
Der Kampf für das vollständige Ende des Vernichtungskrieges und den Sturz der Netanjahu Regierung
Es gibt keine Lösung ohne den Kampf für einen grundlegenden, sozialistischen Wandel, einschließlich der Beendigung der Besatzung, des Wiederaufbaus und der sozialen Gerechtigkeit.
Im Folgenden veröffentlichen wir einen Gastartikel von Shahar Ben-Horin, Socialist Struggle Movement (Israel-Palestine), der zuerst unter https://socialiststruggle.org/ veröffentlicht wurde sowie anschließend auf englisch unter https://www.socialistworld.net/2025/10/13/gaza-ceasefire-struggle-for-the-complete-end-of-the-war-of-extermination-and-the-overthrow-of-the-netanyahu-government/
Mehr als ein halbes Jahr, nachdem Netanjahus ultrarechte Regierung den vorherigen Waffenstillstand gebrochen hatte, trat am Freitag, dem 10. Oktober, ein neuer Waffenstillstand in Kraft. Dies löste eine Welle der Erleichterung und vorsichtigen Hoffnung aus, dass der zwei Jahre andauernde Vernichtungskrieg nun vielleicht bald zu Ende sein könnte, begleitet von einer Vereinbarung über die Freilassung von Geiseln und Gefangenen. Zehntausende überlebende Bewohner*innen Gazas begannen mit Freudenschreien von den provisorischen Vertriebenenlagern im Süden aus nach Norden zu marschieren.
Das Socialist Struggle Movement solidarisiert sich mit der palästinensischen Gemeinschaft, die in dem Gazastreifen ein Inferno von Verbrechen gegen die Menschlichkeit erdulden musste, mit Familien aus allen Gemeinschaften, die sehnsüchtig auf die Rückkehr ihrer Angehörigen warten, und mit den Massen, die weltweit dafür gekämpft haben, die Kriegsmaschinerie zu stoppen. Der Kampf ist noch nicht vorbei.
Die israelische Regierung hat endlich das am frühen Donnerstagmorgen in Sharm el-Sheikh unterzeichnete Abkommen über „Phase A” des aktuellen Waffenstillstandsabkommens – zur Freilassung von Geiseln und Gefangenen und zur Beendigung des Vernichtungskrieges – genehmigt, trotz des Widerstands von rechtsextremen Minister*innen der beiden Parteien Religious Zionism und Otzma Yehudit, die keine Störung des von der Regierung mit Trumps Unterstützung vorangetriebenen Plans zur ethnischen Säuberung des Gazastreifens wollen, da sie eine erneute Kolonisierung des Gazastreifens anstreben.
Zwischen der Bekanntgabe des Abkommens und seiner Umsetzung gingen die Bombardierungen weiter. Das Gesundheitsministerium in Gaza meldete 17 weitere Todesfälle, wodurch die offizielle, konservative Zahl der Todesopfer auf über 67.000 stieg.
Wird der Waffenstillstand halten?
Der vorherige Waffenstillstand brach innerhalb von zwei Monaten zusammen, als die Besatzungsregierung sich weigerte, mit „Phase B“ fortzufahren. Die Trump-Regierung bietet nun „Garantien“, dass dieser Waffenstillstand zu einem Ende des Krieges führen wird, was Trump typischerweise als Fortschritt in Richtung „regionaler Frieden“ und „Ende einer 3.000-jährigen Katastrophe“ lobt. Es wird erwartet, dass er während seiner bevorstehenden zeremoniellen Besuche in Jerusalem und anschließend in Sharm el-Sheikh am Montag Botschaften in diesem Sinne überbringen wird. Gleichzeitig droht dieselbe Regierung mit der Unterstützung einer erneuten israelischen Offensive in Gaza, sollte die Hamas angeblich gegen die Bedingungen des Rahmenabkommens verstoßen.
Gemäß dem Rahmenabkommen sollen innerhalb von drei Tagen nach Beginn des Waffenstillstands am Freitag um 12:00 Uhr mittags lebende Geiseln und die Leichen von Israelis und anderen Personen, die von Milizen in Gaza festgehalten werden, freigelassen werden. Gleichzeitig sollen rund 2.000 palästinensische Gefangene aus den Gefängnissen und Internierungslagern des Besatzungsregimes freigelassen werden. Darunter sind etwa 1.700 Zivilist*innen, die nach dem 7. Oktober 2023 aus Gaza entführt wurden und die, wie das israelische Regime zugibt, nicht an dem Überraschungsangriff der Hamas beteiligt waren. Darüber hinaus sollen etwa 200 der 270 palästinensischen Lebenslänglichen, die als „Sicherheitshäftlinge” eingestuft sind, freigelassen werden. Netanjahu hat jedoch erklärt, dass prominente palästinensische Führungspersonen wie Marwan Barghouti – der derzeit beliebteste palästinensische Führer – nicht freigelassen werden.
Im Einklang mit dem Rahmenabkommen haben sich die israelischen Besatzungstruppen auf die „Gelbe Linie“ zurückgezogen – die Einsatzlinie vom 14. August, dem Tag des Angriffs auf Gaza-Stadt. Die Besatzungstruppen kontrollieren weiterhin direkt über 50 Prozent des Gazastreifens und werden ihre Belagerungspolitik fortsetzen. Der Grenzübergang Rafah nach Ägypten wird teilweise wieder geöffnet, allerdings ist noch unklar, wann und unter welchen Bedingungen Bewohner*innen, die den Gazastreifen verlassen haben (oder verlassen werden), zurückkehren dürfen.
Es wird erwartet, dass der Waffenstillstand den Zustrom von „Hilfsgütern“ in Form von lebensnotwendigen Gütern und Grundausstattung, einschließlich Materialien für den Wiederaufbau der Infrastruktur, erhöhen wird. Allerdings kann das israelische Militär die Lieferung von Hilfsgütern leicht behindern, insbesondere in den weiten Gebieten, die unter seiner direkten Kontrolle stehen.
Zu einem noch nicht festgelegten Zeitpunkt soll sich die israelische Armee auf die „Rote Linie” zurückziehen. Dies ist an die Bedingung geknüpft, dass die Hamas-Regierung durch eine „technokratische” Regierung unter der direkten Kontrolle Trumps ersetzt wird – eine „vorübergehende” Kolonialverwaltung, die von einer „Internationalen Stabilisierungstruppe” (ISF) unterstützt wird, einer Polizei- und Besatzungstruppe unter der Leitung des US-Imperialismus und regionaler Regime. Ein weiterer Rückzug hängt angeblich von der „Entmilitarisierung des Gazastreifens“ ab, wobei ein vollständiger Rückzug nach einer unbestimmten Anzahl von Jahren erwartet wird. Die Hamas-Führung hat bereits klargestellt, dass ihre Bewegung nicht entwaffnen wird.
Dieser Waffenstillstand fußt auf sehr instabilem Boden, was zu großer Unsicherheit hinsichtlich der kommenden Monate führt. Ähnlich wie bei den relativen Waffenstillstandsbedingungen in Libanon, zu denen auch routinemäßige „geringintensive“ israelische Militärschläge gehören – selbst in den letzten Tagen –, werden die in Gaza verbleibenden Besatzungstruppen sowohl durch ihre Präsenz als auch durch potenzielle Verstöße und gezielte Angriffe, die von der israelischen Regierung und dem Militärkommando als sinnvoll erachtet werden, weiterhin ein gewisses Maß an militärischer Aggression ausüben. Es besteht die konkrete Möglichkeit von Zusammenbruchsszenarien sowie, wie beim vorherigen Waffenstillstand, einer militärischen Eskalation in anderen Bereichen – einschließlich eines Angriffs auf den Iran, der einen weiteren Kriegszyklus auslösen könnte. Die Houthi-Regierung in Sanaa droht ebenfalls mit der Wiederaufnahme von Raketenangriffen auf Israel als Reaktion auf die Angriffe im Libanon.
Die Regierung Netanjahu sah sich aufgrund des zunehmenden Drucks aus Washington, der wiederum den verstärkten Druck arabischer und muslimischer Regime in der Region sowie von Regierungen innerhalb des westlichen imperialistischen Blocks widerspiegelte, gezwungen, bei „Phase A” des Rahmenabkommens zu kooperieren. Die arrogante Bombardierung der Hauptstadt Katars, eines Verbündeten der USA, durch Israel am 9. September veranlasste die USA zu einer beispiellosen Erklärung, Katar zu verteidigen, und löste wahrscheinlich den neuen Versuch einer stabilisierenden Ausstiegsstrategie aus der Gaza-Krise aus.
Die Massenproteste in Italien gegen den Genozid markierten eine neue Stufe der internationalen Intervention der Arbeiter*innenklasse und verdeutlichten das Radikalisierungspotenzial der anhaltenden historischen Krise, die das Massenbewusstsein weltweit erschüttert hat. Die Massenbewegungen sind zwar noch nicht ausreichend entwickelt, um die Kriegsmaschinerie direkt zum Stillstand zu bringen, aber sie sind zweifellos ein wichtiger Hintergrundfaktor in dieser Dynamik. Dazu gehört auch die höchst widersprüchliche Protestbewegung innerhalb der israelischen Gesellschaft, wo die dominierenden Kräfte sich an das Establishment angepasst haben und erst spät eine klare Forderung nach Beendigung des Krieges erhoben haben, aber dennoch objektiv Druck ausübten, der die Regierung Netanjahu etwas einschränkte – wenn auch in viel zu begrenztem Maße.
Die westlichen Regierungen wurden dazu gedrängt, Lippenbekenntnisse zur Anerkennung eines palästinensischen Staates abzugeben – entgegen den Forderungen der US- und der israelischen Regierung – und unternahmen sogar begrenzte Schritte in Richtung Waffenembargos, darunter auch Deutschland, Israels zweitgrößter Waffenlieferant, aufgrund der Sorge um die destabilisierenden Folgen der anhaltenden Krise und in dem Versuch, sich von der Verantwortung für die Schrecken der ethnischen Säuberungen und des Völkermords in Gaza zu distanzieren.
Als Reaktion darauf bot Netanjahu Israel die Vision eines „Super-Sparta“ an – eine Vertiefung der Unterwerfung der israelischen Gesellschaft unter die Bedürfnisse der Besatzungsmaschinerie, einschließlich weiterer Sparmaßnahmen, ungeachtet der internationalen Isolation. Diese Vision ist unter Israelis unbeliebt und beunruhigt sogar israelische Kapitalist*innen, die von Exporten, Technologie und ausländischen Investitionen abhängig sind und derzeit einen Waffenstillstand bevorzugen. Gleichzeitig warten die herrschenden Klassen im Westen und in der Region auf eine Gelegenheit, zu einem Zustand zurückzukehren, der ein „Weiter wie bisher“ mit dem israelischen Kapitalismus ermöglicht, und es gibt bereits Berichte, dass das deutsche Waffenembargo nach der Ankündigung des Waffenstillstands aufgehoben werden soll.
Doch selbst wenn die Freilassung aller lebenden Geiseln und einer Gruppe palästinensischer Gefangener abgeschlossen ist, besteht weiterhin die klare Gefahr, dass die Regierung Netanjahu unter dem Deckmantel der Sicherheitsdemagogie nach einer Möglichkeit suchen wird, das Abkommen zu Fall zu bringen. Selbst nach zwei Jahren, in denen viel Blut vergossen wurde, fehlt es ihr an einem „Siegesbild“ – es ist ihr nicht gelungen, eine Massenumsiedlung aus dem Gazastreifen zu erreichen und damit das palästinensische Volk in Gaza auszulöschen, und sie hat die Hamas nicht entscheidend zerschlagen, trotz einer Verschiebung des regionalen Machtgleichgewichts mit einer deutlichen Schwächung der von Teheran angeführten „Achse des Widerstands“. In wenigen Monaten stehen Wahlen zur Knesset [dem israelischen Parlament] an, und es besteht ein erhebliches Potenzial für eine massive Strafwahl gegen sie.
In einem Szenario, in dem der Waffenstillstand in Gaza zusammenbricht, würde sowohl von weiten Teilen der israelischen Gesellschaft als auch von Washington Gegenwehr kommen, aber der Druck müsste sehr groß sein, um Versuche zur Wiederaufnahme des Plans zur ethnischen Säuberung des Gazastreifens zu verhindern. Die Tatsache, dass die rechtsextremen Parteien von Ben Gvir und Smotrich noch nicht beschlossen haben, Netanjahus Koalition zu verlassen, deutet darauf hin, dass sie weiterhin auf einen Zusammenbruch des Waffenstillstands oder grünes Licht für verstärkte Aggressionen in anderen Bereichen setzen.
Der Kampf ist noch nicht vorbei
Die konzentrierten Bestrebungen der Regierung Netanjahu, die Existenz des palästinensischen Volkes auszulöschen – derzeit vor allem durch die Fortsetzung der Nakba [die Ermordung und Vertreibung von Palästinenser*innen im Zusammenhang mit der Gründung des Staates Israel 1948] durch weitere Massenvertreibungen aus den Gebieten des historischen Palästinas –, werden nicht verschwinden. Insbesondere das Westjordanland, das während des letzten Waffenstillstands zu einem Brennpunkt für eine Eskalation der Zerstörung, der Morde und der Massenvertreibungen in einem seit 1967 nicht mehr gesehenen Ausmaß wurde, bleibt im Fadenkreuz der Regierung Netanjahu, die das koloniale Siedlungsunternehmen vertiefen und Annexionsmaßnahmen vorantreiben will.
Netanjahu hat nicht einmal Lippenbekenntnisse zur hypothetischen Anerkennung eines palästinensischen Staates abgegeben, und Trumps Rahmenplan wird nicht zur Umsetzung von „Punkt 19“ führen, der nahelegt, dass zu einem unbekannten Zeitpunkt in der Zukunft die Bedingungen für die Verwirklichung des nationalen Strebens des palästinensischen Volkes nach einem eigenen Staat reif sein könnten. Trumps Rahmenplan soll nicht den Weg für eine Lösung ebnen, die auf Freiheit und Gleichheit für das palästinensische Volk und alle Völker der Region basiert, sondern vielmehr die Normalisierung der Besatzung im Dienste des US-amerikanischen, arabischen und israelischen Kapitals vorantreiben. Ein solcher Plan wird unweigerlich zu weiterem Blutvergießen und einer noch extremeren Verschlechterung der Lage führen.
Im August lehnte die Regierung – teilweise beeinflusst durch die Weigerung der Führung der Gewerkschaftsföderation Histadrut unter Arnon Bar-David, den Aufrufen zu einem Generalstreik zur „Stilllegung des Staates” Folge zu leisten – offen einen Waffenstillstandsvorschlag ab, dem die Hamas-Führung zugestimmt hatte, obwohl Hunderttausende auf die Straße gegangen waren. Das strategische Versagen der dominierenden organisatorischen Kräfte in der israelischen Protestbewegung, verbunden mit einer etablierten, prokapitalistischen Haltung und nationalistischem Chauvinismus, führte zu einer verzerrten Kampagne, die gefährliche Illusionen in Trump schürte, als sei er die entscheidende Kraft, um die Kriegskrise zu beenden.
Das „Forum für Geiseln und vermisste Familien“, das nicht die Linie der militanteren Familien vertrat, sondern eher eine konservative rechte, gehörte sogar zu den Stimmen, die forderten, Trump den Friedensnobelpreis zu verleihen. Während das „Forum“ zusammen mit Bar-David und anderen prokapitalistischen Kräften durchweg widersprüchliche Botschaften in Bezug auf die Regierung und den Krieg gegen Gaza verbreitete, spielte es der Regierung in die Hände und schwächte den Druck der Massenproteste ab. Anstatt eine Perspektive für die Intensivierung des Kampfes und die „Stilllegung des Staates“ im Geiste der italienischen Arbeiter*innenklasse zu entwickeln, die zum Sieg über die Regierung durch die Erzwingung eines Endes der Militäraktion führen würde, verbreiteten diese Kräfte die gefährliche Idee, dass nur die Gnade des rechtspopulistischen Kaisers aus Washington die Krise lösen könne. Aufgrund der politischen Hoffnungslosigkeit fand diese Vorstellung bei Teilen der israelischen Protestbewegung Anklang.
Derselbe Trump, dessen früherer Plan die Massenvertreibung der Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen vorsah – eine „zweite Nakba“ –, hat in den letzten Monaten der Regierung Netanjahu Rückenwind gegeben, unter anderem für die Eskalation des Angriffs auf den Gazastreifen, und trägt Mitverantwortung für die Massenmorde an Palästinenser*innen sowie für den Tod von Geiseln. Sein aktueller Plan ist kein Friedensplan.
Jetzt ist es an der Zeit, den gemeinschaftsübergreifenden Kampf für die vollständige Beendigung des Vernichtungskrieges in Gaza und im Westjordanland und der damit einhergehenden imperialistischen Aggression in der Region fortzusetzen und für massive Investitionen in den Wiederaufbau der Infrastruktur und der Gemeinden in Gaza und darüber hinaus – auf Kosten der israelischen und anderen Kapitalist*innen, die den Krieg unterstützt haben. In diesem Zusammenhang sind weitere Demonstrationen und Streiks sowohl auf lokaler als auch auf internationaler Ebene erforderlich – ebenso wie verstärkte organisierte Verweigerungsaktionen unter Israelis [d. h. die Weigerung, sich an militärischen Aggressionen zu beteiligen]. Aber es besteht auch die Notwendigkeit, für eine Alternative zu kämpfen.
Netanjahus Todesregierung bleibt heute die gefährlichste Kraft in der Region, und es ist dringend notwendig, für ihren Sturz zu kämpfen. Aber auch, um eine Alternative zu den politischen Parteien der Besatzung und der Herrschaft des Kapitals aufzuzeigen. Ohne eine grundlegende, sozialistische Lösung, die die Beendigung der Besatzung und die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit, persönlicher Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit für die Palästinenser*innen sowie für die Israelis und alle Völker der Region beinhaltet, ist der Weg für noch katastrophalere Blutvergießen geebnet.
Ja zur Beendigung des Vernichtungskrieges. Nein zu den Plänen von Trump und Netanjahu. Stürzt die Todesregierung. Es gibt keine Lösung ohne einen Kampf für die Beendigung der Besatzung und für soziale Gerechtigkeit.