Freiheit 2.0 oder Spaltung 2.0?

Starkes Zeichen: Indien nach dem Generalstreik

Die Massenbewegung der letzten Monate hat in Indien eine neue gesellschaftliche Phase eingeläutet – sowohl aus bürgerlicher Sicht als auch aus der Kampfperspektive der Arbeiter*innenklasse und der großen Mehrheit der Unterdrücken. 

von Jagadish Chandra, Bangalore

Indien, mit seiner Bevölkerung von 1,34 Milliarden, ist gegliedert in 29 Bundesstaaten und sechs Unionsterritorien. Aus dem Grund waren Klassenkämpfe jahrelang überwiegend zersplittert, fokussierten oft auf einzelne Themen und beschränkten sich auf einzelne Gebiete oder Bundesstaaten. Die herrschende Klasse hat diese Situation ausgenutzt und war bis dato erfolgreich darin, die Ausbrüche von sozialen Unruhen an der Frage von Armut, Arbeitslosigkeit, Kastengräueltaten sowie Gewalt gegen Frauen und Minderheiten einzudämmen. Selbst Angriffe auf diverse Nationalitäten und ethnische Minderheiten sind unbeantwortet geblieben und haben dem Image von Indien als einen Nationalstaat nicht geschadet. 

Aber wie Karl Marx gesagt hat, braucht die Revolution manchmal die Peitsche der Konterrevolution. Die rechten, offensichtlich kommunalistischen (die verschiedenen Gemeinschaften gegeneinander ausspielend, A.d.Ü.) und aggressiv neoliberalen Maßnahmen der Regierung von Modi und seiner Partei, Bharatiya Janata Party (BJP – Indische Volkspartei), haben soziale und politische Unruhen im gesamten Land ausgelöst, die sich gegen ihren spalterischen Umgang mit der Staatsbürgerschaft richten. 

Zum ersten Mal seit siebzig Jahren, als Indien die Unabhängigkeit vom britischen Imperialismus erkämpft hat, kommen Menschen in jeder Stadt, jeder Großstadt und jedem Bundesstaat auf die Straße, um gegen das neue Gesetz zu protestieren. Es handelt sich dabei um das Staatsbürgerschaftsgesetz (Citizenship Amendment Act- CAA), das gänzlich islamophob wie kommunalistisch ist und versucht, 200 Millionen Muslime und Muslimas androht, ihnen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. 

Einzigartige landesweite Bewegung

Es ist eine erfreuliche und einzigartige Entwicklung, dass das CAA, das auf eine kommunalistische Spaltung abzielt, einen gegenteiligen Effekt auslöste. Die Bewegung gegen das CAA geht Hand in Hand mit einer beispiellosen Solidarität zwischen Menschen verschiedener Religionen und Communities. Studentische Jugend, Frauen – Muslime und Muslimas wie Hindus – beteiligen sich an den Protesten in ganz Indien. 

In den letzten zweieinhalb Jahrzehnten fanden in Indien nicht weniger als 19 Generalstreiks statt; die meisten von ihnen wurden von linken Gewerkschaften geführt und richteten sich gegen neoliberale Maßnahmen der Kongresspartei und der BJP-Regierung (der beiden großen Parteien in Indien, A.d.Ü.). Die Beteiligung an den Streiks wuchs von zehn Millionen in den 80ern bis auf mehr als 220 Millionen am achten Januar diesen Jahres – eine Massenbeteiligung der Arbeitenden im Banksektor, Handel, Öffentlichen Dienst und Teilen der Industrie. Trotzdem wird diese kraftvolle Bewegung gebremst durch das Fehlen eines Kampfprogramms und einer revolutionären Perspektive bei der Führung, mit welchen sich die Bewegung mit anderen sozialen Bewegungen vereinen könnte mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verändern und sie aus den Fesseln des Kapitalismus zu befreien. 

Ohne Zweifel hat Indien im Vergleich zum Rest der Welt große kommunistische Parteien. Dazu gehören vor allem die Kommunistische Partei Indiens (Marxist- CPI(M)) und die Kommunistische Partei Indiens (CPI), die Tausende Mitglieder und immense finanzielle Mittel haben, die sie aus ihren Vorfrontorganisationen, wie den Gewerkschafen oder Frauen- und Jugendorganisationen, schöpfen. Allerdings fehlt ihnen ein klares Programm, das den Kapitalismus und das Kastensystem herausfordert. 

Mehr noch, die Führung der kommunistischen Parteien und ihrer Gewerkschaften hat die krisenhafte kapitalistische Herrschaft in Indien gestützt, statt zu versuchen, sie zu stürzen. Für sie ist Sozialismus nur eine leere, dekorative Phrase, die man am Ersten Mai oder bei einer Streikaktion ruft.

Kapitalismus in Indien

Das Versagen der Bourgeoisie in Indien ist so offensichtlich, dass man kein Genie sein muss, um die Notwendigkeit einer Veränderung einzusehen. Es gab nicht mal einen Versuch, die historischen Aufgaben des Bürgertums zu erfüllen, die in Indien ausstehen. Dazu gehört unter anderem die Beseitigung der unmenschlichen und archaischen Segregation der Menschen durch das mittelalterliche Kastensystem, das bis heute existiert und als „einzigartige Kultur Indiens“ verkauft wird. 

Die Unterdrückung der Frau bis zur Vergewaltigung und Mord im Namen „der Ehre“ ist die hässliche Fratze Indiens im 21. Jahrhundert. Die herrschende Klasse prahlt mit dem jungen Alter der indischen Bevölkerung. Dabei benutzen sie die Jugend als einen Trumpf in Verhandlungen mit internationalen Investoren, als ob sie hungrige kapitalistische Haie mit dem Versprechen einer jungen Beute ködern könnten.

Es existiert kein gesetzlicher Schutz, der einen Mindestlohn sicherstellen oder wahlloses “heuern und feuern” verhindern würde – und das in einem Land, das sich in seiner Verfassung immer noch als eine „sozialistische“ Republik bezeichnet! Sogar die minimalsten sozialen Errungenschaften, die bis heute erhalten geblieben sind, befinden sich jetzt unter Angriff des kommunalistischen und neoliberalen Regimes. 

Führung

Der Generalstreik am achten Januar wird in die Annalen eingehen als der weltweit größte Streik in der Geschichte der Arbeiter*innenklasse. Gleichzeitig hat er nur wenige Wochen nach dem Einzug des Klassenfeindes Modi mit einer gewaltigen Mehrheit in das Parlament stattgefunden. Dieser Widerspruch ergibt sich aus dem Charakter der sogenannten Führung der Arbeiter*innenklasse und der unterdrückten Bevölkerung Indiens, insbesondere dem Charakter der kommunistischen Parteien. 

Ihre Führer, die leider immer noch auf der Spitze der Bewegung stehen, agieren nicht nach den sozialistischen Ideen des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels oder der Aprilthesen von Lenin. Stattdessen agieren sie nach dem Mantra der Alternativlosigkeit. Ihr einziger Kampfschrei lautet: „Es gibt keine Alternative zum Kapitalismus“ und ihr Programm scheint auf wenige Worte hinauszulaufen, nämlich „gib nach oder stirb“.

Die kommunistischen Parteien haben sogar die Chance auf einen Massenkampf verpasst nach dem Fiasko der Geldentwertung im November 2016, von der die gesamte Bevölkerung betroffen war und durch welche im mehrwöchigen ökonomischen Chaos 180 Menschen ihr Leben verloren haben. Ähnlich verhielten sie sich, als im Juli 2017 das Modi-Regime große Wut bei Zehntausenden auslöste durch die Einführung einer Steuer auf Güter und Dienstleistungen. Die Steuer hat vor allem die Armen getroffen, aber auch das Kleinbürgertum und die Bessergestellten waren in Kampfbereitschaft. Die so genannten linken Parteien jedoch haben den Ärger nicht dazu genutzt, einen Gegenschlag zu organisieren. 

Die „kommunistischen“ Parteien sind wie Strauße, die ihren Kopf in den Sand stecken und beharrlich ablehnen, Chancen zu erkennen, um die Herrschaft von Modi und dem Kapital herauszufordern. Sie würden selbst Marx und Lenin verjagen, wenn diese ihnen einen Vorschlag für einen erfolgreichen revolutionären Kampf unterbreiten würden.  

Eine Chance und eine Gefahr

Teile der indischen Intelligenz und der Medien ziehen einen Vergleich zur Erkämpfung der Unabhängigkeit vom britischen Kolonialismus im Jahr 1947 und beschreiben heutigen Kampf gegen das CAA und das Regime von Mobi als „Freiheit 2.0“. Aber durch den Mangel revolutionärer Führung und korrekter Perspektiven entsteht die Gefahr einer „Spaltung 2.0“. 

Nichtdestotrotz: Die massiven Kämpfe gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz, die gerade auf den Straßen in Indien stattfinden, sind ein Hilfeschrei gegen die Unterdrückung aller Nationen und insbesondere religiöser Minderheiten. Sie fordern die faschistischen Methoden des Regimes heraus und bilden ein Fundament für den Aufbau einer machtvollen sozialistischen Alternative der Arbeiter*nnenklasse.

Plakat der New Socialist Alternative gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz in Indien
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