Walter Rodney und die Permanente Revolution

Vorwort zu “Wie Europa Afrika unterentwickelte”

Im Folgenden veröffentlichen wir ein Vorwort von René Arnsburg zur deutschen Neuübersetzung von Walter Rodneys Werk “Wie Europa Afrika entwickelte”, das 2023 im Manifest Verlag erschien. Dieses Vorwort, das sich mit der Theorie der Permanenten Revolution bei Rodney beschäftigt, ist eines von drei Vorworten. Die beiden weiteren Vorworte, von Bafta Sarbo und Pelad Adewale veröffentlichen wir ebenso in den kommenden Wochen unter solidaritaet.info. Das Buch gesamte Buch kann bestellt werden unter: https://manifest-buecher.de/produkt/wie-europa-afrika-unterentwickelte/

Was ist die Permanente Revolution?

Außerhalb des engen Kreises der Menschen, die sich etwas intensiver mit der Frage der Revolution in unterentwickelten Ländern[1] und dem Kampf für Sozialismus beschäftigt haben, dürften nur vage bis keine Vorstellungen darüber existieren, was hinter dem Begriff “Permanente Revolution” steckt. Durch den Kampf der Fraktion um Josef Stalin gegen die Kritik der linken Opposition in der Sowjetunion ab Mitte der 1920er Jahre wurden viele Vorwürfe und falsche Vorstellungen über die “Permanente Revolution” verbreitet, die bis heute vorhalten. Auch wurde dieser Begriff untrennbar mit Leo Trotzki und dem Trotzkismus insgesamt verbunden. In “Die Permanente Revolution” schrieb Trotzki:

“Die Frage der permanenten Revolution wurde nach einer längeren Pause scheinbar ganz unerwartet im Jahre 1924 wieder erhoben. Politische Gründe gab es dafür nicht: handelte es sich doch um Meinungsverschiedenheiten, die längst der Vergangenheit angehörten. Der psychologischen Gründe dagegen gab es viele. Die Gruppe der sogenannten ‘alten Bolschewiki’, die den Kampf gegen mich eröffnet hatte, stellte mir vor allem diesen ihren Titel entgegen. Ein großes Hindernis auf dem Wege dieser Gruppe war das Jahr 1917. So wichtig die vorangegangene Geschichte des geistigen Kampfes und der Vorbereitung in bezug auf die Partei als Ganzes wie auch in bezug auf einzelne Personen gewesen war, so hatte diese Periode ihre höchste und unwiderrufliche Nachprüfung in der Oktoberrevolution gefunden.”

Die Theorie der “Permanenten Revolution“ stellt “nach der Lehre der Epigonen[2] des Leninismus (Sinowjew[3], Stalin[4], Bucharin[5] usw.), die Erbsünde des ‘Trotzkismus’” dar.[6]

Eine bis heute weit verbreitete Annahme ist, dass die “Permanente Revolution” der vereinfachten Übersetzung der Worte nach bedeutet, dass man immer und überall die ganze Zeit lang Revolution “machen” könne. Damit wird die komplexe Frage der sozialistischen Revolution in den unterentwickelten Ländern in der Phase des Imperialismus, die mit der “Permanenten Revolution” behandelt wird, auf die Vorstellung reduziert, dass mit dem Begriff einfach nur die Taktik eines überall und immer möglichen Aufstandes gemeint wäre.

Dabei war der Ausgangspunkt der Überlegungen, die Trotzki, Parvus-Helphand[7] und andere in den Jahren 1904-1906 anstellten[8], die Frage, welchen Weg die Revolution in agrarischen, halbfeudalen oder feudalen Ländern einschlagen würde, welche Klasse sie anführen würde, wie das Proletariat und die Bäuer*innenschaft im Verhältnis zueinander stünden und nicht zuletzt, welchen Charakter die Revolution hätte – bürgerlich oder sozialistisch. In diesen Ländern ging es gerade um die unvollendeten Aufgaben der bürgerlichen Revolution[9], wie die Abschaffung des feudalen Großgrundbesitzes und die Aufteilung des Landes unter der von der Leibeigenschaft befreiten Bäuer*innen. Welche Klasse mit welchem Programm würde diese Aufgabe übernehmen, auf welche Widerstände würde sie dabei stoßen, wie weit würde das Proletariat (im Bündnis mit den Bäuer*innen) gehen müssen, würde es über die bürgerliche Revolution hinausgehen usw. Diese und andere Fragen spielten in der damaligen Debatte eine Rolle.

Ihnen lag die Erkenntnis zugrunde, dass die Bourgeoisie nicht mehr die revolutionäre Rolle, wie sie sie Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich beim Sturz der Monarchie spielte, einnehmen könne. Ausgehend von der konkreten Analyse der Entwicklung Russlands im Vergleich zu den entwickelten Nationen Westeuropas, legte Trotzki in “Ergebnisse und Perspektiven” 1905/6 dar, dass es in Russland keine einfache Wiederholung der Entwicklung im Westen geben kann. Er ging auf die Unterschiede der Revolutionen von 1789, 1848 und 1905 ein und kam zur Schlussfolgerung, dass das Bürgertum durch den entwickelten Klassengegensatz zwischen dem Kapital auf der einen und dem Proletariat und der armen Bäuer*innenschaft auf der anderen Seite, keine die ganze Nation einigende, also auch aller Ausgebeuteten und Unterdrückten, Stellung mehr einnehmen konnte. In einer revolutionären Bewegung gegen die feudalen Überreste würde sich unweigerlich dieser Klassengegensatz niederschlagen. Die Werktätigen würden die politische und soziale Macht des Bürgertums selbst angreifen.

Der Kapitalismus hatte sich auch in halbfeudalen Nationen wie dem Zarenreich durchgesetzt, aber in einer dem westlichen Kapital untergeordneten Stellung. Das so von mehreren Seiten bedrängte russische Bürgertum setzte daher auf den Ausgleich mit der Autokratie, wie das bereits zuvor 1848 in Deutschland passierte. Hier ging die deutsche Bourgeoisie ein Bündnis mit der Aristokratie und dem ostelbischen Landadel ein und brachte die Revolution zur Strecke. Aus Angst vor dem aufbegehrenden Proletariat suchte es das Bündnis mit den reaktionärsten Kräften.

Dieser, 1789 unvollständig entwickelte, später aber offen zutage tretende Klassenwiderspruch und Widerstand der Bourgeoisie gegen revolutionäre Veränderungen – selbst wenn um die Erfüllung der Aufgaben der bürgerlichen Revolution wie Zerschlagung des Großgrundbesitzes, Einigung der Nation, Schaffung einer bürgerlichen Republik, ging – stellte die Frage, ob im Kampf gegen die feudale Selbstherrschaft nicht bereits über den Rahmen der bürgerlichen Revolution hinaus gegangen werden musste.

Das bedeutete, eine andere Klasse als die Bourgeoisie musste die Führung und Einigung der Nation übernehmen, um eine Revolution durchzuführen. Das Bauerntum ist eine entscheidende Kraft während der Revolution. Auf Grund seiner Zerstreutheit, seiner Fesselung an den Boden, seinen sozialen Schichtungen vermag es jedoch kein einheitliches Programm, geschweige denn eine revolutionäre Partei herauszubilden. Die führende Rolle fällt dem Proletariat, obwohl damals in seiner Zahl deutlich kleiner, zu. Es besaß gerade in der städtischen Industrie eine größere Kohärenz in seiner sozialen Stellung als Arbeiter*innen ohne jegliches Eigentum und die Organisation in der (Groß)industrie. Denn obgleich Russland vom ausländischen Kapital abhängig, halbfeudal, halb kolonisiert war, existierte in den Städten eine wachsende Industrie auf dem modernsten europäischen Niveau. Das ist nach Trotzki Ausdruck des Gesetzes der kombinierten und ungleichen Entwicklung, wo Elemente vorhergehender Gesellschaften (wie dem Feudalismus) neben denen der neuesten Entwicklung bestehen. Ohne die Periode der kapitalistischen Manufaktur, der kleinen und mittleren Betriebe durchgemacht zu haben, begann die russische Industrie mit der Errichtung großer Fabriken, in denen zum Teil zehntausende Arbeiter*innen ihr tägliches Werk verrichteten.[10]

Diese nur kurze Beschreibung lässt schon erahnen, dass die Fragen, wie sie sich 1905 in der ersten Russischen Revolution und dann dort noch einmal zwölf Jahre später stellten, einen direkten Bezug zur kolonialen Revolution in Asien, Afrika, der Karibik usw. haben. Ein für diese Revolutionen lebenswichtiger Aspekt ist die Frage der Überwindung der eigenen Unterentwicklung, wie sie von der vorhergehenden Gesellschaft ererbt wurde. Dazu kommt die Unmöglichkeit, den Sozialismus auf nationalem Boden zu vollenden. Die feindliche Umringung kapitalistischer Nationen kann nur durch die Ausbreitung der Revolution international durchbrochen werden. Das ist ein zentraler Bestandteil der “Permanenten Revolution”

Rodney selbst kam in “Wie Europa Afrika unterentwickelte” in seinen eingehenden Betrachtungen zur Frage der Entwicklung und Unterentwicklung auf das Gesetz der kombinierten und ungleichen Entwicklung zu sprechen. Er stellte fest, dass “von größerer Bedeutung für die frühe afrikanische Entwicklung […] wahrscheinlich der Grundsatz [ist], dass die Entwicklung in den verschiedenen Gebieten der Welt immer ungleichmäßig verlaufen ist.”[11] Das gesamte vorliegende Buch ist eine Darstellung dessen, was dieses Gesetz in der Beziehung Afrika – Europa bedeutete, wo erstere Gesellschaften in einem Zustand vor-kapitalistischer Unterentwicklung gehalten wurden und doch untrennbarer Teil der und Voraussetzung für die entwickelte kapitalistische Welt waren.

Entwicklung hieß für ihn nicht die immer gleiche Abfolge bestimmter historischer Etappen:

“Die ungleichmäßige Entwicklung hat immer dafür gesorgt, dass Gesellschaften auf unterschiedlichen Ebenen miteinander in Berührung gekommen sind – zum Beispiel eine kommunalistische und eine kapitalistische Gesellschaft.

Wenn zwei Gesellschaften unterschiedlicher Art in längeren und effektiven Kontakt kommen, werden die Geschwindigkeit und der Charakter des Wandels, der in beiden Gesellschaften stattfindet, in einem Maße beeinflusst, dass völlig neue Muster entstehen. In solchen Fällen lassen sich zwei allgemeine Regeln beobachten. Erstens wird die schwächere der beiden Gesellschaften (d. h. diejenige mit der geringeren Wirtschaftskraft) zwangsläufig nachteilig beeinflusst – und je größer die Kluft zwischen den beiden betroffenen Gesellschaften ist, desto nachteiliger sind die Folgen. Als beispielsweise der europäische Kapitalismus mit den einheimischen Jagdgesellschaften Amerikas und der Karibik in Berührung kam, wurden letztere praktisch ausgerottet. Zweitens kann die schwächere Gesellschaft, sofern sie überlebt, ihre eigenständige Entwicklung nur dann fortsetzen, wenn sie sich auf ein höheres Niveau begibt als die Wirtschaft, die sie zuvor beherrscht hat. Konkrete Beispiele für das Funktionieren dieser zweiten Regel finden sich in den Erfahrungen der Sowjetunion, Chinas und Koreas.”[12]

Er sprach hier also vom Überspringen der (vor)feudalen Epoche und des Kapitalismus, der vormals die Kolonien dominiert hatte, ohne welches diese Nationen ihre eigentständige Entwicklung nicht fortsetzen konnten.

Trotzki hat die Theorie der Permanenten Revolution in seiner Einleitung zur gleichnamigen Broschüre in drei miteinander verbundenen Hauptelementen unterteilt:

  1. Das Hinüberwachsen der bürgerlichen Revolution in die sozialistische: Wie auch Rodney feststellte[13], war das ein Gedanke, den Marx und Engels bereits während und nach der Revolution 1848 äußerten und eine unbedingte Unabhängigkeit des Proletariats von bürgerlichen Kräften propagierten, um das zu ermöglichen.[14]
  2. Daraus folgt der permanente Charakter der Revolution, der nach der Machtergreifung des Proletariats (im Bündnis mit der Bäuer*innenschaft, wie sich herausstellte) nicht in immer erneuten sozialen oder politischen Revolutionen besteht, sondern in einer fortwährenden Umgestaltung der Gesellschaft hin zum kommunistischen Endziel.
  3. “Der internationale Charakter der sozialistischen Revolution, der den dritten Aspekt der Theorie der permanenten Revolution bildet, ergibt sich aus dem heutigen Zustande der Ökonomik und der sozialen Struktur der Menschheit. Der Internationalismus ist kein abstraktes Prinzip, sondern ein theoretisches und politisches Abbild des Charakters der Weltwirtschaft, der Weltentwicklung der Produktivkräfte und des Weltmaßstabes des Klassenkampfes. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden. Sie kann aber nicht auf diesem Boden vollendet werden. Die Aufrechterhaltung der proletarischen Revolution in nationalem Rahmen kann nur ein provisorischer Zustand sein, wenn auch, wie die Erfahrung der Sowjetunion zeigt, einer von langer Dauer. Bei einer isolierten proletarischen Diktatur wachsen die inneren und äußeren Widersprüche unvermeidlich zusammen mit den wachsenden Erfolgen. Isoliert bleibend, muß der proletarische Staat schließlich ein Opfer dieser Widersprüche werden. Der Ausweg besteht für ihn nur in dem Siege des Proletariats der fortgeschrittenen Länder. Von diesem Standpunkte aus gesehen, ist eine nationale Revolution kein in sich selbst verankertes Ganzes: sie ist nur ein Glied einer internationalen Kette. Die internationale Revolution stellt einen permanenten Prozeß dar, trotz aller zeitlichen Auf- und Abstiege.”[15]

Kommen wir kurz zum eingangs erwähnten Vorurteil zurück, dass sich hinter der Permanenten Revolution verberge, dass immer überall eine Revolution “gemacht” werden könne.

Trotzki beschrieb selbst, dass im Gegensatz dazu, dass einige historische Etappen in einer Revolution, wie die der bürgerlichen Demokratie in Russland, übersprungen werden, andere wiederum in Zeiten der Ruhe oder der Konterrevolution nicht übersprungen werden können.

“Jeder Versuch des Überspringens realer, d.h. objektiv bedingter Etappen in der Entwicklung der Massen, bedeutet politisches Abenteurertum. Solange die Arbeitermasse in ihrer Mehrheit den Sozialdemokraten vertraut, oder, sagen wir der Kuomintang[16] oder den Trade-Unionisten, können wir die Aufgabe der unmittelbaren Niederwerfung der bürgerlichen Macht nicht stellen. Die Masse muß darauf vorbereitet werden. Die Vorbereitung kann sich als eine sehr große ‘Stufe’ erweisen.”[17]

Die Erfahrung der Russischen Revolution 1905, im Februar und Oktober 1917, belegt die grundlegende Erkenntnis, die Trotzki hier formulierte:

“Die Möglichkeit des Erfolges in diesem Kampfe wird selbstverständlich in hohem Maße von der Rolle des Proletariats in der Wirtschaft des Landes, also vom Grade ihrer kapitalistischen Entwicklung bestimmt. Dies ist jedoch keinesfalls das einzige Kriterium. Keine geringere Bedeutung besitzt die Frage, ob im Lande ein so weitgehendes und brennendes ‘Volksproblem’ besteht, an dessen Lösung die Mehrheit der Nation interessiert ist, und das für seine Lösung die kühnsten revolutionären Maßnahmen verlangt. Zu den Problemen dieser Art gehören die Agrarfrage und die nationale Frage, in ihren verschiedensten Verbindungen. Bei dem zugespitzten Agrarproblem und bei der Unerträglichkeit der nationalen Unterjochung in den Kolonialländern kann das junge und verhältnismäßig nicht zahlreiche Proletariat auf der Basis einer national-demokratischen Revolution früher zur Macht kommen als das Proletariat eines fortgeschrittenen Landes auf der Basis einer rein sozialistischen Revolution.”

“Folgt aus dem Gesagten, daß heute bereits alle Länder der Welt so oder so für die sozialistische Revolution reif sind? Nein, das ist eine falsche, eine tote, scholastische, stalinistisch-bucharinsche Fragestellung. Die Weltwirtschaft in ihrer Gesamtheit ist zweifellos für den Sozialismus reif. Das bedeutet aber nicht, daß jedes Land einzeln reif ist. Was soll dann mit der Diktatur des Proletariats[18] in den verschiedenen zurückgebliebenen Ländern geschehen, in China, Indien usw.? Darauf antworten wir: Die Geschichte wird nicht auf Bestellung gemacht. Ein Land kann für die Diktatur des Proletariats ‘reif’ werden, nicht nur bevor es für den selbständigen Aufbau des Sozialismus, sondern auch bevor es für weitgehende Sozialisierungsmaßnahmen reif ist. Man darf nicht von einer vorgefaßten Harmonie der gesellschaftlichen Entwicklung ausgehen.”

Die Lösung für diese Situation kann nur im internationalen Maßstab gefunden werden.

“Bedeutet das wenigstens, daß jedes Land, auch das rückständigste Kolonialland, wenn nicht für den Sozialismus, so doch für die Diktatur des Proletariats reif ist? Nein, das bedeutet es nicht. Was soll dann mit der demokratischen Revolution überhaupt – und in den Kolonien insbesondere – geschehen? Wo steht es denn geschrieben – beantworte ich die Frage mit einer Frage –, daß jedes Kolonialland für die sofortige und restlose Lösung seiner national-demokratischen Aufgaben reif ist? Man muß die Frage vom andern Ende betrachten. Unter den Bedingungen des imperialistischen Zeitalters kann die national-demokratische Revolution nur dann bis zum siegreichen Ende durchgeführt werden, wenn die sozialen und politischen Verhältnisse des Landes reif dazu sind, das Proletariat als den Führer der Volksmassen an die Macht zu stellen. Und wenn dieses noch nicht der Fall ist? Dann wird der Kampf um die nationale Befreiung nur sehr geteilte, und zwar gegen die werktätigen Massen gerichtete Resultate ergeben.[…]

Wann und unter welchen Bedingungen das eine oder das andere Kolonialland für die wirklich revolutionäre Lösung seiner Agrarfrage und seiner nationalen Frage reif wird, läßt sich nicht voraussagen.”[19]

An dieser Stelle sind etwas längere Zitate nötig, da die Fragen durch diese Textstellen am besten beantwortet werden. Ein entscheidender Faktor ist dabei die Frage, ob es eine revolutionäre Partei gibt, die in der Lage ist, die objektiven Aufgaben zu erfüllen. Seit über einem Jahrzehnt sehen wir immer wieder starke Volksbewegungen, Aufstände, die Diktatoren von ihren Thronen stürzen. Die objektiven Voraussetzungen eines sozialistischen Umsturzes sind mehr als reif in Ländern wie Ägypten, Sudan, Chile usw. Eine revolutionäre proletarische Partei, die wie 1917 in Russland, die Nation der Unterdrückten eint und eine sozialistische Alternative darstellt, fehlt.

Dazu kommen die Jahrzehnte des Niedergangs der Arbeiter*innenbewegung und ihrer Organisationen. Der Niedergang der Sowjetunion hat nicht nur für die westliche Linke einen Bruch dargestellt und zur vollständigen Verbürgerlichung ehemaliger reformistischer und sozialdemokratischer Parteien geführt. In der neokolonialen Welt fielen damit auch ein Orientierungspunkt und Verbündete weg, die Durchsetzung des Kapitalismus unter der Führung der USA, mit den Instrumenten NATO, IWF und Weltbank haben tiefe Spuren hinterlassen. Die staatliche Infrastruktur wurde weitgehend privatisiert und öffentliche Subventionen wurden und werden unter dem Druck neoliberaler Maßnahmen, die die Bedingung für die Vergabe von Krediten waren, gekürzt. Die Offensive des Kapitals hat auch in diesen Ländern zu einer Niederlage der Arbeiter*innen und Armen geführt. Sozialistische Ideen wurden verdrängt, das Klassenbewusstsein ging zurück. Ein Ausdruck davon ist auch der Umgang mit Walter Rodney, dessen Werke seit den 2000ern stark zurückgedrängt wurden. Nicht nur im Westen wurde der Marxismus an den Universitäten durch bürgerliche Wissenschaften ersetzt.

In seinem Buch “The enduring relevance of Walter Rodney’s ‘How Europe Underdeveloped Africa’”[20] beschreibt Karim F Hirji, einer von Rodneys früheren Student*innen in Daressalam, sehr eindringlich den Siegeszug des Westens nach 1989/90 und wie Rodney aus den Unterrichtsräumen verschwunden ist.[21] Er bezeichnet das als “Große Wende”. Seinen Platz haben Autor*innen eingenommen, die vor allem den Kapitalismus und die Möglichkeiten preisen, die er angeblich für die unterentwickelten Länder bietet. Während Hirji das Bewusstsein zur dieser Zeit noch als sehr niedrig beschrieb, sehen wir, dass es zur Zeit eine Wiederbelebung der Debatte um den Imperialismus, den Kampf dagegen und damit auch Autor*innen wie Rodney gibt. Das ist nicht zuletzt Ausdruck der Kämpfe in der neokolonialen Welt, die sich in den letzten Jahren enorm zugespitzt haben.

Die Massen in den unterentwickelten Ländern selbst haben mehr als einmal bewiesen, dass sie die Energie und den Willen besitzen, einen revolutionären Weg zu gehen.

Die Permanente Revolution bei Rodney

Nicht nur für Rodney war eine entscheidende Frage, was auf die Unabhängigkeit folgt. Schwarze Marxist*innen und Revolutionär*innen verschiedener Generationen haben sich intensiv damit beschäftigt – CLR James[22], Frantz Fanon[23], Amilcar Cabral[24] und viele andere. Innerhalb des linken Flügels der panafrikanischen Bewegung gab es weitgehende Einigkeit darüber, dass die politische Unabhängigkeit nicht die Frage der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den imperialistischen Nationen löst. Damit hingen viele weitere Probleme zusammen wie die indirekte politische Abhängigkeit, die Einbindung in internationale Bündnisse, der Transfer von Technologien, die kulturelle Beeinflussung des Westens und das koloniale Erbe insgesamt. Trotzdem gerade Rodney und Fanon eine sehr explizite Kritik an den nationalistisch-bürgerlichen Führer*innen der exkolonialen Staaten formulierten, gingen die Vorstellungen darüber, wie man dieses Stadium überwindet, welche Klasse die revolutionäre Kraft ist und welches Programm man braucht, stark auseinander.[25]

Ein tieferes Verständnis von Ausbeutung und Imperialismus zu entwickeln und zu vermitteln, anhand aktueller und historischer Erfahrungen, war eine der Hauptaufgaben, die Rodney sich stellte.

In seiner Einleitung zu “Wie Europa Afrika unterentwickelte” legte er in seinen Ausführungen zu Entwicklung und Unterentwicklung ein sehr umfassendes Verständnis der menschlichen Entwicklung, ausgehend von der marxistischen Methode des historischen Materialismus dar. Mechanische Analysen lehnte er ab:

“Die Tatsache, dass der Kapitalismus auch heute noch neben dem Sozialismus[26] existiert, sollte uns warnen, dass die Produktionsweisen nicht einfach als eine Frage aufeinander folgender Stufen betrachtet werden können. Die ungleichmäßige Entwicklung hat immer dafür gesorgt, dass Gesellschaften auf verschiedenen Ebenen miteinander in Berührung gekommen sind – zum Beispiel eine kommunalistische und eine kapitalistische Gesellschaft.”[27]

Das starre Schema voneinander abgegrenzter historischer Etappen war und ist ein Merkmal stalinistischer und reformistischer Geschichtsbetrachtung. Denen zufolge muss ein Land, das keine Phase bürgerlich-demokratischer Entwicklung durchlaufen hat, diese erst absolvieren, bevor es zum Sozialismus fortschreiten könne. Dass historisch auf den Feudalismus der Kapitalismus und auf der Grundlage umfassender kapitalistischer Entwicklung der Sozialismus folgen würde, war die Erkenntnis des wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engels. Was jedoch für die grundlegende geschichtliche Entwicklung korrekt ist, wird falsch, wenn man dies als starre Abfolge für jedes einzelne Land festlegen will.

Rodney erteilte denjenigen, die behaupten, dass jedes Land angeblich nach Marx eine starre Abfolge historischer Etappen zu durchlaufen habe eine klare Absage:

“Wenn diese Leute also sagen, dass der Marxismus behauptet, dass alle Gesellschaften die gleichen Prozesse durchlaufen müssen, und dass das Wichtigste das Vorhandensein einer bestimmten Arbeiterklasse in einer bestimmten Art und Weise ist, und dass wir davon daher notwendigerweise absehen müssen, weil unsere Gesellschaft anders ist als die von Marx beschriebene – dann denke ich, dass diese Leute im Grunde nicht verstanden haben, was er gesagt hat. Und ich glaube nicht, dass es sich dabei nur um ein Versehen handelt; ich denke, dass es ein Element der Verzerrung gibt, das absichtlich ist.”[28]

Nach Ansicht der Etappentheorie hätte in Russland nach dem Sturz des Zaren eine Etappe der kapitalistischen Entwicklung unter Führung der Bourgeoisie stattfinden müssen, bevor das Proletariat die Macht ergreifen könne. Die Menschewiki[29] vertraten offen diese Position während der Februarrevolution, die den Zar stürzte.

Neben der Position der Permanenten Revolution und der menschewistischen Etappentheorie gab es bis zum Beginn der Russischen Revolution 1917 eine dritte Position, die Lenin vertrat. Während die Menschewiki die Vollendung der bürgerlichen Revolution in die Hände der liberalen Bourgeoisie legten und sich darauf beschränkten, auf diese maximalen Druck auszuüben, um eine soziale Gesetzgebung zu erlangen, lehnten Lenin und die Bolschewiki dies als Kapitulation ab. Sie erklärten, dass die Bourgeoisie reaktionär geworden war und weder den feudalen Staat zerschlagen, noch den Grundbesitz aufteilen oder die Macht der Kirche brechen würde. Sie würden – historisch unfähig geworden, eine unabhängige Rolle zu spielen – das Bündnis mit dem Adel eingehen und den Staat allenfalls reformieren, um darin einen Platz zu finden und eine Revolution der ausgebeuteten Massen gewaltsam zu verhindern. Proletariat und Bäuer*innenschaft würden dabei leer ausgehen. Lenin formulierte gegen die Herrschaft der Bourgeoisie die “demokratische Diktatur des Proletariats und der Bäuer*innenschaft”, womit die politische Macht der Bourgeoisie bereits gebrochen wäre. Diese demokratische Diktatur würde die Monarchie und deren Gutsbesitz zerschlagen, die Leibeigenschaft aufheben, demokratische Freiheiten durchsetzen usw. Gerade das Bündnis von Proletariat und Bäuer*innenschaft als zwei unterschiedlicher Klassen und der Vorsatz “demokratisch” betonte den bürgerlichen Charakter dieser Formel. Sowohl Lenin, als auch Trotzki gingen davon aus, dass das Proletariat mit der Bäuer*innenschaft an der Landfrage während einer sozialistischen Revolution in Konflikt kommen würde. Die bürgerliche Revolution bedeutet die Zerschlagung des feudalen Großgrundbesitzes und die Aufteilung des Landes unter die Bäuer*innen. Das war die Grundlage des Bündnisses der beiden Klassen. Das sozialistische Programm des Proletariats war jedoch die komplette Verstaatlichung und geplante Bewirtschaftung des Bodens, was der Forderung nach dem Besitz an Boden durch die Bäuer*innenschaft widersprach. In der Zeit nach der Russischen Revolution sollte das immer wieder eine der Hauptfragen werden.

Während der ersten Wochen nach der Februarrevolution in Russland und nachdem das Proletariat wie bereits 1905 mit den Sowjets eigene Machtorgane und und damit den Kern eines Arbeiter*innenstaats geschaffen hatte, kam Lenin zu dem Schluss, seine bisherige Formel der demokratischen Diktatur fallen zu lassen. Bereits in seinen berühmten “Aprilthesen” formulierte er:

“Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Rußland besteht im Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewusstseins und der ungenügenden Organisiertheit des Proletariats der Bourgeoisie die Macht gab, zur zweiten Etappe der Revolution, die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bäuer*innenschaft legen muss.” [30]

Er ging zur Position der “Diktatur des Proletariats” (im Bündnis mit der Bäuer*innenschaft) über und formulierte bereits die Grundzüge eines sozialistischen Programms, das durch die Sowjetmacht verwirklicht werden sollte. Das war das Programm der Permanenten Revolution, gegen das die alten Bolschewiki viele Jahre erbitterte Polemiken geführt hatten.

Damit befand er sich im Gegensatz zur bolschewistischen Führung, die in der provisorischen Regierung und der parallel existierenden Sowjets die “demokratische Diktatur des Proletariats und Bäuer*innenschaft” verwirklicht sahen. Lenins Unnachgiebigkeit, seine Weitsicht und der Verlauf der Ereignisse sollten bald dafür sorgen, dass sich seine Position durchsetzte.

Nach nicht einmal acht Monaten offenbarten die bürgerlichen und reformistischen Kräfte ihre Unfähigkeit, die Forderungen der Massen nur annähernd zu erfüllen. Ohne im Geringsten eine bürgerliche Etappe abgeschlossen zu haben, gingen die russischen Arbeiter*innen im Bündnis mit den bäuerlichen Massen dazu über, den Kapitalismus und mit ihm den autokratischen Staat und die feudalen Überreste in dem riesigen Land zu beseitigen. Die sozialistische Revolution erfolgte also nicht in einer der entwickelten kapitalistischen Nationen, sondern im halb feudalen, gegenüber dem westlichen Kapital halb kolonialen, Russland.

Dieser historische Fakt strafte die Etappentheorie lügen, die nichtsdestotrotz ab Mitte der 1920er Jahre eine Neuauflage fand. Diesmal nicht durch die reformistische Sozialdemokratie, sondern durch die vormals revolutionäre Kommunistische Partei unter der zunehmenden Führung Stalins und seiner Fraktion selbst.

Der Kapitalismus als Weltsystem war jedoch zu dieser Zeit fest etabliert und selbst unterentwickelte, feudale oder sogar vorfeudale Gesellschaften und Völker gerieten unter seinen Einfluss. Das bedeutete, dass nicht jedes Land für sich denselben Prozess historischer Entwicklung hin zum Kapitalismus durchmachen konnte, da die Rahmenbedingungen sich dafür geändert hatten. Das war auch nicht nötig und so wurden, wie in Russland, bestimmte Stadien übersprungen.

Rodney ging selbst auf diese Fragen in “The Russian Revolution”[31] ein und diskutiert im Kapitel “Marx, Marxism and the Russian Left”[32] die Kritik, die sich gegen das Überspringen historischer Stufen wandte und die Russische Revolution als antimarxistisch darstellte:

“Kermit E. McKenzie beklagt, dass die Russische Revolution nicht in den verschiedenen, von Marx festgelegten, aufeinanderfolgenden Stufen der Gesellschaft erfolgte. Es hätte eine bürgerliche Revolution geben sollen, aber stattdessen brachten Lenin und Trotzki ihre fremde Doktrin der permanenten oder ununterbrochenen Revolution hinein, durch die das Proletariat die Macht übernahm. Mit anderen Worten: Lenin widersetzte sich dem “Muster der historischen Entwicklung, das Marx wahrgenommen und ausgearbeitet hatte, zumindest in Bezug auf Westeuropa.”[33]

Er ging dann auf auf die oben dargelegten Fragen von der historischen Abfolge gesellschaftlicher Formationen ein und darauf, wie Marx und Engels selbst ab den 1870er Jahren die Perspektive einer vorzeitigen Revolution in Russland aufwerfen, die das Proletariat im Bündnis mit der Bäuer*innenschaft vollziehen könnte. Letztendlich kommt er mit Marx und Engels und ihrer “Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850” selbst auf die Permanente Revolution zu sprechen:

“In ihrer Ansprache der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten forderten Marx und Engels die Kommunisten auf, in den Revolutionen von 1848 eine von der bürgerlichen Liga unabhängige Rolle zu spielen, sich in Gemeinderäten zu organisieren und dafür zu sorgen, dass die Arbeiter bewaffnet und organisiert sind. Ihre Aufgabe war es, ‘die Revolution permanent zu machen […] bis die Staatsgewalt vom Proletariat erobert […] ist.’[34] Dies ist eine neue Auffassung von Bewusstsein statt Passivität, von gemeinsamem und doch unabhängigem Handeln. Sowohl Lenin als auch Trotzki sollten dies weiterentwickeln und auf die Bedingungen der Russischen Revolution anwenden.”

Im Abschnitt “Trotsky as Historian of the Russian Revolution”[35] ging Rodney ausführlich aus das “Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung” und der “Permanenten Revolution” ein, welcher er größten Stellenwert beimaß:

“Er beschreibt es so: ‘Unter der Knute äußerer Notwendigkeit ist die Rückständigkeit gezwungen, Sprünge zu machen.’[36] Auf dieser Grundlage legt Trotzki ein neues Konzept vor, das er das Gesetz der kombinierten Entwicklung nennt und das seiner Meinung nach auf Russland und andere rückständige Länder anwendbar ist. Damit meint er ‘eine Annäherung verschiedener Wegetappen, Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitiger Formen.’[37] Dieses Gesetz zeigt sich am deutlichsten im Bereich der Industrie. Russland begann spät und passte die neuesten Errungenschaften an seine eigene Rückständigkeit an. Die wirtschaftliche Entwicklung Russlands übersprang Etappen wie die der Handwerkszunft, während technische Etappen, die anderswo Jahrzehnte gedauert hatten, einfach ausgelassen wurden. […]

Aus dem Gesetz der kombinierten und ungleichmäßigen Entwicklung leitete Trotzki seine berühmte Idee der permanenten Revolution ab. […] Trotzki stützte sich auf die marxistische Theorie, als diese am wichtigsten war.”[38]

Rodney und Trotzki

Rodney wusste, dass die Erfahrungen der Russischen Revolution unschätzbare Lehren für die Revolution in der (neo)kolonialen Welt bereithalten und studierte sie eingehend. So kam er auch an Trotzki als einem führenden Kopf der Russischen Revolution nicht vorbei und ebenso nicht an seinem Kampf für die Permanente Revolution, die in den Jahren von 1905/6 bis 1917 eine weitsichtige Theorie war und von der Oktoberrevolution in der Praxis bestätigt wurde.

In der Behandlung historischer Persönlichkeiten ist man oft versucht, Belege in deren Schaffen für die eigene Haltung zu finden. Gerade wenn diese sich nicht mehr äußern können, muss man sehr vorsichtig mit der Behandlung ihres politischen Erbes umgehen und sich an das halten, was sie selbst gesagt, geschrieben und getan haben. Es hat jedoch noch niemand für alle Zeiten, nicht für die Vergangenheit und schon gar nicht für die Zukunft, eine absolut eindeutige Beantwortung aller Fragen gegeben. Eine Anwendung bestimmter Erkenntnisse – in diesem Fall Rodneys – für heute, für die Revolution in den unterentwickelten Ländern, schließt auch eine Interpretation vergangener Aussagen ein. Umso vorsichtiger und genauer muss man im Umgang mit dem Erbe Walter Rodneys sein, um ihn nicht für diese oder jene Strömung zu vereinnahmen. Wenn wir uns in diesem Text mit dem Verhältnis von Rodney und der Permanenten Revolution auseinandersetzen, bedeutet das also nicht, ihn posthum zu einem Trotzkisten zu machen.

Rodney war nicht nur kein Trotzkist, sondern er lehnte bewusst jede Strömungspolitik ab, da er sie schädlich für den Kampf für den Sozialismus in Afrika und der Karibik hielt.[39] Daraus sollte man aber nicht schlussfolgern, dass er gleichgültig gegenüber bestimmten Konzepten und Theorien war. Im Gegenteil, aus seinem literarischen Nachlass und den Berichten seiner Zeitgenoss*innen geht eindeutig hervor, dass er den Marxismus und die Lehren der Russischen Revolution im Oktober 1917 auf das Genaueste studierte.

Ein Ausdruck davon ist die Niederschrift seiner Vortragsreihe, die aus seiner Zeit an der Universität in Dar Es Salaam, Tansania stammt. Verso hat sie 2018 unter dem Titel “The Russian Revolution. A View from the Third World.”[40] aufgelegt. Sie zeugen von der intensiven Beschäftigung mit der Revolution in einem unterentwickelten Land, dem damaligen Zarenreich, mit einem revolutionären städtischen Proletariat, das gegenüber dem Bauerntum in einer absoluten Minderheit war.

Dennoch führte er und seine Partei 1917 die erste erfolgreiche sozialistische Revolution in einem halbkolonialen Land mit einem brutalen absolutistischen Regime unter dem Zaren an. Die Voraussetzungen für die Oktoberrevolution ließen und lassen sich leicht auf die kolonialen und neo-kolonialen Länder übertragen.

Rodney wollte dies seinen Student*innen vermitteln. Nicht als sterile Abhandlung von historischen Ereignissen und Auflistung von Zahlen und Namen, sondern er versuchte, die Methode des Marxismus zu lehren, ein Verständnis für die Widersprüche zwischen den Klassen, die auf ökonomischen Entwicklungen beruhen und ihre Bedeutung für die Revolution herauszustellen.

Jesse J. Benjamin und Robin D. G. Kelley schreiben in ihrer Einleitung zu “The Russian Revolution”:

“Obwohl er Trotzkis spätere Einschätzungen der Entwicklung des sowjetischen Staates kritisiert, entnimmt Rodney seinem dynamischen Konzept der kombinierten und ungleichmäßigen Entwicklung eine Erklärung dafür, wie das Überspringen der vielgepriesenen ‘Stufen’ der Geschichte ein Weg sein könnte, einen sozialistischen Weg für Afrika zu einzuschlagen.”[41]

Rodney ging in “The Russian Revolution” in dem Abschnitt, in dem er verschiedene Strömungen beschrieb, die die Oktoberrevolution behandeln auf den Trotzkismus ein:

“In Bezug auf Leo Trotzki gibt es eine ähnliche Situation, in der eine zeitgenössische Debatte direkt zu einer späteren historischen Kontroverse führt. Trotzki begann bereits vor seiner Abreise aus der Sowjetunion, historische und polemische Berichte zu schreiben. Der Teil seines Werks, der sich mit der Zeit vor 1924 befasst, ähnelt den offiziellen sowjetischen Fassungen erheblich. Aber wenn Trotzki über die Zeit schreibt, in der er der wichtigste Gegner Stalins war, ist die Kluft zwischen seiner Interpretation und derjenigen der sowjetischen Historiker praktisch unüberbrückbar. Trotzki war nicht nur ein Teilnehmer im Zentrum der Russischen Revolution, sondern auch ein Historiker für sich. Er war auch der Gründer der Vierten Internationale und hatte eine große intellektuelle Anhängerschaft. Das Werk der ‘Trotzkisten’, sowohl in Form von Pamphleten als auch in Form ausführlicher historischer Interpretationen, stellt eine eigenständige Literatur dar, die in einer Studie wie der vorliegenden gesondert behandelt werden muss.”[42]

Auch wenn bei weitem nicht alle Dokumente aus Rodneys Nachlass veröffentlicht wurden, ist zu vermuten, dass diese separate Auseinandersetzung nur sehr rudimentär oder gar nicht stattfinden konnte, abgesehen von den Abschnitten in “The Russian Revolution”

In diesem Beitrag kann nicht auf alle Fragen eingegangen werden, sondern wir konzentrieren uns auf die oben dargelegte Problemstellung. Es sei nur so viel gesagt, dass die Niederschrift seiner Vorlesungen fragmentarisch ist. Für die geplante Veröffentlichung wollte er sie überarbeiten, konnte sie jedoch, auf Grund des Mordanschlag eines Schergen Burnhams[43], nicht fertigstellen.

Das erklärt vielleicht, warum seine Kritik an Trotzki teilweise unverständlich, teilweise widersprüchlich ist. Denn in seiner Analyse und Kritik der Stalinschen Periode in der Sowjetunion gibt es eine Übereinstimmung mit der Kritik, die von Trotzki in “Verratene Revolution” und die der Linken Opposition insgesamt geäußert wurde.

Rodney diskutierte nicht nur die verschiedenen Konzeptionen der Russischen Revolution innerhalb der russischen Linken, sondern ging im Kapital “On Democracy: Lenin, Kautsky and Luxemburg”[44] auf die internationale Kritik an der bolschewistischen Politik ein. Als Überleitung zum nächsten Kapitel “Building the Socialist State” geht er auf die Kritik Rosa Luxemburgs zur Frage der Demokratie ein:

“Eigenartiger Weise hatte Luxemburgs Kritik mehr Bedeutung für die Zukunft als für die Zeit, in der sie schrieb. Es ging um die langfristigen Folgen der dialektischen Beziehungen zwischen Lenin und dem Zentralkomitee, zwischen dem Zentralkomitee und den Mitgliedern, zwischen der Bürokratie und dem Volk. Nehmen wir die Frage der demokratischen repräsentativen Institutionen und des Volkes. Die lebendige Bewegung der Massen übt einen Druck auf diese Institutionen aus und verleiht ihnen Vitalität. Nur von den Massen kann man die Korrektur von Mängeln in den gesellschaftlichen Institutionen bekommen. Da die Revolution und die Diktatur ein Experiment sind, müssen die Dinge durch Versuch und Irrtum und nicht durch ein Dekret gelöst werden. Die Menschen dürfen in ihrer Improvisation und Kreativität nicht behindert werden. Wenn die Masse des Volkes entfremdet wird, wächst die Bürokratie, es entsteht eine Diktatur und es kommt zu einer ‘Verrohung des öffentlichen Lebens.’ Diese Art von Vorhersage wird sehr wichtig sein, um die Periode der Stalinschen Herrschaft zu bewerten und sie mit den von Lenin geschaffenen politischen Ideen und Institutionen in Beziehung zu setzen.”[45]

In “Building the Socialist State”[46] wies er nach, wie Stalin und dessen Politik vom leninistischen Verständnis in Bezug auf die Bäuer*innenschaft abgewichen war. Er wandte sich gegen die Erstickung der Parteidemokratie, gegen die Anwendung von Gewalt während der Phase der Zwangskollektivierung und später gegen die Ersetzung der Leninschen Nationalitätenpolitik durch die Russifizierung.

Er geht im Kapitel “The Critique of Stalinism” vor allem im Abschnitt “Bureaucracy”[47] darauf ein, wie die Ursachen der Entstehung der Bürokratie in der Rückständigkeit und den spezifischen historischen Umständen lagen, die der Sowjetstaat vom Zarenreich erbte. Insofern gab er die Kritik der Trotzkist*innen im Groben korrekt wieder. Er wies sie jedoch mit dem Argument zurück, dass in der Erklärung der konkreten Entstehung bereits das Argument enthalten wäre, warum es keine Alternative zu dieser Entwicklung gegeben hätte. Das widerspricht allerdings seinen Ausführungen, welche Rolle das Eingreifen der Regierung in einem Arbeiter*innenstaat für dessen Entwicklung, gerade im Gegensatz zum Kapitalismus, spielt. Damit wischte er die vielfältigen Alternativen, die von Trotzki und der Opposition vorgebracht wurden, vom Tisch.

Das widerspricht auch Aussagen, die er an anderer Stelle in Bezug auf die Entwicklung der Bürokratie tätigte. So stelle er in “Problems of Third World Development”[48] fest:

“Es hat sich eine Bürokratie entwickelt. Das ist nicht einzigartig; es geschah in der Sowjetunion, es geschah in China, es geschah in Kuba. Die Bürokratie hat sich als eine soziale Formation herausgebildet, die für die sozialistische Entwicklung – oder das Fehlen einer solchen – entscheidend ist, selbst dort, wo die Eigentumsbasis einer Ausbeuterklasse liquidiert wurde. Das ist also ein sehr reales Problem im nationalisierten Sektor.”[49]

Er sprach dort vom Kampf der Arbeiter*innen gegen die neue Bürokratie, von Arbeiter*innendemokratie und wie sie mit Streiks um die Kontrolle in den Fabriken kämpften. Da diese Kämpfe nicht mit Waffengewalt ausgefochten wurden, bezeichnete er das als “stillen Klassenkampf.” Damit wurde auch klar, dass es, auch wenn es objektive Ursachen für die Entstehung der Bürokratie (“Fehlen einer sozialistischen Entwicklung”) gab, so diese nicht unwidersprochen hingenommen werden musste – gerade, weil sie zu einem Hindernis im Aufbau des Sozialismus wurde. Die Frage der proletarischen Demokratie gegen die Staatsbürokratie nahm im Laufe der 70er Jahre einen größeren Raum in seinen Schriften ein.[50]

Rodney wandte sich gegen die in den 30ern von den Sowjetoffiziellen getroffene Aussage, dass die Sowjetunion vor der unmittelbaren Vervollkommnung des Sozialismus stand. Der Punkt der internationalen Revolution als Vorbedingung zur Verwirklichung des Sozialismus und dass die Bürokratie mit ihrer internationalen Politik zu einem Hindernis dafür geworden war, fällt bei Rodneys Betrachtungen allerdings hinten runter. Dies, die Rolle der Kommunistischen Internationale und ihr Einfluss auf die Geschehnisse in China in den 1920er, dem Spanischen Bürgerkrieg, den Zickzacks von ultralinkem zum Volksfrontkurs, spielten bei Rodney keine Rolle. Er ging sogar soweit, die Rolle der Partei bei der Unterordnung unter die Kuomintang zu leugnen, als wäres es nicht eine bewusste Entscheidung gewesen, welches Programm die Kommunistische Partei Chinas und die Komintern aufstellte. Er zieht sich auf die Aussage zurück, dass “soziale Revolutionen […] ihre Wurzeln in dem Ort [haben], an dem sie stattfinden.”[51] Das ist zwar grundsätzlich richtig, aber da das Programm der revolutionären Partei kein Automatismus ist und Rodney selbst sein Leben mit der genauen Analyse konkreter Situation verbrache, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, wirkt diese oberflächliche Aussage erstaunlich wenig ernsthaft. Daher fiel es ihm leicht, die Kritik als “hohl” zu bezeichnen, doch mit der Analyse der Entstehung der Bürokratie oder bestimmter programmatischer Haltungen ist noch nicht ihre historische Unvermeidbarkeit bewiesen.

In seinem Aufsatz “Transition” (zum Sozialismus) schlägt er einen ganz anderen Ton über die leitende Rolle der Arbeiter*innen, die bewusste Umgestaltung der Gesellschaft und die Zentralität der Demokratie an:

“Der Sprung zum Sozialismus ist untrennbar mit den bewussten Absichten der Arbeiterführung verbunden, die durch den Staat umgesetzt werden. Nicht alle historischen Sprünge sind bewusst gesteuert worden. Im Gegenteil, die Übergänge von einer Produktionsweise zur anderen, die dem Sozialismus vorausgingen, waren das Ergebnis von Kräften, die selbst von den Hauptklassen im Drama nicht richtig verstanden wurden. Man kann kaum behaupten, dass die Bourgeoisie die frühe Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft gelenkt hat. Der Sozialismus ist einzigartig, weil das Bewusstsein der beiden kämpfenden Klassen – der Bourgeoisie und des Proletariats – hoch entwickelt ist. Die sozialen Verhältnisse in den Ländern der Dritten Welt können heute nicht unabhängig vom Willen der Menschen verändert werden. Es müssen bewusste Entscheidungen getroffen werden, um die Produktionskräfte (einschließlich Größe, Qualifikation und Zusammensetzung der Arbeiterklasse), die Produktionsverhältnisse und die Vermittlung dieser Verhältnisse durch den Staat zu verändern. Natürlich bedeuten ‘bewusste Absichten’ viel mehr als bloße Aussagen oder ideologische Erklärungen. Das verbale Bekenntnis zum Marxismus in Kongo-Brazzaville, Guinea, Somalia und Äthiopien ging mit gesellschaftlichen Entwicklungen einher, die sich nicht von denen in Staaten unterscheiden, in denen die Theorie der Klassenwidersprüche ausdrücklich abgelehnt wurde: Das heißt, marxistische Intellektuelle wurden zum Schweigen gebracht, Arbeitervertreter wurden ausgeschaltet und die Arbeiterklasse insgesamt von der demokratischen Beteiligung am gesellschaftlichen Wiederaufbau ausgeschlossen. Der Übergang kann nur dann Gültigkeit haben, wenn er eine umfassende Förderung der sozialistischen Bildung ohne Karikatur beinhaltet und sich fest auf die Arbeiterdemokratie stützt.

Die Widersprüche innerhalb des imperialistischen Systems und zwischen Imperialismus und Sozialismus bilden die objektive Grundlage für den Übergang zum Sozialismus in den abhängigen kapitalistischen Ländern. Dies ist zu bekräftigen und dann zu präzisieren durch die ebenso wichtige Größe des Handelns der klassenbewussten Elemente. Der Übergang ist also gleichbedeutend mit einer geführten Transformation; er bedeutet eine von der Arbeiterklasse in ihrem eigenen Interesse geführte Sozialpolitik. Der Begriff der Arbeiterdemokratie eröffnet weitreichende und ehrgeizige Möglichkeiten, die sowohl am Ort der Produktion als auch innerhalb der verschiedenen Ebenen und Zweige des Staates von Bedeutung sind.”[52]

Auch bezeichnete er Trotzkis Haltung zur Wirtschaftspolitik bis 1925 als eine der “Superindustrialisierung”, was nicht zutrifft. In ihren Endnoten zu diesen Abschnitten bringen die Editoren des Buchs, Kelley und Benjamin, ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck, wie Rodney diese Themen behandelte.[53]

Es wirkt auch, als würde er auf der Grundlage dieser falsch verstandenen Positionierung Trotzkis und seiner späteren Kritik an der Industrialisierungspolitik Stalins eine Unterscheidung zwischen Trotzki dem Politiker (vor seinem Ausschluss aus der KPdSU) und Trotzki dem Historiker machen. Seine Teilnahme an der Oktoberrevolution in führender Stellung, seine Arbeit als Chronist und Lehrer der Revolution und seine daraus folgende Opposition gegen die Fraktion Stalins, sind jedoch nicht voneinander zu trennen.

Zu Trotzkis “Geschichte der Russischen Revolution[54] schrieb er: “Dieses monumentale Werk ist Geschichte auf dem höchsten Niveau der Analyse.” Er schätzte es höher als das, was über die Oktoberrevolution von der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung zu lesen war.[55]

Auf alle Aspekte der Auseinandersetzung Rodneys mit Trotzki einzugehen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Für eine wirkliche Einschätzung, wie Rodney gerade zum Ende seines Lebens zu Trotzki stand, wäre es nötig, seine Zeitgenoss*innen zu befragen, sein Archiv zu sichten, usw.

Vielleicht lässt sich soviel sagen: Rodney wahrte bewusst seine Unabhängigkeit von Vordenker*innen bestimmter Strömungen und war dennoch in seiner Kritik an der stalinistischen Etappentheorie der Permanenten Revolution, auch aus eigener Erfahrung mit den Prozessen in Ghana, Tansania und anderen exkolonialen Ländern, zugeneigt. Das fügt sich gut in das Bild eines revolutionären Intellektuellen ein, der den Marxismus nicht als Schablone, sondern als flexible Methode verstand, um konkrete Situationen in ihrem Werden und ihrem Fortlauf zu verstehen. Davon zeugen sein Buch “Wie Europa Afrika unterentwickelte” und viele weitere Texte.

Die nationale Frage

Walter Rodney zog am Ende seiner historischen Abhandlung über die Unterentwicklung Afrikas ein kurzes Zwischenfazit:

“African independence was greeted with pomp, ceremony, and a resurgence of traditional African music and dance. “A new day has dawned,” “we are on the threshold of a new era,” “we have now entered into the political kingdom”—those were the phrases of the day, and they were repeated until they became clichés. But, all the to-ing and fro-ing from Cotonou to Paris and from London to Lusaka and all the lowering and raising of flags cannot be said to have been devoid of meaning. Withdrawal of the directly controlled military and juridical apparatus of the colonizers was essential before any new alternatives could be posed with regard to political organization, social structure, and economic development.

The above issues were raised most seriously by the minority of African leaders who had individually embarked on a non-capitalist path of development in their mode of thought, and the problems were considered within the context of inequalities and contradictions, not just between Africa and Europe, but also inside Africa as a reflection of four centuries of slavery and one century of colonialism. As far as the mass of peasants and workers were concerned, the removal of overt foreign rule actually cleared the way towards a more fundamental appreciation of exploitation and imperialism. Even in territories such as Cameroon, where the imperialists brutally crushed peasants and workers and installed their own tried and tested puppet, advance had been made insofar is the masses had already participated in trying to determine their own destiny. That is the element of conscious activity that signifies the ability to make history by grappling with the heritage of objective material conditions and social relations.”[56]

Dieser nur zwei Absätze umfassende Abschluss bildet den Auftakt für seine intensive Beschäftigung mit der Frage, was auf die politische Unabhängigkeit für die ehemals kolonialen Länder folgt und mit der er sich während der gesamten 1970er Jahre ausgiebig befasste. Schon 1971, als er die Arbeit am vorliegenden Buch beendete und noch große Hoffnungen auf das revolutionäre Potential in Tansania hegte[57], war für ihn klar, dass in keinem Land Afrikas der Kampf bis zum Ende geführt wurde.

Für Rodney bedeutete das, dass weder die Massen in einem Land die wirkliche Macht erobert hatten, noch der Imperialismus in Afrika oder der Welt besiegt war. Die Unabhängigkeit war für ihn nur ein Schritt, der Möglichkeiten eröffnete, wenn auch ein sehr wichtiger. In einem Satz kommt die Aufgabe, die sich daraus für ihn und die werktätigen Massen ergibt prägnant zum Ausdruck:

As far as the mass of peasants and workers were concerned, the removal of overt foreign rule actually cleared the way towards a more fundamental appreciation of exploitation and imperialism.”

Das ist eine in zweierlei Hinsicht programmatische Aussage:

  1. Das Recht auf Selbstbestimmung der Nationen in Form der politischen Unabhängigkeit
  2. Durch die Beseitigung des äußeren Feindes wird ein besseres Verständnis von Ausbeutung und Imperialismus möglich

Letzteres verbessert die Voraussetzungen für den Klassenkampf, da die Auseinandersetzung ihr klassenübergreifendes Korsett der nationalen Frage verliert und den Klassenwiderspruch im exkolonialen Land deutlich hervortreten lässt.

Damit bewegt er sich auf der Grundlage der von den Bolschewiki bereits bestimmten Haltung zur Frage der nationalen Unabhängigkeit und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung:

“Die Herrschaft des Finanzkapitals, wie des Kapitals überhaupt, ist durch keinerlei Umgestaltungen auf dem Gebiete der politischen Demokratie zu beseitigen. Und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen liegt ganz und ausschließlich auf diesem Gebiete. Aber diese Herrschaft des Finanzkapitals hebt nicht im mindesten die Bedeutung der politischen Demokratie als einer freieren, weiteren und klareren Form der Klassenunterdrückung und der Klassenkämpfe auf.”[58]

In diesem grundsätzlichen Artikel ging Lenin auf die Grenzen des Nationalismus der unterdrückten Völker ein, der zwar den äußeren Feind bekämpft, aber gleichzeitig dazu tendiert, sich mit den heimischen Unterdrücker*innen zu arrangieren. Dem könne man nur den proletarischen Internationalismus entgegen stellen, den gemeinsamen Kampf der Arbeiter*innen der Nation, die unterdrückt, sowie der, die unterdrückt wird. Der Klassenkampf steht dabei über allem und die Frage der nationalen Unabhängigkeit, der Gründung von Föderationen sind der Vereinigung der Arbeiter*innen im Kampf gegen die Bourgeoisie untergeordnet. Das heißt, dass die Anerkennung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung nicht automatisch heißt, diese Forderung in jeder Situation zu erheben.

Sie sind ein Zugeständnis an die unvollendete bürgerlich-demokratische Revolution in den unterentwickelten Ländern wie damals dem russischen Zarenreich. Notwendige Kompromisse müssen jedoch dazu führen, dass die Ausgangsbedingungen für den Klassenkampf gestärkt werden. In Bezug auf die nationale Frage bedeutet das, durch das Recht auf Selbstbestimmung den Faktor der Fremdherrschaft auszuschalten. Vor allem die Arbeiter*innen der unterdrückenden Nation bringen damit zum Ausdruck, dass sie keine Machtbestrebungen gegenüber dem Proletariat der unterdrückten Nation hegen. Das Bündnis der Arbeiter*innen dieser Nationen beruht nicht darauf, dass in den Kolonien einfach Ablegerorganisationen der Metropole geschaffen werden, wie das durch die Gewerkschaftsverbände passierte, die damit die Sozialpartnerschaft und Reformismus meist gleich mit exportierten. Das Bündnis beruht auf einer programmatischen Übereinstimmung auf Augenhöhe, die sich bestenfalls in der Zusammenfassung der revolutionären Parteien in einer Internationale wie der frühen Kommunistischen Internationale ausdrückte.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass die nationale Frage nicht nur die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Kolonien bedeutet. Innerhalb vieler vom Imperialismus geschaffenen Staaten existiert seit Jahrzehnten das ungelöste Problem der Selbstbestimmung von Völkern. Der Kolonialismus hat nicht nur Nationen auseinandergerissen, sondern Teile vormals unabhängiger Völker in ein Staatsgebilde gepresst. Die so fortwährenden Konflikte helfen den mächtigen Nationen, den jeweiligen Teil des Landes gegen den anderen auszuspielen, um die Unterwerfung aufrechtzuerhalten. Die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung wird auch hier zu einer Bedingung, um im Kampf gegen die Unterdrückung die Einheit herzustellen.

Da die Phase des Imperialismus jedoch endgültig bürgerlich-demokratische Revolutionen, bei der das Bürgertum die Nation eint und in die Unabhängigkeit führt, beendete und der internationale Klassenkampf der entscheidende Inhalt jeder Auseinandersetzung  wurde, auch im Kampf um nationale Unabhängigkeit, musste man diese demokratische Forderung mit dem sozialistischen Programm des Proletariats verbinden. Durch die international beherrschende Rolle der imperialistischen Nationen und ihrer Bourgeoisie ergab sich auch eine Abhängigkeit der untergeordneten Bourgeoisen und Eliten (sogenannte Kompradoren) in den unterdrückten Nationen von den Weltmächten, wirtschaftlich, politisch, kulturell usw. Eine Unabhängigkeit unter bürgerlicher Führung wäre so ohnehin nur eine Farce, nur das Bündnis der werktätigen Klassen konnte diese Aufgabe bis zum Ende führen und muss dafür bereits über den bürgerlich-demokratischen Rahmen hinausgehen.

“Denn nicht nur das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, sondern alle grundlegenden Forderungen der politischen Demokratie sind beim Imperialismus nur unvollständig, verstümmelt und als eine seltene Ausnahme (zum Beispiel die Abtrennung Norwegens von Schweden im Jahre 1905) „durchführbar“. Die Forderung der sofortigen Befreiung der Kolonien, die von allen revolutionären Sozialdemokraten aufgestellt wird, ist ebenfalls beim Kapitalismus ohne eine Reihe von Revolutionen „undurchführbar“. Aber daraus folgt keinesfalls der Verzicht der Sozialdemokratie auf den sofortigen und entschiedenen Kampf für alle diese Forderungen. Das wäre ja nur in die Hand der Bourgeoisie und Reaktion gespielt. Ganz im Gegenteil, man muß alle diese Forderungen nicht reformistisch, sondern entschieden revolutionär formulieren, sich nicht auf den Rahmen der bürgerlichen Legalität beschränken, sondern diesen Rahmen zerbrechen, sich nicht mit dem parlamentarischen Auftreten und äußerlichen Protesten begnügen, sondern die Massen mit in den aktiven Kampf hineinziehen, den Kampf um jede demokratische Forderung bis zum direkten Ansturm des Proletariats auf die Bourgeoisie verbreiten und anfachen, das heißt ihn zur sozialistischen Revolution, die die Bourgeoisie expropriiert, führen.[59]

Die Einheit im Kampf wird dadurch hergestellt, dass man, wenn man es oberflächlich betrachtet, das Recht zur Aufspaltung in Nationalstaaten anerkennt. Aber gerade dadurch kann das Proletariat der unterdrückenden Nation gegenüber seinen Geschwistern in der unterdrückten Nation deutlich machen, dass es nicht vor hat, an die Stelle der alten Unterdrücker*innen zu treten. Damit wird die Einheit im Klassenkampf, national und international, hergestellt – auf proletarischer Basis.

“Anderseits müssen die Sozialisten der unterdrückten Nationen auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit der Arbeiter der unterdrückten Nation mit denen der unterdrückenden Nation besonders bestehen und sie ins Leben rufen. Ohne dies ist es unmöglich, auf der selbständigen Politik des Proletariats sowie auf seiner Klassensolidarität mit dem Proletariat der anderen Länder bei all den verschiedenen Streichen, Verrätereien und Gaunereien der Bourgeoisie zu bestehen. Denn die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen mißbraucht beständig die Losungen der nationalen Befreiung um die Arbeiter zu betrügen: in der inneren Politik benutzt sie diese Losungen zur reaktionären Verständigung mit der Bourgeoisie der herrschenden Nation (zum Beispiel die Polen in Österreich und Rußland, die eine Abmachung mit der Reaktion treffen zur Unterdrückung der Juden und Ukrainer); in der äußeren Politik bemüht sie sich, sich mit einer der wetteifernden imperialistischen Regierungen zu verständigen, um ihre räuberischen Ziele zu verwirklichen (die Politik der kleinen Balkanstaaten u.a.m.).”[60]

Was Rodney, wie Lenin, sehr gut verstand, war, dass der Kampf für nationale  Unabhängigkeit die Voraussetzung des Klassenkampfes verbessern kann, durch die Konfrontation mit der eigenen Bourgeoisie, der die Klassenwidersprüche im eigenen Land verdeutlicht, gepaart mit dem fortwährenden Kampf mit dem ausländischen Imperialismus:

“Even in territories such as Cameroon, where the imperialists brutally crushed peasants and workers and installed their own tried and tested puppet, advance had been made insofar is the masses had already participated in trying to determine their own destiny. That is the element of conscious activity that signifies the ability to make history by grappling with the heritage of objective material conditions and social relations.”[61]

Lenin hat für den Fall, dass im Prozess der Unabhängigkeit reaktionäre Kräfte die Oberhand gewinnen klar formuliert:

“Wenn bei demokratischer Abstimmung die Reaktionäre die Mehrheit haben, so gibt es und kann es überhaupt nur eines von beiden geben: entweder wird der Beschluss der Reaktionäre verwirklicht und seine schädlichen Folgen treiben die Massen mehr oder weniger schnell auf die Seite der Demokratie, gegen die Reaktionäre; oder der Konflikt der Demokratie mit den Reaktionären wird durch den Bürgerkrieg oder einen anderen Krieg entschieden, der […] auch unter der Demokratie möglich ist.”[62]

Gerade der Konflikt der Reaktion mit der Demokratie, bzw. mit den unterdrückten Massen hat in Ländern mit unvollendeter nationaler Unabhängigkeit (wie in Irlands Free State[63] nach den Jahren des Kriegs gegen die englische Krone) oder vielen afrikanischen Staaten mit der ungelösten nationalen Frage zu langen und blutigen Bürgerkriegen geführt, die bis heute andauern.

Die koloniale Revolution und die Kommunistische Internationale

Nicht nur für einzelne kommunistische Vordenker*innen wie Lenin oder Trotzki war die Frage der kolonialen Revolution von zentraler Bedeutung. Sie wurde auf dem Zweiten Weltkongress der Kommunistischen Internationale im Sommer 1920 und dem später im selben Jahr abgehaltenen “Kongress der Völker des Ostens” intensiv diskutiert.

In ihrer Einleitung zu “The Russian Revolution” schreiben Kelley und Benjamin:

“Auf dem Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale (1920) brachte Lenin seine berühmten ‘Thesen zur nationalen und kolonialen Frage’ ein. Während er an der Idee festhielt, dass die Kolonien zuerst eine bürgerliche vor einer sozialistischen Revolution durchlaufen müssten, bestand er darauf, dass ‘alle kommunistischen Parteien die revolutionären Bewegungen in den abhängigen oder nicht gleichberechtigten Nationen (z.B. in Irland, unter den Negern[64] Amerikas usw.) und in den Kolonien direkt unterstützen’[65] müssen.”[66]

Im “Ursprünglichen Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage”, aus dem sie hier zitieren, ist jedoch eine solche Haltung Lenins nicht zu finden. Das widerspräche auch der Erfahrung der Russischen Revolution, die – wie oben ausgeführt – die These der “Permanenten Revolution” bestätigte. Die Haltung, die Kelley und Benjamin hier dem Lenin von 1920 in den Mund legen, war die von vor 1917. Dass in Russland die Aufgaben der bürgerlichen Revolution vollendet werden musste, daran zweifelte niemand. Dass die Vollendung der bürgerlichen Revolution unter der Führung des Proletariats und dem Hinüberwachsen in die sozialistische Revolution vollzogen würde, das war die Erkenntnis nach der Februarrevolution von 1917.[67]

Unter den führenden Bolschewiki war Lenin 1917 der erste, der erkannte, dass seine Formel der “revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bäuer*innenschaft” der Vergangenheit angehört. Ihr lag der Gedanke zugrunde, dass die Aufgaben der bürgerlichen Revolution unter der Führung der Arbeiter*innen und Bäuer*innen nach dem Sturz des Zarentums in Russland vollendet würden, ohne direkt sozialistische Maßnahmen zu ergreifen. Die Geschichte überholte diese Voraussage und 1920 war der Übergang zur Diktatur des Proletariats auf sozialistischer Grundlage, im Bündnis mit der Bäuer*innenschaft, wie es in Sowjetrussland nach der Revolution geschehen war, allgemein anerkannt. In seinem “Bericht der Kommission für die nationale und die koloniale Frage” ließ er an der Frage keine Zweifel aufkommen:

“Die Frage wurde folgendermaßen gestellt: können wir die Behauptung als richtig anerkennen, dass das kapitalistische Entwicklungsstadium der Volkswirtschaft unvermeidlich sei für diejenigen rückständigen Völker, die sich jetzt befreien und unter denen wir jetzt, nach dem Kriege, eine fortschrittliche Bewegung beobachten? Diese Frage haben wir mit einem ‘Nein’ beantwortet. Wenn das siegreiche revolutionäre Proletariat unter ihnen systematische Propaganda treiben wird und wenn die Räteregierungen ihnen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu Hilfe kommen werden, dann ist es falsch, anzunehmen, dass das kapitalistische Entwicklungsstadium für die rückständigen Völker unvermeidlich sei. In allen Kolonien und rückständigen Ländern müssen wir nicht nur selbständige Kader von Kämpfern, Parteiorganisationen schaffen, nicht nur Propaganda treiben für die Organisierung von Bauernräten und sie den vorkapitalistischen Verhältnissen anzupassen suchen, sondern die Kommunistische Internationale muss auch die These aufstellen und theoretisch begründen, dass die rückständigen Länder mit Hilfe des Proletariats der vorgeschrittensten Länder unter Vermeidung des kapitalistischen Überwinterungsstadiums zur Sowjetordnung und dann über bestimmte Entwicklungsstufen zum Kommunismus kommen können.”[68]

Lenin stellte in seinen Thesen die Forderung nach einem Sowjetsystem für die unterentwickelten Länder sogar explizit auf und rief dazu auf, die bürgerlich-demokratischen Kräfte zu bekämpfen:

“Insbesondere sind alle Anstrengungen darauf zu richten, die Grundprinzipien des Rätesystems auf Länder anzuwenden, in denen vorkapitalistische Verhältnisse herrschen, und zwar durch Gründung von ‘Räten der Werktätigen’ usw.;

fünftens die Notwendigkeit, einen entschiedenen Kampf zu führen gegen die Versuche, den bürgerlich-demokratischen Befreiungsströmungen in den zurückgebliebenen Ländern einen kommunistischen Anstrich zu geben. Die Kommunistische Internationale darf die bürgerlich-demokratischen nationalen Bewegungen in den Kolonien und zurückgebliebenen Ländern nur unter der Bedingung unterstützen, daß die Elemente der künftigen proletarischen Parteien, die nicht nur dem Namen nach kommunistische Parteien sind, in allen zurückgebliebenen Ländern gesammelt und im Bewußtsein ihrer besonderen Aufgaben, der Aufgaben des Kampfes gegen die bürgerlich-demokratischen Bewegungen innerhalb ihrer Nation, erzogen werden. Die Kommunistische Internationale muß ein zeitweiliges Bündnis mit der bürgerlichen Demokratie der Kolonien und der zurückgebliebenen Länder eingehen, darf sich aber nicht mit ihr verschmelzen, sondern muß unbedingt die Selbständigkeit der proletarischen Bewegung – sogar in ihrer Keimform – wahren;”[69]

Die letztendlich beschlossenen “Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage” enthielten sogar einige deutliche Verschärfungen, die auf der Erfahrung von Delegierten wie M. N. Roy aus Indien mit bürgerlich-demokratischen Kräften im antikolonialen Befreiungsskampf beruhten. Gerade die praktischen Schlussfolgerungen für die Kommunistischen Parteien und deren Verhältnis zu bürgerlichen Kräften in den Kolonien wurden einer Überarbeitung unterzogen, wie Lenin in seinem Bericht zur Kommission wiedergab.

Aus Lenins These:

“11. In bezug auf die zurückgebliebeneren Staaten und Nationen, in denen feudale oder patriarchalische und patriarchalisch-bäuerliche Verhältnisse überwiegen, muß man insbesondere im Auge behalten:

erstens die Notwendigkeit, daß alle kommunistischen Parteien die bürgerlich-demokratische Befreiungsbewegung in diesen Ländern unterstützen; die Pflicht zur aktivsten Unterstützung haben in erster Linie die Arbeiter desjenigen Landes, von dem die zurückgebliebene Nation in kolonialer oder finanzieller Hinsicht abhängt;”[70]

wurde beispielsweise:

“11. In Bezug auf die Staaten und Nationen, die einen mehr zurückgebliebenen, vorwiegend feudalen oder patriarchalen oder patriarchal-bäuerlichen Charakter tragen, muss man insbesondere folgende Punkte im Auge behalten:

a) Alle kommunistischen Parteien müssen die revolutionären Freiheitsbewegungen in diesen Ländern durch die Tat unterstützen. Die Form der Unterstützung muss mit der kommunistischen Partei des betreffenden Landes erörtert werden, wenn es eine solche Partei gibt. In erster Linie trifft diese Verpflichtung zur tatkräftigen Hilfe die Arbeiter desjenigen Landes, von dem die zurückgebliebene Nation in kolonialer oder finanzieller Hinsicht abhängt.”[71]

An verschiedenen anderen Stellen wurde die Kooperation mit “bürgerlich-demokratischen” Kräfte durch “revolutionäre” Kräfte ersetzt und auch diese unter sehr klaren Bedingungen formuliert. Darin spiegelt sich die Lehre daraus wider, welche schädliche Rolle nationalistische Kräfte für die Vereinigung der Werktätigen bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gespielt haben. Viele der damals aufgestellten Thesen behalten heute ihre volle Gültigkeit, auch wenn natürlich klar ist, dass es nicht einmal ansatzweise eine revolutionäre Organisation in Form einer Kommunistischen Internationale wie 1920 gibt.

Die von M. N. Roy formulierten und ebenfalls einstimmig angenommenen “Ergänzungsthesen über die Nationalitäten- und Kolonialfrage”[72] wirken wie ein Vorgriff auf die mehrere Jahrzehnte später intensiv geführte Debatte über das Verhältnis von Entwicklung und Unterentwicklung, von imperialistischem Zentrum und Kolonien. Er beschrieb, wie die Extragewinne aus der Kolonialwirtschaft dazu führen, dass die Arbeiter*innen des Zentrums ruhiggestellt wurden, um sie letztendlich weiter ausbeuten zu können. Roys Thesen zeugen von dem zu der Zeit zutiefst verinnerlichten Internationalismus und dem untrennbar miteinander verbundenen Kampf der Befreiung der Ausgebeuteten und Unterdrückten in den Kolonien und den Werktätigen in den entwickelten Nationen.

Ein direkter Ausdruck der von der Kommunistischen Internationale formulierten Leitsätze war die Diskussion auf dem im September 1920 im befreiten Baku stattfindenden “Kongress der Völker des Ostens.” Dort diskutieren 1.900 Delegierte (1.200 von ihnen Kommunist*innen) vor allem aus Europa und Asien über die Aufgaben in den kolonialen Ländern.[73]

Auch hier zeigt sich, dass die in der “Permanenten Revolution” formulierten Grundsätze keineswegs eine “Erbsünde des Trotzkismus” waren. Bela Kun[74], der das Referat zu den “Thesen über die Sowjetmacht im Osten” hielt, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass eine dem Westen vergleichbare bürgerliche Entwicklung im Osten im Zeitalter des Imperialismus nicht nur nicht möglich wäre. Es läge nicht im Interesse des werktätigen Volkes, die ausländische Ausbeutung durch eine heimische zu ersetzen.[75] Der Sozialismus stünde auf der Tagesordnung und mit ihm die Sowjetmacht, auch im Osten. Wo es kein Proletariat gäbe, würde die arme Bäuer*innenschaft, in Räten organisiert, die Revolution anführen. Wo es ein, wenn auch kleines Proletariat gäbe, übernähme es die politisch führende Rolle.[76] Die Bäuer*innenschaft könne diese Rolle spielen, weil es die Sowjetmacht gäbe und mit ihm die revolutionäre Partei und deren revolutionäres Programm. Die Revolution in den Kolonien könne den Schritt hin zum Sozialismus wagen, weil der Kapitalismus international dafür reif wäre und weil es damals ein Sowjetrussland gab, mit dem sie ein Bündnis eingehen könnten.[77]

All diese Punkte gehen aus Kuns Referat hervor und noch viel deutlicher aus den daraufhin verabschiedeten “Thesen zur Sowjetmacht im Osten”[78] Nur wenige Jahre später wurden diese wichtigen Positionen der internationalen kommunistischen Bewegung als “Trotzkismus” verurteilt, unter anderem von Bela Kun. Als führendes Mitglied der Kommunistischen Internationale wurde er zu einem der Hauptprotagonist*innen im Kampf gegen die Permanente Revolution.

Die 1920 aufgestellten Thesen berühren alle Themen, mit denen sich Walter Rodney ein halbes Jahrhundert später intensiv beschäftigte. Der Kongress wendete sich gegen Illusionen in “sogenannte demokratische Selbstverwaltung, [die] die Verwaltung ausschließlich in die Hände einer privilegierten Schicht legt, […], [und] hält die werktätigen Massen davon ab, ihre eigenen Geschicke zu verwalten.”[79] Es war für die Delegierten klar, dass “die Revolution der werktätigen Massen des Osten nicht Halt machen wird, nachdem die Herrschaft der ausländischen Imperialisten ausradiert wurde.”[80]

Skachko, der das Referat zur Agrarfrage hielt, begann mit der Frage der Unterentwicklung:

“Aufgrund verschiedener Bedingungen, vor allem aber aufgrund der Unterdrückung durch die westeuropäischen Kapitalisten, die ihnen die Möglichkeit einer eigenständigen Entwicklung verwehrten, haben die Bewohner dieser Länder keine eigene Industrie entwickelt und sind bis heute ausschließlich in der Landwirtschaft tätig.”[81]

Er adressierte das Problem der Organisierung der zersplitterten Bäuer*innenschaft. Für ihn bestand die Herstellung der Einigkeit darin,

“die Bauern zu Dutzenden und Hunderten von Organisationen aller Art zusammenzubringen, in landwirtschaftlichen und handwerklichen Erzeugerorganisationen und Genossenschaften sowie Konsumgenossenschaften aller Art, die die Bäuer*innenschaft mit allen Produkten der städtischen Industrie versorgen, die sie benötigt. Alle diese Organisationen werden die Bäuer*innenschaft von kommerziellen Zwischenhändlern befreien und es ihr ermöglichen, ihre Produkte direkt gegen die Produkte der Fabrikindustrie einzutauschen. Alle Zwischenhändler, alle Schmarotzer werden weggefegt, und die Werktätigen werden ihnen nicht den geringsten Anteil an dem, was sie produzieren, abliefern müssen.”[82]

Die politische Organisation, die auf diesen kollektiven Wirtschaftseinheiten basierte, sollte der Bäuer*innennsowjet sein. Die Genossenschaften sollten die Produktivität steigern und mit staatlicher Unterstützung Schritte in Richtung einer zunehmenden Verstaatlichung machen. Wie Rodney bereits die Anwendung von Gewalt bei der Kollektivierung ablehnte, ging es auch in den “Thesen zur Agrarfrage” um eine Überzeugung der Bäuer*innenschaft durch die Verbesserung ihrer Lebensumstände, das Vorbild kommunistischer Farmen, wie es zum Teil in Russland versucht wurde.[83]

Er betonte ebenfalls, dass die nationale Befreiung nicht darin enden dürfe, die Macht unter Beibehaltung des Kapitalismus auf eine lokale Elite zu übertragen. Dann würden “all die politisch-unabhängigen Länder des Osten ökonomisch abhängig bleiben.”[84]

Besonders weitsichtig und bemerkenswert war Skachkos Perspektive, sollte die sozialistische Revolution in den agrarischen Ländern scheitern:

“Die politische Unabhängigkeit würde sie nicht vor dem Eindringen des Industriekapitals bewahren, und mit diesem Eindringen oder mit der Bildung des einheimischen Industriekapitals und der Entwicklung der einheimischen Industrie auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln würde die Bäuer*innenschaft gezwungen sein, eine qualvolle Periode der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation zu durchlaufen, in der sie schließlich ruiniert, von ihrem Land vertrieben und alle zu Lohnarbeitern ohne eigenen Besitz gemacht würden. Und diese in Arbeiter verwandelte Bäuer*innenschaft würde von der einheimischen oder ausländischen Bourgeoisie in ihre Plantagen, Fabriken und Bergwerke getrieben und dort zu miserablen Löhnen für die Bereicherung der Kapitalisten arbeiten müssen – sie würden sich in einer noch schlimmeren Versklavung durch das Kapital befinden als heute.”[85]

Dies klingt noch einhundert Jahre später wie eine exakte Beschreibung dessen, was während dieser Zeitspanne in vielen Ländern Afrikas und Asiens vor sich ging.

Die Theorie der Permanenten Revolution war ein theoretischer Grundpfeiler der Kommunistischen Internationale. Der Sieg des Sozialismus konnte nur durch die internationale Revolution ermöglicht werden. Die neue Sowjetbürokratie, die hinter der Stalinclique stand, basierte auf der Unterentwicklung des Landes, denn sie wusste, wie sie sich ihren Einfluss durch die Verwaltung des Mangels sicherte. Um ihre Stellung zu sichern, erklärte die Bürokratie durch Stalin und Co., dass der Sozialismus in einem Land möglich wäre, denn der wirkliche Sieg des Sozialismus hätte den Mangel und damit unweigerlich auch sie beseitigt. Indem die Permanente Revolution angegriffen wurde, wurde das Fundament, auf dem die Dritte Internationale errichtet wurde, selbst angegriffen, wie sich zeigen sollte. Dieser Angriff mündete während des zweiten imperialistischen Weltkriegs 1943 in ihrer Auflösung, als die Notwendigkeit einer revolutionären Internationale nicht hätte größer sein können.

Die (neo)koloniale Revolution und die Permanente Revolution heute

Aus den vorhergehenden Abschnitten dürfte deutlich geworden sein, dass die Frage der permanenten Revolution 1905 und 1917 eine ebenso große Rolle spielte wie in den kolonialen Befreiuungskämpfen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Kampf gegen den Imperialismus und den Neokolonialismus währt fort und – wie Peluola Adewale in seinem Beitrag beschreibt – verschärft sich zur Zeit enorm. Die Frage, wie Bewegungen in den unterentwickelten Ländern nicht nur zu einem “Regime-Change” führen, der die Abhängigkeit von imperialistischen Nationen wie den USA, Deutschland, Frankreich usw. nicht beendet, stellt sich unmittelbar. Russland und China verfolgen eine oberflächlich gesehen weniger aggressive Taktik bei der Ausweitung ihres Einflusses im Gegensatz zu den Knebelverträgen von IWF und Weltbank als Instrumente westlichen Kapitals. Die Deals mit China zielen meist auf eine “win-win” Situation ab, wobei das “win” dabei vor allem auf Seite des chinesischen Kapitals und einiger günstiger Bedingungen für lokale Machthaber*innen, aber nicht für die verarmten Massen steht. Die Ersetzung der ökonomischen Abhängigkeit von einem imperialistischen Block mit der Abhängigkeit von einem anderen bietet keinen Ausweg für sie.

Nach Jahrzehnten der formal-politischen Unabhängigkeit wissen die ausgebeuteten Massen Afrikas sehr genau, dass eine eigene Flagge, so wichtig dieses Ereignis auch sein kann, nicht das Ende ihres Elend bedeutete. Die Überwindung des Kapitalismus und das Zerschlagen der Fesseln, die die imperialistischen Nationen ganzen Regionen angelegt haben, bleiben die dringendsten Aufgaben.

Die Voraussetzungen für eine dem westlichen Kapitalismus vergleichbare kapitalistische Entwicklung, wie sie von den Bürgerlichen für die neokolonialen Ländern gepredigt wird, sind seit der Formulierung der Permanenten Revolution nicht besser, sondern schlechter geworden.

Es gibt zwar einige exkoloniale Länder, die sich unter bestimmten historischen Bedingungen sogar zu regionalen Mächten entwickelt haben wie Brasilien, Indien oder Ägypten. Doch weder spielen sie im imperialistischen Machtgefüge die Rolle, die die USA, China oder Deutschland einnehmen, noch gibt es dort ansatzweise eine bürgerliche Demokratie wie in Westeuropa oder einen vergleichbaren Lebensstandard für die Mehrheit.

Dem gegenüber steht, dass sich die objektiven Bedingungen für eine sozialistische Revolution unter der Führung des Proletariats in diesen Ländern jedoch verbessert haben. In Südafrika, Nigeria, Südkorea und anderen ex- und neokolonialen Ländern hat sich über die Jahrzehnte seit der Unabhängigkeit eine zwar abhängige, aber deutlich vorhandene Bourgeoisie entwickelt. Die Faktoren dafür waren verschieden und sind unter anderem auf das Vorkommen bestimmter Ressourcen oder geostrategische Interessen der Großmächte zurückzuführen. Das hat die Entwicklung einer heimischen Bourgeoisie unter bestimmten Bedingungen befördert.

Aber auch das hat nicht zur Nachahmung der Entwicklung einer bürgerlichen Demokratie geführt, sondern vor allem zur Verschärfung der Klassengegensätze in den Ländern.

Zwar befindet sich die Klasse der Lohnarbeiter*innen in den meisten afrikanischen Ländern weiterhin zahlenmäßig in einer Minderheit, doch ihr Gewicht hat zugenommen. Die ursprüngliche Akkumulation, die Vertreibung der agrarischen Bevölkerung von ihrem Land ist, wie 1920 beschrieben, unaufhaltsam fortgeschritten und die Verstädterung nimmt zu.

Es gibt kein Land, in dem es nicht zumindest in den Ballungszentren ein Proletariat gibt. Das bedeutet nicht, dass jede Person, die ihre Ortschaft in Richtung Stadt verlässt zu eine*r Arbeiter*in nach europäischen Vorstellung mit fester Anstellung, regulären Arbeitszeiten, Lohnauszahlung usw. wird. Viele werden in eine halb-proletarische Existenz von informeller Arbeit, Tagelöhnerei oder, wo möglich, als kleine Selbstständige gezwungen.

Diese, jeden Tag in ihrer Existenz bedrohte Masse, bildet dennoch ein enormes revolutionäres Potential, denn die Millionen-Städte funktionieren nicht ohne diese informelle Arbeit. Aber auch ohne Teil eines Großbetriebs zu sein, sind die Probleme allgemein, Stromversorgung, fehlender Zugang zu jeglicher Infrastruktur, Hunger, finanzielle Not, zunehmend klimatische Bedrohung, persönliche Unversehrtheit, usw.

Dazu kommt die weitere Durchdringung der Welt durch die kapitalistische Warenproduktion. Marx und Engels sprachen in den 1840ern bereits von einem kapitalistischen Weltmarkt. Lenin und andere stellten in den 1910er Jahren fest, dass die Aufteilung der Welt unter die imperialistischen Nationen und ihre Konzerne abgeschlossen war. Dennoch war damals der Prozess der kapitalistischen Durchdringung nichts im Vergleich zu heute.

Die Eingliederung in globale Wertschöpfungsketten reicht bis in den kleinsten Produktionsstandort Asiens, bis in die kleinste Farm Afrikas. Wo vormals selbstständige Produzent*innen für einen lokalen oder regionalen kapitalistischen Markt tätig waren, sind sie jetzt Glieder eines Produktionsprozesses, der bis ins kleinste Detail von international tätigen Konzernen kontrolliert wird.

Diese Durchdringung enteignet die früher selbstständigen Handwerk*innen und Bäuer*innen, macht sie mittels direkter Überwachung oder indirekter Unterwerfung durch Verschuldung, restriktivem Zugang zu Technologie usw. zu höchstens scheinselbstständigen, aber direkt abhängigen Produzent*innen. Die Zwischenschichten werden ausradiert, die materiellen Unterschiede werden nivelliert, die Landarmut, sofern sie nicht in die Städte flüchtet, wird zum ländlichen Proletariat, das Boden bearbeitet, der ihm nicht gehört, verbleibt in der abhängigen Stellung des Pacht- oder Schuldbauerntums oder verhungert.

Gleichzeitig haben sich die Probleme der sich selbst bereichernden Elite, der abhängigen Kleinbourgeoisie in der Administration und die Kompradorenbourgeoisie, die die Interesse der Imperialist*innen in den neokolonialen Ländern durchsetzte, nicht verringert, auf die Rodney und andere bereits vor 50 Jahren und mehr hingewiesen haben. Der Klassenwiderspruch in diesen Nationen blieb und bleibt bestehen.

Auf der einen Seite mögen diese objektiven Voraussetzungen den Kampf für Sozialismus begünstigen, auf der anderen Seite wird der Widerspruch, der sich im Fehlen einer sozialistischen Kraft ausdrückt, die es schafft, diese Werktätigen hinter ihrem revolutionären Programm zu einen, immer größer. Jeder Tag, der ohne den Sturz des Kapitalismus vergeht, bedeutet konkret tausende Tote durch Hunger, Krankheit und Krieg und andere Ursachen, die ihre Grundlage in diesem System haben.

Rodney beschrieb in den 70er Jahren, warum der wachsende Zuspruch für den Marxismus und mit ihm für die Idee, dass man bei der formalen Unabhängigkeit nicht stehen bleiben könne und für Sozialismus kämpfe müsste, auf der praktischen Erfahrung dieser Zeit beruhte:

“Der Marxismus ist in der Dritten Welt auf dem Vormarsch, und ich glaube nicht, dass dies nur auf eine theoretische Raffinesse seitens der Marxisten selbst zurückzuführen ist – wenn dies überhaupt eine Rolle spielt. Vielmehr scheint mir dies auf die praktischen Erfahrungen der Dritten Welt in den letzten anderthalb Jahrzehnten zurückzuführen zu sein – die praktischen Erfahrungen, die gemacht wurden, seit die Länder insbesondere in Afrika und Asien ihre sogenannte Unabhängigkeit, ihre nominelle verfassungsmäßige Unabhängigkeit, erlangt haben. Seit ihrer Unabhängigkeit haben diese Länder bestimmte Erfahrungen gemacht; sie haben sich zum Beispiel auf den Weg gemacht, sich selbst zu entwickeln, was immer das für andere bedeutet. Aber sie hatten sehr oft die bewusste Vision, sich zu entwickeln, voranzukommen, und dabei oder bei dem Versuch, das zu tun, bedienen sie sich der bekannten bürgerlichen theoretischen Annahmen darüber, wie man sich entwickelt, sie bedienen sich bürgerlicher Berater, um ihre Vier- und Fünf-Jahres-Entwicklungspläne aufzustellen; sie bedienen sich bürgerlicher internationaler Experten, um ihnen zu sagen, wie sie loslegen sollen. Und das Ergebnis ist für jeden sichtbar. Es ist ein Versagen des bürgerlichen Denkens, wenn man so will, die gewünschten Ergebnisse zu liefern.”[86]

Das ist heute nicht anders. Niemand hat den praktischen Beleg für das Versagen des Kapitalismus in den neokolonialen Ländern direkter vor Augen, als die verarmten Massen, die dort leben. Während jedoch Anfang der 70er Jahren ein berechtigter Optimismus herrschte, dass sich der Sozialismus auf dem Vormarsch befindet, ist heute das Gegenteil der Fall. Die Arbeiter*innenbewegung insgesamt, aber besonders revolutionär-sozialistische Kräfte sind seit dem Fall der stalinistischen Staaten enorm zurückgeworfen. Mit dem Sieg des Kapitalismus mit den USA als führende Nation, wurde der Idee einer sozialistischen Umwälzung und dem Marxismus als zugrunde liegende Theorie großen Schaden zugefügt. Die Massen, deren anti-imperialistische Haltung einen verqueren Ausdruck auch in der Unterstützung von anti-amerikanischen Militärregimes zu Ausdruck kommt, müssen einen schmerzlichen Prozess durchlaufen, um festzustellen, dass Russland und China keine “besseren” Ausbeuter*innen als USA, Deutschland oder Frankreich sind. Ihre Schlussfolgerung kann nur darin liegen, den zerrissenen Faden der internationalen sozialistischen Revolution, den Rodney und viele andere knüpften, wieder aufzunehmen. Die Bildung revolutionärer Parteien in diesen Ländern aus den klassenbewussten Elementen des städtischen Proletariats und der Armut in Stadt und Land ist eine unabdingbare Voraussetzung, um diesen Prozess in Gang zu setzen und zu beschleunigen.


Quellen und Verweise:

[1] Wenn wir von Unterentwicklung schreiben, ist dies nicht wertend gemeint. Wir stützen uns dabei auf Walter Rodneys Verständnis von Entwicklung und Unterentwicklung, wie er es zu Beginn dieses Buchs formuliert: “Obviously, underdevelopment is not absence of development, because every people have developed in one way or another and to a greater or lesser extent. Underdevelopment makes sense only as a means of comparing levels of development. It is very much tied to the fact that human social development has been uneven and from a strictly economic viewpoint some human groups have advanced further by producing more and becoming more wealthy.” WEAU S.

[2] Epigonen (griechisch für „Nachgeborene“) – in der griechischen Mythologie wurden die Söhne der „Sieben gegen Theben“, die ebenfalls gegen Theben Krieg führten und es zerstörten, als Epigonen bezeichnet. Im übertragenen Sinne werden damit geistige Nachfahren – besonders, im abwertenden Sinne, unbedeutende Nachahmer*innen – bezeichnet. Trotzki bezeichnete die Stalinist*innen vor allem in der zweiten Hälfte der 1920er oft als Epigonen von Marx und Lenin.

[3] Sinowjew, Grigori Jewsejewitsch (1883-1936) – Bolschewik. Er wurde 1901 Sozialdemokrat und 1903 Bolschewik. Auf dem Londoner Parteitag 1907 wurde er ins Zentralkomitee gewählt, 1908 wurde er verhaftet und emigrierte nach seiner Freilassung ins Ausland, wo er der Redaktion des Zentralorgans der Bolschewiki, „Sozialdemokrat”, angehörte. In den Jahren des Krieges war er ein enger Mitarbeiter Lenins; mit diesem zusammen nahm er an den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal teil. Nach der Februarrevolution kehrte er mit Lenin nach Russland zurück. In den Oktobertagen 1917 war er, zusammen mit Kamenjew, gegen den Aufstand. Nach dem siegreichen Aufstand forderte er die Bildung einer Koalitionsregierung „aller sozialistischen Parteien” und trat aus dem Zentralkomitee der Partei aus. Nach der Oktoberrevolution war er bis 1926 Vorsitzender des Petersburger Sowjets. Von 1919 bis 1926 war er Vorsitzender des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale. 1923/24 bildete er mit Stalin und Kamenew die „Troika“ gegen Trotzki.

[4] Stalin, Josef Wissarionowitsch (1878-1953) – einer der wichtigsten Organisator*innen der bolschewistischen Fraktion vor dem Krieg. Auf der Aprilkonferenz im Jahre 1917 wurde er in das Zentralkomitee gewählt. Zusammen mit Swerdlow leitete er die organisatorische Arbeit des ZK in der Epoche der Kerenskiade. Auf dem 2. Sowjetkongress wurde Stalin zum Volkskommissar für nationale Angelegenheiten gewählt. Dieses Amt behielt er bis zur Auflösung des Kommissariats im Jahr 1923. In den Jahren des Bürgerkriegs war Stalin auch in der Armee tätig, als Mitglied des Revolutionären Militärrats der Republik und an bestimmten Fronten. In den letzten Jahren arbeitet er als Generalsekretär des ZK der RKP. Er bildete eine Geheimfraktion mit Sinowjew und Kamenjew gegen Trotzki, 1925-28 ein Bündnis mit Bucharin gegen die Leningrader und Vereinigte Opposition. Von Zugeständnissen an die Kapitalisten schwenkte er 1928 auf überstürzte Kollektivierung der Landwirtschaft und Industrialisierung um, ab 1936 begann er die Ausrottung der alten Bolschewiki, 1941 brachte Stalins Vertrauensseligkeit gegenüber Hitler die Sowjetunion an den Rand der Katastrophe. Im Krieg schürte er russischen Nationalismus, 1953 starb er während der Vorbereitung einer neuen Terrorkampagne.

[5] Bucharin, Nikolai Iwanowitsch (1888-1938) – einer der Führer*innen der RKP. Er wurde im Jahre 1888 geboren. Das erste Mal wurde er im Jahre 1909 arretiert; anschließende Verhaftungen zogen die Verbannung ins Archangelsker Gouvernement nach sich, von wo Bucharin floh. Danach emigrierte Bucharin ins Ausland, beteiligte sich an der Arbeit der bolschewistischen Auslandsorgane und arbeitete an in Russland herausgegebenen Zeitungen mit. Seit dem Beginn des imperialistischen Krieges wurde Bucharin in unterschiedlichen Ländern (in Schweden, Englands, Österreich) für seine internationalistische Tätigkeit arretiert.

Seit dem Juli des Jahres 1917 war Bucharin ständiges Mitglied des ZK, er war Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern seit dem Anfang dieser Organisation und Redakteur des Zentralorgans der RKP „Prawda“. Nach Lenins Tod entwickelte sich Bucharin zum Parteirechten. Nach Stalins Sieg über die Leningrader Opposition um Sinowjew und Kamenjew bildete er mit Stalin die Parteispitze und wurde Vorsitzender der Komintern. 1929 bekämpfte Stalin ihn als „Rechten“. Bucharin kapitulierte und wurde 1934 Chefredakteur der „Iswestija“. 1937 wurde er verhaftet und nach dem dritten Moskauer Prozess 1938 hingerichtet.

[6] Trotzki, Leo: Die Permanente Revolution. Fischer Frankfurt, 1969, S. 21

[7] Parvus Alexander, eigentlich Israel Lasarewitsch Helphand (1869-1924) war ein russischer Emigrant und theoretisch gebildet. Er führte in der deutschen Sozialdemokratie schon Ende der 90er Jahre seinen theoretischen Kampf gegen Bernstein und gab dem Revisionismus des letzteren eine Abfuhr. In diesen ganzen Jahren trat Parvus mit einer Reihe von Artikeln auf, in welchen er die Praxis des revolutionären Marxismus begründete und die deutschen Opportunist*innen kritisierte: Auer, Heine und andere. In einer anderen Artikelserie verteidigte er die Idee des Generalstreiks als Mittel des revolutionären Kampfes. In der ganzen Zeit schrieb er eine Reihe glänzender ökonomischer Untersuchungen. In der russischen Sozialdemokratie schloss sich Parvus etwa im Jahre 1904 den Menschewiki an. Vor der Revolution trennte er sich von ihnen, verteidigte in den Jahren 1905-1906 zusammen mit L. D. Trotzki die Theorie der „permanenten Revolution“. Nach der Niederlage der Revolution wurde Parvus als einer der Leiter*innen des Petrograder Sowjets arretiert und nach Sibirien verbannt. Seine Tätigkeit als Revolutionär beendete Parvus mit Beginn des Krieges und wurde Germanophiler, aber später einfach Spekulant. Nach dem Oktober versuchte er sich zu rehabilitieren, aber erfolglos. In den letzten Jahren schloss er sich den Anhänger*innen Scheidemanns an, gab eine Zeitschrift heraus, die die verräterische Politik der Sozialdemokratie theoretisch begründete.

[8] Vgl. Kautsky/Luxemburg/Mehring/Parvus/Trotzki: Auf dem Weg zur Permanenten Revolution. Texte zur Russischen Revolution 1905. Manifest Berlin, 2017.

[9] Die Aufgaben der bürgerlichen Revolution lassen sich nach Marx und Engels in folgende Punkte zusammenfassen: die Herstellung des Nationalstaates, die Konstitution des Staates auf der Grundlage der Volkssouveränität, Durchsetzung der bürgerlichen Herrschaft möglichst in Form einer demokratischen Republik, die Aufhebung der Leibeigenschaft und damit die Trennung der Produzent*innen von den Produktionsmitteln (Vertreibung der Bäuer*innen von ihrem Land und deren Verwandlung in freie Lohnarbeiter*innen), die Aufhebung der Zünfte, Freiheit der Kapitalanlage und damit die freie Entwicklung der Produktivkräfte.

[10] Ausführlich dazu: Trotzki, Leo: Ergebnisse und Perspektiven. In: Trotzki, Leo: Die Permanente Revolution. Mehring Essen, 2016.

[11] HEUA S

[12] HEAU S

[13] Siehe Abschnitt “Die Permanente Revolution bei Rodney”

[14] Vgl. Marx/Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850. In: Marx/Engels: Werke. Band 7. Dietz Berlin, 1971. S 244 – 254.

[15] Trotzki, Leo: Die Permanente Revolution. Fischer Frankfurt, 1969, S. 29

[16] Kuomintang (oder Guomindang, Chinesische Nationalpartei) – entstand 1919 unter Sun Yat-sen aus verschiedenen Vorläuferorganisationen. Die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas (KPCh) arbeitete auf Rat der Kommunistischen Internationale in der Kuomintang mit, auch als es nach dem Tod Sun Yat-sens 1925 unter seinem Nachfolger Tschiankaischek einen Rechtsruck gab und 1925 die zweite chinesische Revolution begann. Tschian arbeitete mit der KPCh zusammen, solange ihm das politisch nutzte, unterdrückte sie 1927 brutal. Im Zweiten Weltkrieg versuchte die Kuomintang, dem Kampf gegen die japanischen Besatzer auszuweichen und ihre Kräfte für den zu erwartenden Bürgerkrieg gegen die KPCh zu sparen. Die Folge war aber, dass sich die KPCh in der Bevölkerung verankern konnte und den Bürgerkrieg 1946-49 gewann. Die Kuomintang musste nach Taiwan fliehen, wo sie jahrzehntelang diktatorisch herrschte.

[17] Ebd., S. 117

[18] Diktatur wird hier nicht im Sinne von gewaltsamer Unterdrückung durch eine Minderheit (wie in Militärdiktatur) verstanden, sondern als Herrschaft des Proletariats im Gegensatz zur Herrschaft (Diktatur) der Bourgeoisie/der Kapitalist*innenklasse.

[19] Ebd., S. 129ff.

[20] Dt.: Die fortwährende Bedeutung von Walter Rodneys “Wie Europa Afrika Unterentwickelte”

[21] Karim F Hirji: The enduring relevance of Walter Rodney’s ‘How Europe Underdeveloped Africa’, Daraja Press 2017, Wakefield.

[22] Cyril Lionel Robert James (1901 – 1989) war ein bedeutender schwarzer Historiker und Sozialist aus Trinidad. Er gehörte zur ersten Generation der panafrikanischen Bewegung und beeinflusste die folgenden Generationen, unter ihnen Walter Rodney. Während der 1930er und 1940er Jahre gehörte James zur trotzkistischen Bewegung (unter anderem als Mitglied der Socialist Workers Party in den USA) und verfasste während dieser Zeit erste wichtige Werke wie “World Revolution 1917–1936. The Rise and Fall of the Communist International.” (dt.: Weltrevolution 1917 – 1936. Aufstieg und Fall der Kommunistischen Internationale” und “„The Black Jacobins: Toussaint L’Ouverture and the San Domingo Revolution.“ (dt.: Die Schwarzen Jakobiner. Toussaint L’Ouverture und die Haitianische Revolution. 2021 vom Karl Dietz Verlag Berlin neu aufgelegt).  Ab den 1950er Jahren wandte er sich vom Bolschewismus ab und hielt engen Kontakt zu Führer*innen der Befreiungsbewegung in Afrika und der Karibik.

[23] Frantz Fanon (1925 – 1961) stammte aus der französischen Überseekolonie Martinique und schloss sich als junger Erwachsener als Freiwilliger der französischen Armee im Kampf gegen die Wehrmacht in Nordafrika an. Seine persönlichen Erfahrungen mit dem Rassismus innerhalb der französischen Truppen bestärkten seine Erfahrungen, die er als Schwarzer (und damit Mensch zweiter Klasse in Frankreich) auf Martinique bereits gemacht hat. Fanon nahm als Arzt am algerischen Befreiungskrieg teil und wurde nach der Unabhängigkeit Repräsentant der algerischen Regierung. Seine Erfahrungen mit dem Kolonialsystem und seine Vorstellungen der antikolonialen Revolution verarbeitete er u.a. in den bekannten Werken “Schwarze Haut, weiße Masken” und “Die Verdammten dieser Erde.”

[24] Amílcar Cabral (1924 – 1973) war Gründer und langjähriger Anführer der Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde (PAIGC). Kurz vor der Unabhängigkeit des Landes putschte ein Teil der Unabhängigkeitsarmee und Cabral wurde ermordet. Er stand, im Gegensatz zu den Machthabern Nkrumah in Ghana und Touré in Guinea, für den Versuch, einen sozialistischen Kurs im Zuge des Unabhängigkeitskampfes einzuschlagen.

[25] Zu Rodneys Kritik an Fanon siehe Text von Bafta Sarbo, Abschnitt SEITE

[26] Rodney macht sich, wie damals und zum Teil noch heute üblich, die Selbstbezeichnung der Sowjetunion u.a. als “sozialistisch” zu eigen. Er selbst hat der These der Verwirklichung des Sozialismus widersprochen (siehe weiter unten). Wir würden von bürokratisch gelenkten Planwirtschaften oder degenerierten/deformierten Arbeiter*innenstaaten sprechen.

[27] HEUA S.

[28] Rodney, Walter: Decolonial Marxism. Essays from the Pan-African Revolution. Verso London, 2022. S. 61f.

[29] Die reformistische sozialdemokratische Partei, im Gegensatz zur revolutionären sozialdemokratischen Partei, den Bolschewiki

[30] Lenin, Wladimir I.: Aprilthesen, Werke Band 24, Dietz Berlin, 1959. S. 4.

[31] Dt.: Die Russische Revolution

[32] Dt.: Marx, Marxismus und die Russische Linke

[33] Rodney, Walter: The Russian Revolution. A View from The Third World. Verso London, 2018. S. 46

[34] Im Vorgriff auf die nächsten Abschnitte zur Permanenten Revolution lohnt es sich, etwas länger aus diesem Abschnitt der “Ansprache” zu zitieren, da Trotzki selbst auf diesen Aspekt zurück kam: “Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.” (Marx/Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850. In: Marx/Engels: Werke. Band 7. Dietz Berlin, 1971. S 247f.)

[35] Dt.: Trotzki als Historiker der Russischen Revolution.

[36] Trotzki, Leo: Die Geschichte der Russischen Revolution. Band 1. Manifest Berlin, 2021. S. 14

[37] Ebd.

[38] Alle Zitate: Rodney, Walter: Decolonial Marxism. Essays from the Pan-African Revolution. Verso London, 2022. S. 83f. (Dt.: Dekolonialer Marxismus. Essays aus der Pan-Afrikanischen Revolution)

[39] In seinem Text “Marxism as a Third World Ideology” (Dt.: Marxismus als eine Dritte-Welt-Ideologie)  positioniert er sich gleich zu Beginn: “Im Zuge dieser Entwicklung hat es zwangsläufig auch eine Tendenz zur Fraktionierung gegeben – eine Tendenz, logischerweise die Position einzunehmen, die von den Anhängern des Marxismus oder des wissenschaftlichen Sozialismus als die am meisten theoretische und letztlich praktische Interpretation dessen, was Marxismus ist, angesehen wird. Ich für meinen Teil werde es der Einfachheit halber von vornherein vermeiden, in eine Diskussion einzutreten, in der zwischen rivalisierenden Anwärtern auf den Titel Marxismus ein Urteil gefällt wird. Ich glaube nicht, dass es unsere Analyse in der zur Verfügung stehenden Zeit voranbringt, wenn wir versuchen, zwischen den so genannten Stalinisten und den so genannten Trotzkisten, zwischen der einen oder der anderen Seite in der chinesisch-sowjetischen Auseinandersetzung, zwischen der alten und der neuen Linken zu entscheiden, wer eigentlich Marxist-Leninist ist. Das heißt, ich werde der Einfachheit halber die Komplikationen vermeiden, die mit diesen sehr oft polemischen Unterscheidungen verbunden sind. Darüber hinaus glaube ich jedoch, dass man prinzipiell argumentieren kann, dass es ein gemeinsames Verständnis – oder einen Korpus eines gemeinsamen theoretischen Verständnisses – unter all denen gibt, die sich zum Marxismus bekennen, und dass es einen kleineren, aber dennoch bedeutenden Bereich gemeinsamer Praxis gibt – eine gemeinsame antikapitalistische und antiimperialistische Praxis – unter diesen rivalisierenden Gruppen. Und das ist einer der Gründe, warum ich diese Behauptung vermeide. Außerdem werde ich an einem späteren Punkt der Analyse darauf hinweisen, dass die Einführung von marxistischem Fraktionalismus in politische Diskussionen in der Dritten Welt a priori meist destruktiv und bestenfalls sinnlos ist.” Ebd. S. 52

[40] Dt.: Die Russische Revolution. Eine Betrachtung aus der Dritten Welt.

[41] Rodney, Walter: The Russian Revolution. A View from The Third World. Verso London, 2018. S. LIX

[42] Ebd., S. 9

[43] Linden Forbes Sampson Burnham (1923 -1985) war von 1964 bis zu seinem Tod der zunehmend diktatorische Staatschef Guyanas. Nach seiner Rückkehr in das Land im Jahr 1975 organisierte Rodney die “Working People’s Alliance” (Dt.: Allianz der arbeitenden Menschen), eine multiethnische Partei, die auf den Sturz Burnhams hinarbeitete. Um deren wachsenden Einfluss zu brechen, ging Burnham gewaltsam gegen ihre Führer*innen vor. Rodney, mittlerweile ein international bekannter Aktivist und wichtigster Kopf der Partei, wurde 1980 Opfer eines Bombenanschlags.

[44] Dt.: Zur Demokratie: Lenin, Kautsky und Luxemburg

[45] Ebd., S. 116

[46] Dt.: Der Aufbau des sozialistischen Staats

[47] Ebd., S. 175ff.

[48] Dt.: Probleme der Entwicklung der Dritten Welt

[49] Rodney, Walter: Decolonial Marxism. Essays from the Pan-African Revolution. Verso London, 2022. S. 148

[50] S. Abschnitt bei Bafta Sarbo

In “Class Contradictions in Tanzania” (dt.: Klassenwidersprüche in Tansania) schrieb Rodney: “Die Aufforderung an die Menschen, umzuziehen, ein neues Leben zu beginnen, sich an einer völlig neuen Produktionsform zu beteiligen, würde natürlich eine erhebliche Politisierung erfordern. Dies war die Prämisse, auf der die Umgruppierung in China beruhte – von der gegenseitigen Hilfe über die Brigaden bis hin zu den Kommunen. Es handelte sich in erster Linie um einen politischen Prozess, aber die Bürokraten konnten ihn nur auf einen bürokratischen Prozess reduzieren, nicht auf einen Prozess, bei dem es darum geht, in und mit der Masse der Bevölkerung einen Wandel zu bewirken, sondern auf eine Frage der Logistik und der Zahlen und der Karten mit kleinen Stecknadeln, die zeigen, wo die Ujamaa-Dörfer liegen und was wo wächst. Sie können sich ein Problem vorstellen, bei dem es heißt: ‘Wir müssen eine bestimmte Anzahl von Menschen von diesem Punkt zu einem anderen bringen, und wir brauchen so viele Lastwagen, also besorgen Sie die Lastwagen, fahren Sie in das Gebiet, lassen Sie die Polizei mitkommen und zerstören Sie die Dörfer der Menschen, und sagen Sie ihnen, dass es für sie viel besser sein wird. Vielleicht klappt es ja, vielleicht entscheiden diese Menschen, dass es besser für sie ist.’ Aber in der Welt gibt es viele Praktiken, bei denen bestimmte Personen anderen Personen sagen, was gut für sie ist, und ihnen sagen, dass sie sie zu ihrem eigenen Besten umbringen werden, wenn es nötig ist. Das Ergebnis davon sehen wir heute in Südostasien. Aus einer sozialistischen Perspektive ist es natürlich immer gefährlich, wenn sich die Bürokratisierung im Namen des Sozialismus breit macht. Das geschah natürlich unter Stalin, und es hat dem Sozialismus lange Zeit einen gewissen Schaden zugefügt. Deshalb betrachtet man auch diese Erscheinung mit einiger Sorge.” Rodney, Walter: Decolonial Marxism. Essays from the Pan-African Revolution. Verso London, 2022. S. 269

[51] Rodney, Walter: The Russian Revolution. A View from The Third World. Verso London, 2018. S. 174

[52] Rodney, Walter: Decolonial Marxism. Essays from the Pan-African Revolution. Verso London, 2022. S. 287f.

[53] Rodney, Walter: The Russian Revolution. A View from The Third World. Verso London, 2018. S. 240f.

[54] Trotzki, Leo: Die Geschichte der Russischen Revolution. 2 Bände und Ergänzungsband. Manifest Berlin, 2021.

[55] Rodney, Walter: The Russian Revolution. A View from The Third World. Verso London, 2018. S. 82.

[56] WEAU S.

[57] Zu seiner in den darauffolgenden Jahren formulierte Kritik an den nationalistischen Führern und der Behinderung der Entwicklung hin zum Sozialismus durch die neue (klein)bürgerliche Staatsbürokratie in den exkolonialen Staaten, siehe den Beitrag von Bafta Sarbo im vorliegenden Band.

[58] Lenin, Wladimir I.: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916), Werke Band 22, Dietz Berlin, 1960. S. 146.

[59] Ebd. S. 146f.

[60] Ebd. S. 149f.

[61] WEUA S.

[62]  Lenin, Wladimir I.: Das nationale Programm der SDAPR (1913), Werke Band 19, Dietz Berlin, 1977. S. 540.

[63] Der irische Free State ging aus dem Bürgerkrieg gegen die englische Besatzung hervor. 1922 einigte sich ein Teil der nationalistischen Kräfte mit der englischen Krone auf die Gewährung von Autonomierechten für Irland (bis auf die sechs Counties des heutigen Nordirland). Die Krone und der Gouverneur als Vertreter des Königshauses blieben die Oberhäupter des Free States. Der radikalere Teil der Nationalist*innen um de Valera verweigerte diesen Kompromiss und es kam zu anhaltenden Kämpfen zwischen beiden Seiten, bis 1937 endgültig die politische Unabhängigkeit der heutigen Republik Irlands vollzogen wurde.

[64] Eine Formulierung, die Kommunist*innen heute nicht mehr verwenden, aber damals durchaus üblich war. So war die Zeitung “The Negro Worker” beispielsweise das in Hamburg herausgegebene Zentralorgan des zu Komintern gehörenden “International Trade Union Committee of Negro Workers.”

[65]  Lenin, Wladimir I.: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage, Werke Band 31, Dietz Berlin, 1966. S. 136.

[66] Rodney, Walter: The Russian Revolution. A View from The Third World. Verso London, 2018. S. IVII

[67] Lenin beschreibt in seiner Polemik gegen Kautsky 1918 mit eigenen Worten die Änderung dieser Position im Kapitel “Liebedienerei vor der Bourgeoisie unter dem Schein der ökonomischen Analyse”. (Wladimir I. Lenin: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Manifest Berlin, 2023.)

[68] Lenin, Wladimir I.: Bericht der Kommission für die nationale und die koloniale Frage 26. Juli [1920], Werke Band 31, Dietz Berlin, 1966. S. 232.

[69] Lenin, Wladimir I.: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage, Werke Band 31, Dietz Berlin, 1966. S. 137f.

[70] Ebd. S. 137.

[71] https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/komintern-1/2-weltkongress/3-leitsaetze-ueber-die-nationalitaeten–und-kolonialfrage

[72] https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/komintern-1/2-weltkongress/4-ergaenzungsthesen-ueber-die-nationalitaeten–und-kolonialfrage

[73] Viele nahmen bei der Anreise große Gefahren in Kauf, einige Delegierte aus Persien verloren dabei sogar ihr Leben.

[74] Bela Kun (1886 – 1938) war ein ungarischer Kommunist und Anführer der dortigen Rätebewegung. Nach deren Niederschlagung war er in Deutschland und anderen Ländern als Vertreter der Kommunistischen Internationale tätig und schloss sich nach 1923 der Fraktion um Stalin an. 1938 fiel er einer Säuberungswelle zum Opfer.

[75]“Ganz kurz möchte ich mich gegen die veraltete Auffassung aussprechen, wonach die Völker, die noch keine Phase der kapitalistischen Entwicklung und damit der bürgerlichen Demokratie durchlaufen haben, all dies erleben müssen, bevor sie zum Sowjetsystem übergehen können. Diese Vorstellung wird nur deshalb aufrechterhalten, um die ärmste Bäuer*innenschaft des Ostens noch länger in der Gewalt der Emire, Paschas, Beys und ausländischen Kolonialisten zu halten. Ein weiterer Einwand, der gegen die Bildung von Sowjets im Osten vorgebracht wird, lautet, dass die Diktatur des Proletariats ohne ein Industrieproletariat unmöglich ist, und im Osten ist die Zahl des Industrieproletariats verschwindend gering. Dem entgegnen wir: ‘Im Westen ist die Sowjetmacht in der Tat die Form und der Ausdruck der Diktatur des Proletariats, aber im Osten, wo das ausgebeutete Element nicht die Industriearbeiter, sondern die ärmste Bäuer*innenschaft ist, muss letztere auch das führende Element in den Sowjets sein.’” Pearce, Brian: Congress of the Peoples of the East. Baku, September 1920. Stenographic Report. New Park Publications London, 1977. S. 126.

[76] Ebd. S. 124.

[77] Heute, ohne die Existenz eines Sowjetstaats als Verbündeten, ist die international Ausweitung der Revolution in der neokolonialen Welt und die Mobilisierung der Arbeiter*innen in den imperialistischen Nationen eine unmittelbare Überlebensfrage.

[78] Ebd. 127ff.

[79] Ebd. S. 129.

[80] Ebd. S. 128.

[81] Ebd. S. 130.

[82] Ebd. S. 137.

[83] Anklänge an diese Experimente fand man in Tansania, wo mit den Ujamaa die Vorstellung einer sozialistischen Kommune verbunden war. Rodney beteiligte sich aktiv an der Arbeit in einer dieser Kommunen und hegte große Hoffnungen in das Potential, das in ihnen steckte. Im Laufe seines Aufenthalts in Tansania stellte er jedoch fest, dass die Umsetzung rein formal und bürokratisch war und sich daraus keine wirkliche Selbstverwaltung der ländlichen Bevölkerung entwickelte.

[84] Ebd. S. 138.

[85] Ebd.

[86] Rodney, Walter: Decolonial Marxism. Essays from the Pan-African Revolution. Verso London, 2022. S. 66