Die Angriffe auf demokratische Rechte in der Corona-Krise
Während der französische Präsident Macron den „Krieg“ gegen das Corona-Virus führt, patrouilliert das Militär in den leeren Straßen. In Ungarn kann der Ministerpräsident Orbán nach der Verabschiedung des Notstandgesetzes mit Dekreten regieren – ohne jede Befristung. In Deutschland gelten Ausgangsbeschränkungen, Verbote von Versammlungen und Veranstaltungen, Social Distancing; die Bundeswehr wird im Inneren eingesetzt – alles das wird mit dem Kampf gegen die Pandemie begründet. Keine Frage: die massive Reduzierung gesellschaftlichen Lebens, das Einhalten von Abstandsregeln etc. sind sinnvoll und für eine Zeit nötig. Doch nicht jede als solche deklarierte Maßnahme ist wirksam und viele von ihnen gleichen schweren Eingriffen in demokratische Rechte.
Von Aleksandra Setsumei, Aachen
Als das Parlament 1968 mit einer Zweidrittelmehrheit die Notstandsgesetze in das Grundgesetz hinzufügte, kämpften tausende Studierende und Gewerkschafter*innen dagegen. Bei einem Notstand erhält die Regierung die Möglichkeit, demokratische Rechte wie das Briefgeheimnis oder die Bewegungsfreiheit einzuschränken. Auch die Bundeswehr kann dann im Inneren eingesetzt werden.
In der Corona-Krise ist der Notstand bis jetzt offiziell nicht ausgerufen worden. Das hat aber wenig zu sagen, denn de facto befinden wir uns in einem Notstand, in dem die Exekutive Maßnahmen im Eiltempo beschließt – ohne rechtliche Grundlage, ohne gesellschaftliche Diskussion, ohne Widerstand.
Die demokratischen Rechte werden angegriffen und ausgesetzt. Jederzeit können weitere, heftigere Maßnahmen kommen. Und vor allem: Die Dauer der Maßnahmen ist nicht beschränkt. Die Einschränkungen sollen so lange gelten, bis die Gefahr der Krankheit überwunden ist, also solange wie die Bundesregierung sowie die Regierungen der Bundesländer es für angemessen halten. Da keine Kriterien für die Aufhebung der Maßnahmen formuliert sind, kann ihre Weiterführung stets begründet werden. Wann ist die Gefahr der Krankheit überwunden? Wenn die Kurve abgeflacht ist? Oder erst, wenn eine Impfung zur Verfügung steht? Denn das Zweite kann Jahre dauern.
Die herrschende Politik appelliert an das Gefühl der Geschlossenheit und versucht so, Zustimmung für die Eingriffe zu erzeugen. Und tatsächlich werden sie laut Deutschlandtrend vom 3. April von über neunzig Prozent der Befragten unterstützt. Es scheint, als ob Menschen in ihrer Verunsicherung alle, noch so repressiven, Maßnahmen hinnehmen – aus Angst vor der Krankheit. Die hohe Zustimmung ändert aber nichts daran, dass diese Maßnahmen starke Einschränkungen demokratischer Rechte sind und wir auch davor Angst haben müssen. Denn wenn die Einschränkungen und die Gesetze erst mal in Kraft getreten sind, werden wir sie nicht so schnell wieder los.
Tiefe Einschnitte
In der Sorge vor Corona geht die Schwere der Einschränkungen unter. So ist beispielsweise das Kontaktverbot ein tiefer Eingriff in die Versammlungs- und Bewegungsrechte, wie man das nicht mal zu Kriegszeiten erlebt. Wir haben bereits dazu geschrieben: „Es ist keine Frage. Die sozialen Kontakte weitgehend zu reduzieren, ist in der jetzigen Situation eine sinnvolle und notwendige Maßnahme. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung hält sich auch daran – wenn man sie lässt. Denn immer noch müssen Millionen täglich in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren, um dort dann mit dutzenden oder hunderten Kolleg*innen Dinge herzustellen, die zur Aufrechterhaltung der lebensnotwendigen Versorgung in dieser Krise nicht nötig sind. Waffen zum Beispiel oder Kühlschränke, Kleidung, Werbung und Möbel.“ (siehe: „Regierung beschließt Kontaktverbot“)
Einzelne Bundesländer beschlossen verschärfte Maßnahmen. In Bayern gilt eine Ausgangssperre. In Thüringen sollen an den Supermärkten Einlasskontrollen stattfinden, die Menschen, die an Corona erkrankt scheinen, abweisen soll – wie das anhand des Aussehens festgestellt werden soll, ist ein Rätsel; vielmehr ermöglicht eine solche Einlasskontrolle eine willkürliche Selektion.
Die Beispiele demonstrieren: Nicht jede Maßnahme ist begründet und wirksam. Und vor allem ist es nicht begründbar, dass auf der einen Seite diese harten Einschränkungen der breiten Bevölkerung im Privaten auferlegt werden, während sie für die Arbeit in Fabriken und Betrieben nicht gelten. Damit wird die Verantwortung für die Ausbreitung des Virus individualisiert und davon abgelenkt, dass weitgehendere Maßnahmen, zum Beispiel Stilllegung sämtlicher nicht notwendiger Produktion, umgesetzt werden müssten. Schritte wie diese werden nicht ergriffen, weil sie den Profitinteressen der Wirtschaft zuwiderlaufen.
Dies unterstreicht die Notwendigkeit, dass Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus auf einem demokratischen Weg durch die Arbeiter*innenklasse beschlossen werden müssen. Dies würde sicher stellen, dass sie nicht missbraucht und länger als notwendig beibehaltet werden. Und vor allem bietet eine demokratische Entscheidung einen Weg, die Maßnahmen im Interesse der Gesamtbevölkerung statt im Interesse der wenigen Kapitalbesitzer*innen zu gestalten.
Handytracking gegen die Pandemie?
Immer wieder taucht in Diskussionen der Vorschlag des Einsatzes einer App zur Bekämpfung der Virusausbreitung auf. Die propagierte Idee lautet folgendermaßen: Die App ermittelt anhand von Handydaten – GPS-Daten, Bluetooth, etc. – welche Nutzer*innen miteinander in Kontakt getreten sind. Wird jemand positiv getestet, so können alle Nutzer*innen, die sich in der Reichweite der Person befanden, gewarnt werden.
Es ist klar, dass mit einer solchen App eine massive Speicherung und Auswertung von privaten Daten einhergehen kann. Daraus ergeben sich praktische Fragen: Wer wird Zugriff auf diese Daten haben? Wer wird wiederum kontrollieren, dass der Zugriff nicht missbraucht wird? Unabhängig davon, wie diese Fragen beantwortet werden, wird eine solche App dem Staat oder einer seiner Institutionen den Zugang zu einer Menge persönlicher Daten geben.
Das Hauptargument für eine solche Lösung ist: Die Handyauswertung sei in Staaten wie Südkorea eingesetzt worden und habe dort zur Bekämpfung der Pandemie maßgeblich beigetragen. Doch das ist zu hinterfragen. Zunächst ist es überhaupt nicht sicher, dass gerade das Handytracking die ausschlaggebende Maßnahme in Südkorea war, die zur Eindämmung der Pandemie beitrug.
Außerdem funktioniert die Handyauswertung, die in Südkorea eingesetzt wird, anders. Dort ist die Warnung der Menschen, die Kontakt mit einer infizierten Person hatten, nur ein Teil des Programms. Vor allem benutzt die südkoreanische Regierung GPS-Daten von Smartphones sowie Autos, Kreditkarteninformationen, Bilder von Überwachungskamera, etc., um sicherzustellen, ob sich Infizierte an die verhängte Quarantäne halten. Ähnliche Methoden werden auch in anderen Ländern eingesetzt. Es handelt sich also in erster Linie um eine repressive Kontrollmaßnahme.
Doch selbst wenn die App die potenziellen Kontaktpersonen ermitteln sollte, gibt es keine Garantie dafür, dass sie eine wirksame Hilfe bei der Feststellung von gefährdeten Personen wäre. Wie der Virologe Alexander Kekulé gegenüber dem MDRi erklärte, würde eine solche App zu viele potenzielle Treffer und damit wenige qualifizierte Aussagen generieren. Hinzu kommt, dass sie den Nutzer*innen ein falsches Sicherheitsgefühl vermitteln könnte. Kekulé selbst sieht keinen Nutzen einer solchen App und weist daraufhin, dass man bei dem Vorschlag sehr vorsichtig sein müsse, wer aus welchen Interessen dafür ist. Aus den Gründen wenden wir uns gegen die App, die die Daten der Nutzer*innen dem Staat gegenüber zugänglich macht.
Bundeswehr im Inneren
Eine weitere schwerwiegende Entwicklung ist der Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Die Armee erhält mehr und mehr Anträge mit Bitten von Städten und Gemeinden. Meistens wird nach medizinischer Ausrüstung oder Pflegekräften sowie Ärzt*innen nachgefragt. Doch die Soldat*innen sollen ebenfalls eingesetzt werden, um Infrastruktur zu unterstützen, zum Beispiel in Saarland, wo die Truppe eine Drive-in-Teststation organisierte. „Ist doch gut, dass die Bundeswehr mal was Vernünftiges macht“ – könnte man sagen. Doch die Argumentation ist problematisch, denn sie übersieht, dass es sich bei dem Einsatz der Streitkräfte im Inneren um einen schweren Tabubruch handelt. Wenn die Bundeswehr autonom im zivilen Leben agieren darf, dann öffnet das die Tore für künftige Einsätze von Soldat*innen im Inneren – vielleicht bald auch dafür, die Ausgangsbeschränkungen zu kontrollieren und rebellierende Jugendliche aus den Parks zu vertreiben.
Es ist wahr, dass die Armee über Ressourcen verfügt, die in der Bekämpfung der Pandemie gebraucht werden können und müssen: medizinisches Personal, medizinische Ausrüstung, Krankenhäuser, etc. In der jetzigen Situation ist es notwendig, dass das gesamte medizinische Personal mobilisiert wird. Umso wichtiger ist daher die Forderung, dass das Personal, das nun in der Bundeswehr dient, im zivilen Rahmen und unter ziviler Führung und Kontrolle eingesetzt wird. Das gleiche gilt für die Ausrüstung und die Infrastruktur – sie müssen beschlagnahmt und in der Krankheitsbekämpfung benutzt werden. Dafür ist notwendig und entscheidend, dass die medizinische Infrastruktur der Armee entzogen und unter zivile Kontrolle gebracht wird.
Widerstand wird erschwert
Und schließlich bilden Verbote von Versammlungen und Veranstaltungen eine Hürde für politische Aktivitäten wie Demonstrationen oder Streiks. Verschiedene Bundesländer handhaben solche Versammlungen unterschiedlich – so haben schon einzelne Demonstrationen stattgefunden, bei denen sich die Teilnehmenden an die Abstandsregelung gehalten haben. Andere Demonstrationen wurden von der Polizei streng aufgelöst – teilweise mit Verhaftungen.
Sicherlich ist es nicht gerade sinnvoll, im Moment Massendemonstrationen oder -versammlungen zu organisieren. Aber es kann Situationen geben, wo eine solche Versammlung notwendig wird, um Druck für wirkungsvollen Schutz vor dem Virus zu machen.
So zum Beispiel haben Kolleg*innen in Frankreich bei Amazon ihre Schicht bestreikt, weil in dem Betrieb die Abstandsregeln nicht beachtet wurden und die Arbeitsplatzreinigung nicht stattgefunden hat. Bei Amazon in den USA demonstrierten Dutzende Beschäftigte wegen des mangelnden Schutzes am Arbeitsplatz. In Spanien haben Kolleg*innen durch Streiks das Mercedes-Werk zur Schließung gebracht. In den USA haben Beschäftigte von General Electric gefordert, dass die Produktion auf Beatmungsmaschinen umgestellt wird. Das alles sind Beispiele, bei denen ein organisierter Protest, der – wenn erfolgreich – zu einer sichereren Lage führt.
Fazit ist, dass die Arbeiter*innenklasse das selbst entscheiden können muss, ob sie in Streik treten oder in einer anderen Form Widerstand leisten wird. Wenn das nicht der Fall ist, dann gibt es kein Druckmittel, um die Maßnahmen der Notstandsregierung zu korrigieren – zum Beispiel, um die Schließung der Unternehmen zu erwirken, deren Produktion nicht notwendig ist.
Und das ist gerade wichtig, weil während dieser Krise bereits Angriffe auf Arbeiter*innenrechte stattgefunden haben. In Bayern wurde das Arbeitszeitgesetz gelockert (siehe hier). Die Beschäftigten, die nun am Ende ihrer Kräfte sind, sollen noch härter und länger arbeiten. Auch die Aussetzung der Personaluntergrenze in den Krankenhäusern ist eine falsche Maßnahme, die zu einer Überlastung des Pflegepersonals und zu einer schlechteren Pflege für die Patient*innen führen wird. Beide Angriffe dienen nicht dem Schutz der Bevölkerung vor der Pandemie. Gegen sie sollte Widerstand aufgebaut werden, denn ihre Rücknahme verbessert die Lage für die Beschäftigten und die Patient*innen.
Die Herrschenden haben es bis jetzt geschafft, in der Corona-Pandemie von ihrem Versagen abzulenken. Doch im Windschatten der Corona-Krise kommt die Systemkrise hinterher. Die wirtschaftliche Krise wird Widerstand von Seite der Beschäftigten auslösen, die nun die ganze Gesellschaft am Laufen halten und dafür die ihnen zustehende Anerkennung bekommen. Sobald es zu vermehrten Klassenkämpfen kommen wird, werden die Herrschenden nur zu glücklich darüber sein, auf die nun gefassten, repressiven Maßnahmen zurückzugreifen.
Wir sind der Meinung, dass in erster Linie die Freiheit der freien Marktwirtschaft beschränkt werden soll, die den Besitzer*innen der Unternehmen erlaubt, über lebensnotwendige Produkte und ihre Produktion zu entscheiden. Das sollte Maßnahmen beinhalten wie demokratisch festgelegte Preiskontrollen und -obergrenzen, die Beschlagnahmung von notwendigen medizinischen Geräten und Schutzausrüstung, die Verstaatlichung der Schutzmasken- und Medizingerätehersteller unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung. Das ganze Programm der Sol zur Corona-Krise findet sich hier.
ihttps://www.mdr.de/nachrichten/podcast/kekule-corona/handytracking-bringt-nur-pseudosicherheit100.html