ an, die in die gleiche Richtung gehen wie die von Macron, Bayrou und Lecornu. Es ist kein Wunder, wenn deutsche bürgerliche Medien die Proteste verunglimpfen und die Kürzungen als alternativlos darstellen. Sie haben Angst, dass die arbeitenden Menschen in Deutschland sich von der Bewegung in Frankreich ermutigen und inspirieren lassen. Umso mehr haben wir Grund, genau das zu tun.

In Frankreich flossen die Proteste gegen das Duplomb-Gesetz und zu Gaza mit den sozialen Protesten, Blockaden und Streiks zusammen, ebenso wie im letzten Sommer die Gaza-Solidaritätsbewegung in die Massenbewegung gegen den drohenden Wahlerfolg des rechten Rassemblement Nationale hinein floss. Auch davon sollten wir lernen: Wirtschaftskrise, Sozialkahlschlag, Umweltkatastrophe, erstarkende rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte, rechter Kulturkampf, Aufrüstung und Krieg sind alle Aspekte der multiplen Krise des Kapitalismus, die wir am wirksamsten bekämpfen, wenn wir sie im Zusammenhang sehen und bekämpfen.