Beschäftigte und Bewohner*innen werden rücksichtslos gefährdet
Die Meldung vom 2. April, dass sich mittlerweile mehr als 2.300 Pfleger*innen und Ärzt*innen in den Krankenhäusern, trotz der scheinbar streng durchgeführten Schutzmaßnahmen in den Kliniken, mit dem Corona-Virus infiziert haben, erschreckt.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt müssten alle Alarmglocken läuten, denn in den Alten-, Pflege- und Behindertenheimen sind Schutzmaßnahmen der Mitarbeiter*innen überwiegend die Ausnahme gewesen, obwohl dort die Kontakte noch persönlicher sind als in Kliniken.
von Thorsten Büttner*, arbeitet in der Pflege, Baden-Württemberg (*Name durch die Redaktion geändert)
Die Handhabung der Schutzregelungen ist in den meisten Heimen mit „fahrlässig“ noch freundlich umschrieben. So Krisenstäbe vorhanden sind, reagieren diese erst mit weitergehenden und vorsorgenden Maßnahmen nach aufgetretenen Akutfällen oder mit Tagen Verspätung. Prävention sieht anders aus, wie man nicht erst seit den Vorfällen in Würzburg oder Wolfsburg weiß. Erst als mehrere Bewohner*innen kurz nacheinander verstarben, wurden die Schutz- und Quarantäneregelungen erhöht und den erforderlichen Umständen angepasst.
Aber auch sonst sieht es an anderen Orten nicht besser aus, denn täglich hält das Virus in immer mehr Betreuungseinrichtungen Einzug, da bis zur ersten ernst auftretenden Situation wie gewohnt weitergearbeitet wird. In einer Behinderteneinrichtung im Kreis Sigmaringen/ BaWü wurde Ende März bei 50 Personen das Virus festgestellt – und das zwei Wochen nach dem Lockdown. Anfragen von Mitarbeiter*innen nach „Persönlichen Schutzausrüstungen“ (PSA), vor allem bei der täglichen Pflege, wurden bisher als oft nicht notwendig abgetan – nicht selten mit dem Zusatz, dass bei den Bewohner*innen ja noch keine Symptome oder Auffälligkeiten aufgetreten seien oder dass die nur noch wenig vorrätigen Utensilien für die dann wirklichen Akutfälle zurückgehalten würden. So wird es am 3.4.2020 in der Stuttgarter Zeitung über die Stuttgarter Stiftung Liebenau zitiert, nachdem dort eine Infektion bei einem Mitarbeiter festgestellt wurde: „Falls notwendig, werde PSA zur Verfügung gestellt“! Selbst einfachste Früherkennungsmaßnahmen, wie täglich zweimaliges Temperaturmessen bei den Bewohner*innen scheint noch nicht überall angekommen zu sein.
Kaputtgespart
In den verschiedenen Wohnheimen gibt es zwar nicht wie in den seit Jahrzehnten herunter gewirtschafteten Krankenhäusern ein Fallpauschalen-(DRG)-System, jedoch wurden diese analog in den sogenannten Pflegesatzverhandlungen mit den Kostenträgern/Kommunen über Jahre mit viel zu niedrigen Pflege- und Betreuungssätzen abgespeist. Die Folge war, dass in einer so geschaffenen Konkurrenzsituation, die Heime ebenfalls anfingen intern zu knapsen. Das geschieht nicht nur, wie bei vielen privatisierten Trägern über die Gehälter, sondern überall: bei Reinigung/Hauswirtschaft, Verpflegung (Essensgelder), Kleidergelder, Wäscher- und Nähereien und Inkontinenzmaterial (die zugestandenen monatlichen Regelsätze reichen oft nur für eine dicke bis zwei dünne Windeln am Tag, der Rest muss aus eigener Tasche zugeschossen werden!) Das und der allerorts stattgefundene Abbau von Vorratshaltungen für Krisenzeiten (dadurch konnten einmalig für eine begrenzte Zeit Ausgaben „gespart“ werden und, ähnlich der just-in-time-Logik der Betriebswirtschaftler und Logistiker, Räume anders verwendet werden) rächt sich nun gewaltig.
Verantwortungslos
Im Grunde wälzen die Träger und Einrichtungen die ganzen Hygiene- und Vorsorgemaßnahmen auf ihre Beschäftigten ab – und damit nicht unähnlich der Vorgehensweise der Politik, die es bis jetzt noch nicht geschafft hat, für großflächige Desinfektionen im öffentlichen Raum zu sorgen, oder flächendeckend zu testen. Es wird social distancing und individuelles Einhalten der Regeln gefordert – mit drakonischen Strafen bei Nichteinhaltung. Dann sind aus Pflegeeinrichtungen Beispiele zu hören, dass Mitarbeiter*innen, die im Risikogebiet im Urlaub waren, nicht vorsorglich nach Hause geschickt wurden, da sie noch keine Symptome zeigten. Sie hatten weiter normalen Kontakt zu Pflegenden und Kolleg*innen – ohne extra PSA, weil sie ja … bisher keine Symptome zeigten. Vielen Mitarbeiter*innen wird – wenn bekannt wird, dass sie privat in weiterem Kontakt mit dann Erkrankten standen – oft ein Test verweigert, weil sie ja … bisher keine Symptome zeigten. Schutzkleidung, zum Eigen- und Fremdschutz, wird wissentlich nicht angeordnet, mit lapidaren Anmerkungen, man solle sich nicht so anstellen und Panik verbreiten, weil ja … bisher noch keine Symptome aufgetreten seien. Sollten dann aber doch Schutzutensilien in sehr begrenzter Anzahl ausgeteilt werden, dann sollen die doch bitteschön gerne zwei Tage (!) reichen … weil das ist ja sehr teuer.
Handeln!
Hier zeigt sich erneut der Wahnsinn des zu Grunde gerichteten Care- und Gesundheitssystems:
Während, wie beispielsweise in Südkorea (die bisherigen weiterhin im Verhältnis niedrigen Fall- und Ansteckungszahlen zeigen es) in gleicher Situation groß angelegte Tests zur Früherkennung und präventiver Isolation, sowie großflächige Hygiene- und Prophylaxemaßnahmen unverzüglich geboten wären, geschieht in Deutschland und auch anderswo, wenn überhaupt das nur unbedingt notwendige und das oft zu spät. Wenn jetzt, wie Anfang April vom Kreis Tübingen angeordnet, alle Einrichtungen flächendeckend getestet werden sollen, ist das natürlich richtig und dringend zu befürworten, kommt aber Wochen zu spät. Man hat den Eindruck, dass, nachdem die Taktik des vorübergehenden Kelches nicht aufgegangen ist, die Pflegenden und Bewohner*innen wochenlang sehenden Auges in die Katastrophe laufen gelassen wurden – wider allen vorliegenden Erkenntnissen. Das alleine auf nicht genug vorrätige Pflegeschutzmittel zurückzuführen, ist da nur zynisch. Dieser Mangel und diese Inkompetenz ist also hausgemacht. Da helfen auch keine warmen Worte, Heldenverklärungen und nett gemeinter Applaus.
Was die Beschäftigten in den Pflegeberufen wirklich benötigen, ist, dass von den Einrichtungen endlich, wo noch nicht geschehen, ordentliche und ausreichende Arbeitskleidung zu Verfügung gestellt wird. Um das Virus, wie täglich rauf und runter gebetet, wirklich zu reduzieren, ist Schutzkleidung zwingend flächendeckend ausreichend bereitzustellen und nicht erst bei Verdachts- oder Akutfällen. Die Räumlichkeiten sind überall vorbeugend täglich zu reinigen und zu desinfizieren – dazu müssen zusätzliche Reinigungskräfte, die jetzt kurzfristig zur Verfügung stehen, eingestellt werden.
Und es muss wieder mehr Personal her. Es gibt keine Einrichtung, die, seit langem schon, besser als mit einer Notbesetzung als Regelzustand arbeitet. ver.di fordert schon seit Jahren 167 000 Stellen. Das muss nun endlich mit mehr und dem nötigen Nachdruck geschehen. Dafür muss, unter Einbeziehung der Beschäftigten und Mitglieder, eine druckvolle Kampagne geplant und gestartet werden, mit aktivierenden Forderungen für einen besseren Personalschlüssel in allen Bereichen, einer nicht nur einmaligen Zulage von 1.500 Euro, sondern ein dauerhafter Betrag von mindestens 500 Euro, der dann in die tarifliche Entgeldstruktur dauerhaft übergeleitet wird und die Entprivatisierung von Einrichtungen, die in öffentliches Eigentum übergeleitet werden, zur Sicherung der Arbeitsplätze bei aufgewertet angemessenem Personalschlüssel. Allein der Hinweis, es schon immer gesagt zu haben und weiterhin nur verbale Willensbekundungen abzugeben, ist einer Gewerkschaft nicht würdig – dafür reichte auch ein Kummerkasten.
Was aber zudem allgemein dringend Not täte, wären die Abschaffung des DRG-Systems (und den daraus folgenden Regelsatzbemessungen der Heime über deren Kostenträger) für ein Gesundheits- und Pflegesystem nach Bedarf.
Die Eliminierung jeglicher Konkurrenz im Gesundheits-, Pflege- und Betreuungswesen durch die Überführung aller Kliniken und Heime in öffentliche Hand. Damit dabei die nicht allerhellsten Leuchten à la Spahn und Konsorten nach den weiterhin vorhandenen Wünschen des Kapitals entscheiden können, üben die Kontrolle die Mit-Arbeiter*innen, Patient*innen, Bevölkerung, Gewerkschaft und Kommunen/Länder paritätisch aus. Güter des Gesundheits-, Pflege- und Hygienewesens werden möglichst vor Ort und permanent vorrätig produziert und nicht mehr einem inkompetenten „freien Markt“ überlassen. Schließlich werden die nach Bedarf geschaffenen Pflege- und Betreuungsstellen zu neuen und guten Tarifvergütungen und einer zeitgemäßen Arbeitszeit, die natürlich deutlich weniger als die jetzigen 39 – 41 Wochenarbeitsstunden beträgt (30), für alle zwingend ausgelobt.