Vor dem Corona-Winter

Für eine Corona-Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse!

Merkel schlägt Alarm. Die Bekämpfung des Corona-Virus sei eine „Jahrhundert-Aufgabe“, die Ergebnisse der Beratung von Bundesregierung und Ministerpräsidenten der Länder vom 14.10.2020 nicht zufriedenstellend. Während das Robert-Koch-Institut noch wenige Tage zuvor erklärte, eine exponentielle Entwicklung der Neuinfektionen könne noch verhindert werden, befindet sich die Bundesrepublik laut Merkel schon in einer exponentiellen Phase. Beherbergungsverbote, Sperrstunde, Einschränkungen bei Feiern und Veranstaltungen – in der letzten Woche wurden die Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus deutlich verschärft. Dass es nicht bei diesen Maßnahmen bleiben wird, ist aber schon jetzt abzusehen.

Von Sascha Staničić und Michael Koschitzki, Berlin

Dass sich das Virus mit Beginn des Herbstes wieder schneller verbreiten würde, war klar. Umso unverständlicher ist es, dass die Regierungen und Verwaltungen auf allen Ebenen sich ganz offensichtlich nicht ausreichend auf diese Situation vorbereitet haben und die nötigen Maßnahmen zur Bekämpfung von Corona nicht ergriffen haben.

Die Lage ist ernst

Dass sich das Virus stärker ausbreitet kann nicht bezweifelt werden. Diejenigen, die behaupten, die höhere Zahl der Neuinfektionen hänge nur mit der gestiegenen Anzahl von Tests zusammen mache sich etwas vor oder wollen bewusst die Realität leugnen. Denn es steigt nicht nur die absolute Zahl der Neuinfektionen, sondern auch die relative Zahl – es gibt als mehr Neuinfektionen im Verhältnis zu den durchgeführten Tests. Die so genannte „Positivenrate“ ist in den letzten fünf Wochen von 0,74 Prozent auf 2,48 Prozent gestiegen. Auch in den Krankenhäusern müssen wieder mehr Covid-19-Patient*innen behandelt werden. Die Situation ist also ernst. Die von Kanzlerin Merkel genannte Zahl von 19.000 täglichen Neuinfektionen bis Jahresende wäre bei einem exponentiellen Verlauf des Infektionsgeschehens nicht nur möglich, sondern könnte sogar übertroffen werden. Das würde französische Verhältnisse und zwangsläufig weitere drastische Einschränkungen des öffentlichen Lebens bedeuten, aber es würde auch wieder drohen, dass die Kapazität der Intensivbetten in den Krankenhäusern nicht mehr ausreichen und ein Kollaps des Gesundheitswesens droht.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nicht, ob Maßnahmen ergriffen werden müssen. Wer das negiert, spielt mit dem Leben Tausender Menschen. Die interessanten Fragen sind jedoch: warum sind wir in dieser (vorhersehbaren) Situation und welche Maßnahmen sollten ergriffen werden?

Besonders gefährlich ist die aktuelle Situation, weil die Infektionsketten außer Kontrolle geraten. Wie der Neuköllner Amtsarzt Nicolai Savaskan in einem Interview mit dem Tagesspiegel vom 15. Oktober sagte, können in diesem Berliner Stadtbezirk siebzig Prozent der Infektionen nicht mehr zurück verfolgt werden: „Stellen Sie sich einen Waldbrand vor. Wir haben nicht mehr einen Brandherd, sondern multiple Glutnester – nicht Dutzende, sondern Hunderte.“ Die Lage in Neukölln ist für ihn ein Vorbote für die restlichen Großstädte der Republik.

Die Frage der „Glutnester“ wird von Seiten der politisch Verantwortlichen und der Medien in den letzten Wochen eindeutig beantwortet: private Feiern, islamische Hochzeiten, unverantwortliches Verhalten des jungen Party-Volks. Vieles spricht dafür, dass private Feiern einen nicht unwesentlichen Teil der Infektionsherde ausmachen und in diesem Bereich auch Einschränkungen gerechtfertigt sind. Vieles spricht jedoch auch dafür, dass eine Reduktion der Debatte und Maßnahmen auf dieses Phänomen nicht der Realität entspricht und politisch motiviert ist. Wird so doch die Verantwortung für die rasant steigende Zahl von Neuinfektionen dem und der Einzelnen gegeben, sollen sich die Menschen über andere Menschen aufregen statt die Politik der Regierung zu hinterfragen.

Matthias Janson schreibt auf statista.de: „Fallhäufungen werden laut RKI insbesondere beobachtet im Zusammenhang mit Feiern im Familien- und Freundeskreis, sowie u.a. in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern, Einrichtungen für Asylbewerber und Geflüchtete, Gemeinschaftseinrichtungen, verschiedenen beruflichen Umgebungen und im Rahmen religiöser Veranstaltungen. Auch in Verbindung mit Reisen bzw. Reiserückkehrern komme es zu Fallhäufungen.“ Angesichts von über eintausend Schulen und Kitas, in denen es Infektionsfälle gegeben hat, angesichts neuerlicher Ausbrüche zum Beispiel in Fleischfabriken in Sögel und Emstek, einem DHL-Frachtzentrum in Köngen und in Wohnheimen in Schleiz und Bad Essen erscheint diese Einschätzung realistischer. Sie wird jedoch von den Massenmedien und Gesundheitsminister Spahn nicht propagiert, weil sie viele Fragen aufwirft. Vor allem die Frage, weshalb nur im Bereich der privaten Freizeit und Mobilität Einschränkungen erfolgen sollen, wenn es offenbar weiterhin Handlungsbedarf in den Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, Geflüchtetenunterkünften und Betrieben gibt.

Wie konnte es so weit kommen?

Doch erst einmal zu der Frage, warum wir in dieser Situation sind, warum man den Eindruck hat, Regierungen und Verwaltungen seien vom plötzlichen Ende des Sommers überrascht und nicht auf die Gefahren der kalten Jahreszeit vorbereitet. Die Antwort ist einfach: weil sie nicht das nötige Geld in die Hand nehmen wollten, um effektive Maßnahmen zu ergreifen bzw. weil sie nach dem panikartig eingeführten Lockdown im März Lockerungen (abgesehen von Maskenpflicht und Abstandsgebot) durchgesetzt haben, die vor allem den Interessen der Wirtschaft dienten. Wobei man das Wort „Wirtschaft“ hier mit „Profitinteressen der Unternehmer*innen“ übersetzen sollte. Der Kapitalismus und eine nach Kapitalinteressen ausgerichtete Politik verhindern eine effektive Bekämpfung der Pandemie.

Abgesehen davon, dass im Januar und Februar wertvolle Zeit zur Vorbereitung auf den Kampf gegen die Pandemie vergeudet wurde, wurden auch seit der Anerkennung der Pandemielage im März nicht die nötigen Maßnahmen ergriffen und falsche Entscheidungen getroffen.

Testkapazitäten unzureichend

Vor allem wurden die Testkapazitäten nicht so weit ausgebaut, wie es nötig ist. Auch wenn zur Zeit 1,5 Millionen PCR-Tests pro Woche möglich sind, liegt das weit unter dem, was nötig wäre. Zudem herrscht in Bezug auf Tests ein heilloses Chaos, oftmals müssen positiv Getestete mehrere Tage auf ihr Testergebnis warten oder es gehen Testsverloren. Von 167 Laboren sind nur 141 an die Corona Warn-App angeschlossen, aber es gibt nicht einmal eine verbindliche Übersicht aller Labore, die Covid-19- Tests durchführen. Nichts genaues weiß man also nicht ….

Es gibt auch keine sinnvolle Lenkung, wer prioritär getestet werden soll. Nötig ist es, die Testlabore unter demokratische öffentliche Kontrolle zu stellen, die Preise staatlich festzulegen und zu verhindern, dass private Anbieter sich durch die Pandemie eine goldene Nase verdienen.

Die Gesundheitsämter kommen aufgrund von Personalmangel mit der Nachverfolgung von Infizierten und Kontaktpersonen nicht hinterher. In Berlin fehlen zweihundert Stellen in den Gesundheitsämtern, drei von ihnen haben nicht einmal einen Amtsarzt. Eine Berliner Schule, in der ein Infektionsfall aufgetreten war, konnte einen Tag lang niemandem im zuständigen Gesundheitsamt erreichen. Hinzu kommt offenbar ein Zuständigkeits-Wirrwar, zumindest in Berlin. Eine medizinische Fachangestellte, hatte sich mit dem Virus angesteckt. Nun waren für eine ihrer Kolleginnen drei Gesundheitsämter zuständig: Tempelhof-Schöneberg (Wohnort der Fachangestellten), Mitte (Standort der Arztpraxis) und Lichtenberg (Wohnort der Kollegin). Als ob das nicht absurd genug wäre, erhielt sie von den drei Ämtern drei unterschiedliche Anweisungen und musste, wie so viele Beschäftigte im Gesundheitswesen, trotz des direkten Kontakts zu einer mit dem Virus infizierten Person zur Arbeit erscheinen – die Quarantäne galt nur noch für die Freizeit und war für den Weg von und zur Arbeit und die Zeit in der Praxis aufgehoben worden!

Auch in den Krankenhäusern hat sich die Situation nicht wirklich verbessert. Die Krankenpflegerin Nina Böhmer sagte in der Fernsehsendung „hart aber fair“: „Die Personalsituation ist noch die gleiche, die Materialsituation ist die gleiche. Schon vor der Pandemie wurde unglaublich an der Ausrüstung und am Personal gespart. Wir arbeiten immer noch an der Belastungsgrenze.“ Applaudiert wurde den „Held*innen“ des öffentlichen Dienstes und des Gesundheitswesens viel – bessere Entlohnung und mehr Personal gibt es nicht. Kein Wunder, dass selbst das Charité-Vorstandsmitglied, Ulrich Frei, sagte, es gebe genug Betten, aber zu wenig Personal.

Bundeswehreinsatz

Jetzt soll die Bundeswehr in den Gesundheitsämtern Abhilfe schaffen. Es spricht nichts dagegen, wenn Bundeswehrsoldat*innen ausnahmsweise mal etwas gesellschaftlich Sinnvolles tun. Es muss aber abgelehnt werden, wenn sie dies in Uniform und unter dem Kommando der Bundeswehr tun. Dahinter steckt eine politische Agenda, die die Bevölkerung an einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren gewöhnen soll. Heute im Gesundheitsamt, morgen in den Schulen und übermorgen an der Seite knüppelnder Polizist*innen bei Demonstrationen und Streiks. Der Einsatz von Soldat*innen in Gesundheitsämtern oder bei anderen zivilen Tätigkeiten der Pandemiebekämpfung muss nicht nur in ziviler Kleidung, sondern auch unter dem Kommando der Gesundheitsämter bzw. anderen zuständigen Einrichtungen des öffentlichen Dienstes stattfinden. Dass ein Bundeswehr-Vertreter in Offenbach am Corona-Planungsstab teilnahm, ist ein Schritt in Richtung Militarisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge und gehört abgelehnt.

Der Einsatz der Bundeswehr soll aber vor allem auch von einem anderen Umstand ablenken: der dringenden Personalaufstockung in Gesundheitsämtern. Nötig sind unbefristete Neueinstellungen, damit Gesundheitsämter auf Pandemien vorbereitet sind. Unter den Hunderttausenden, die in den letzten Monaten schon ihre Jobs verloren haben, finden sich ganz bestimmt Viele, die die Nachverfolgung von Infizierten und Kontaktpersonen genauso gut hinkriegen, wie ein Unteroffizier der Marine.

Einschränkungen sind nötig, aber …

Es ist keine Frage, dass angesichts der Pandemielage Einschränkungen von Mobilität notwendig und sinnvoll sind. Es macht aber keinen Sinn, dass diese nur den privaten Freizeitbereich der Menschen betreffen. Ein Lockdown sollte vermieden werden, dem stimmen auch wir zu. Wir haben aber andere Gründe für diese Haltung als Merkel, Spahn und Co.

Für diese Damen und Herren geht es darum, die Wirtschaft am Laufen zu halten. Der Rubel muss weiter rollen. Für uns geht es darum, die vielfachen psychosozialen Folgen, insbesondere für Kinder und psychisch labile Menschen, eines Lockdowns zu vermeiden. Wenn ein solcher im Herbst und Winter durchgeführt würde, wären diese Folgen weitaus gravierender als im Frühling, wo es möglich war, mehr Zeit im Freien zu verbringen.

Das bedeutet jedoch, dass es sinnvoll ist, Wirtschaft und gesellschaftliches Leben in einer Art und Weise zu reduzieren, die die negativen psychosozialen Auswirkungen minimiert. Das sollte zum Beispiel bedeuten, dass nur die Wirtschaftsbereiche weiter am Laufen gehalten werden, die entweder für die Versorgung der Bevölkerung und für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Daseinsvorsorge essentiell sind oder in denen Hygienekonzepte unter Beteiligung der Belegschaften und Gewerkschaften erstellt wurden, die einen verantwortlichen Weiterbetrieb ermöglichen. Gesellschaftlich nicht sinnvolle bzw. Dringend nötige Wirtschaftstätigkeit, wie die Pandemie es nötig macht, während die Beschäftigten ihren Lohn in voller Höhe ausgezahlt bekommen sollten und aufgefordert werden könnten, in den Gesundheitsämtern, bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen oder (nach entsprechender Ausbildung) der Abnahme von Corona-Tests zu helfen.

Gleichzeitig sollte die Produktion unter Kontrolle der Beschäftigten in dem Maße, wie es nötig ist, auf für die Pandemiebekämpfung nötige Produkte, wie Luftfilter und Beatmungsgeräte, umgestellt werden. Weigern sich Unternehmen, gehören sie enteignet.

Auf den Urlaub zu verzichten, ist für Menschen, die hart arbeiten, ein großes Opfer. Für Kinder und Jugendliche bedeutet der Verzicht auf Urlaub oft Langeweile und Vernachlässigung. Wären frühzeitig ausreichend Testkapazitäten entwickelt worden, hätten Urlaubsreisen unter sicheren Bedingungen im Sommer und Herbst ermöglicht werden können. Das war nicht der Fall und dem Druck der Tourismusindustrie wurde trotzdem nachgegeben und der Sommertourismus in der Form ermöglicht, wie er letztlich stattgefunden hat. Reiserückkehrer*innen spielten eine wichtige Rolle beim Anstieg der Fallzahlen in den letzten Wochen und Monaten.

Auch hier gilt: es hätten, vor allem für Familien mit Kindern, attraktive Alternativangebote vor Ort geschaffen werden müssen. Kostenlose Ferien-Theater-, Sport- oder Tanzkurse für kleine Gruppen, kostenlose Öffnung von Museen, Kinos und anderen Einrichtungen mit speziellen Programmen für Kinder und Jugendliche. Wochenendausflüge in Kleingruppen. All das mit regelmäßigen Tests und unter Einhaltung der Hygieneregeln hätte einen Verzicht auf den Urlaub erleichtert.

Das aktuelle Beherbergungsverbot, das eine Reihe von Bundesländer gegenüber Reisenden aus Risikogebieten verhängt haben, ist auf viel Kritik und Unverständnis gestoßen. In Niedersachsen, Sachsen und Baden-Württemberg wurde es mittlerweile schon wieder zurück genommen. An der Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme kann gezweifelt werden, selbst wenn sie zur Einschränkung der Mobilität dient. Vor allem fällt aber auch hier auf, dass sie private Reisen und nur in Ausnahmefällen auch Dienstreisen betreffen. Sind Dienstreisende immun gegen das Virus oder im Falle einer Infektion weniger ansteckend? Auch hier wird deutlich, dass im Kapitalismus das Leben und die Lebensqualität wenig und die Geschäfte der Reichen viel wert sind.

Die Liste der Versäumnisse und Fehler von Regierungen und Verantwortlichen ließe sich um viele Punkte fortsetzen. Warum stehen eigentlich nicht an jeder Bushaltestelle und jedem U-Bahnhof Desinfektionsmittelspender? Warum werden Masken nicht kostenlos oder zumindest zum Selbstkostenpreis in einer ausreichenden Menge verteilt, damit diese auch sachgerecht angewendet und nicht über Tage und Woche verwendet werden, weil man sich keine neuen Masken leisten kann?

Schulen

Und warum wurden Schulen, Kitas und öffentliche Gebäude nicht schon längst mit Luftfiltern ausgestattet? Diese können die Virenlast in der Luft um bis zu neunzig Prozent reduzieren. Obwohl sich alle einig zu sein scheinen, dass man Schulen und Kitas nicht wieder schließen sollte, wurde nichts getan, um einen risikominimierten Unterricht unter Pandemiebedingungen zu ermöglichen. Nun sollen sich Schüler*innen mit Schal und Jacke in den Unterricht setzen, damit die Fenster alle zwanzig Minuten geöffnet werden können. Wenn sich die Fenster denn öffnen lassen, was in vielen Klassenzimmern gar nicht möglich ist. Wer glaubt, dass das über Wochen und Monate umsetzbar ist, der glaubt auch an den Weihnachtsmann. Eine ausreichende Ausstattung aller Schulen mit Luftfiltern würde laut dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach pro Schüler*in einhundert Euro kosten. Das würde eine zweistellige Millionensumme erfordern. Die FDP-Schulministerin in Nordrhein-Westfahlen Yvonne Gebauer spricht von dreitausend Euro pro Klasse (was bei den bestehenden Klassengrößen auch nicht viel mehr Geld wäre). Ihr Kommentar: „Zu teuer“. Dass ein Staat dieses Geld nicht in die Hand nimmt, um den Schulbetrieb für Kinder und Jugendliche zu ermöglichen, aber gleichzeitig neun Milliarden Euro zur Rettung der Lufthansa und viele Milliarden mehr für andere Konzerne und Kapitalisten ausgibt, zeigt, welche Prioritäten von den Verantwortlichen in ihm gesetzt werden. Profite gehen vor den Menschen.

Auch im Bildungsbereich gilt: die Pandemie hat die Missstände offen gelegt und sie wurde nicht zum Anlass genommen, an diesen etwas zu ändern. Und das gilt nicht nur für die Frage der Luftfilter. Der Lehrer*innenmangel führt unter Pandemiebedingungen zur Katastrophe. Eine Rektorin einer Berliner Grundschule sagte gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung, die Situation seit den Sommerferien sei „furchtbar, absolut furchtbar“ und führt aus: „Wir haben zu wenig Personal um die Schüler zu fördern.“ Sie spricht von Lehrer*innen die „weinend zu mir kommen und sagen: Ich kann nicht mehr! Ich bin am Ende meiner Kräfte!“ Sie fordert: Lasst uns zurückkehren zu den kleinen Klassen! Die Hälfte der Stunden in halb so großen Gruppen ist wesentlich mehr wert als täglicher Unterricht in der bisherigen Klassengröße. Die Schüler brauchen eine hohe Zuwendung. Sie begreifen schneller, wenn langsamer erklärt wird“ (…) in der übrigen Zeit müssten die Kinder in der Schule betreut werden. Sie könnten beispielsweise lebenspraktisch lernen oder die Stadt erkunden. Wie gesagt: Die gruppengröße und die Anzahl der Unterrichtsstunden müssen drastisch reduziert werden. Darauf kommt jetzt alles an. Und dafür brauchen wir mehr Personal. Sonst kollabiert das System.“ Die Bildungsministerien haben aber die Losung „Augen zu (und Wollmütze auf) und durch!“ ausgegeben. Nicht das Wohl der Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte steht im Mittelpunkt der Politik, sondern die Aufrechterhaltung des bestehenden auf Leistungsdruck ausgerichteten Bildungssystems und die Arbeitsfähigkeit der Eltern.

Gegen wen werden die Regeln durchgesetzt?

In den Medien wird das Bild verbreitet, Ordnungsämter und Polizei, zum Beispiel in Berlin, würden bestehende Regeln nicht durchsetzen. Damit ist beabsichtigt, für eine Aufstockung der Polizei und erweiterte Befugnisse den Boden zu bereiten. Tatsächlich ist eher zu beobachten, wie die Polizei vor allem gegen Jugendliche unter freiem Himmel vorgeht und zu wenig kommerzielle Einrichtungen kontrolliert. Jüngst gab es einen neuen Fall von Polizeigewalt in Berlin-Friedrichshain, der gefilmt wurde. Die Polizeirepression wächst und führt unter einer ganzen Schicht von Jugendlichen zu Unmut. Gleichzeitig wurde für Einsätze, wie die Räumung des teilbesetzten Hauses Liebig 34 ein Großaufgebot von 2100 Polizist*innen aus mehreren Bundesländern zusammengezogen, was sich ebenfalls noch als Infektionsherd herausstellen könnte. Deshalb sollten insgesamt alle Schritte zu mehr Polizeibefugnissen, Ausbau des Personals oder Einsätzen der Bundespolizei auf Berliner Straßen eine Absage erteilt werden.

Demgegenüber steht, dass ein Gerichtsprozess wegen Steuerhinterziehung im Cum-Ex-Skandal wegen Corona vertagt wird und alle 300 Beteiligten einer Feier im Nobellokal Borchardt im Mai straffrei ausgehen. Darunter ist der FDP-Chef Christian Lindner, der ohne Maske kamerawirksam den belarusischen Honorarkonsul umarmte, der Lukaschenkos Diktatur unterstützt.

Wem nützt es?

Fazit: es geht nicht in erster Linie darum, ob man gerade für oder gegen Sperrstunden, Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen oder Beherbergungsverbote ist. Die aktuelle Pandemielage macht Einschränkungen nötig. Das Problem ist, dass die Corona-Politik der Bundes- und Landesregierungen eine Klassenpolitik im Interesse der Kapitalistenklasse ist. Sie sieht Einschränkungen vor allem im Privatleben der Arbeiter*innenklasse vor und ergreift nicht die Maßnahmen, die nötig wären, um die Pandemie wirkungsvoll zu bekämpfen. Kontrovers und leidenschaftlich geführte Debatten um Einzelmaßnahmen lenken nur vom großen Ganzen ab: Wer entscheidet in wessen Interesse?

In den Betrieben und Bildungseinrichtungen müssen die Hygienekonzepte durch Belegschaftsvertreter*innen, Gewerkschaften und Wissenschaftler*innen bzw. auch Schüler*innen, Studierende und Eltern ausgearbeitet und deren Umsetzung kontrolliert werden. Belegschaftsvertretungen müssen mit einem Vetorecht ausgestattet sein und dem Recht, den Betriebsablauf einzustellen, wenn die Hygienekonzepte nicht eingehalten oder funktionierende Konzepte nicht umsetzbar sind.

Für Mobilisierungen der Gewerkschaften

Von den etablierten prokapitalistischen Parteien ist aber keine Corona-Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse zu erwarten. Deshalb wäre es Aufgabe der Gewerkschaften endlich gegen die Regierungspolitik und für eine Pandemiepolitik im Interesse von Menschen und Gesundheit zu mobilisieren. Angesichts der derzeitigen Politik der Gewerkschaftsführungen, ist es nötig in den Organisationen Druck von unten zu machen, um einen Kurswechsel durchzusetzen.

Die derzeitig stattfindenden Tarifrunden im öffentlichen Dienst und im Nahverkehr wären eine Gelegenheit gewesen, das Thema Personalaufbau und Gesundheitsschutz nach ganz oben auf die tarifpolitische Agenda zu setzen. Die Unterstützung für Streiks und Mobilisierungen in breiteren Teilen der Bevölkerung wäre ihnen sicher gewesen. DIE LINKE könnte dabei eine entscheidende Rolle spielen, wenn sie sich auf sozialistische Oppositionspolitik und den Aufbau von Gegenbewegungen konzentrieren würde, statt mit den prokapitalistischen Agenda 2010-Parteien SPD und Grünen zu flirten. Auch in ihr ist ein Kurswechsel dringend nötig.

Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Bewegung für ein Corona-Notprogramm im Interesse der arbeitenden Bevölkerung und sozial Benachteiligten, die einfordert, dass die Banken und Konzerne und die Superreichen für die Kosten der Pandemiebekämpfung zahlen müssen und die Kosten der Wirtschaftskrise nicht auf die Arbeiter*innenklasse abgewälzt werden. Niemand darf arbeitslos werden oder Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Unternehmen, die Massenentlassungen vornehmen oder Betriebsteile schließen gehören enteignet und in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung überführt. Und die Systemfrage muss gestellt werden. Angefangen im Gesundheits- und Bildungssystem. Hier müssen Marktmechanismen abgeschafft und die Privaten raus geworfen werden, sowie Milliardeninvestitionen getätigt werden. Aber was für Bildung und Gesundheit gilt, gilt für die ganze Gesellschaft und die Wirtschaft: der Markt funktioniert nicht im Interesse der Mehrheit der Menschen. Privateigentum an Produktionsmitteln und Profitwirtschaft dienen nur der Minderheit von Kapitalisten. Die Pandemie muss ein Weckruf sei – für eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft.

Die Sol fordert:

  • Entscheidung von demokratisch gewählten Vertreter*innen von Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen über Schulschließungen
  • Massive Ausweitung der Corona-Tests. Kombination von flächendeckenden Schnelltests und Labortests.
  • Flächendeckende Bereitstellung von Luftfiltern in Schulen, an Arbeitsplätzen etc.
  • Risikozuschläge für Beschäftigte, die sich erhöhter Gefahr aussetzen müssen. 
  • Corona-Abgabe für Millionär*innen: dreißig Prozent ab der ersten Million!
  • Keine Millionenhilfen für private Banken und Konzerne, sondern ihre Überführung in öffentliches Eigentum, wenn sie durch die Corona- und Wirtschaftskrise ins Trudeln kommen
  • Wir zahlen nicht für die kapitalistische Krise – Nein zu Arbeitsplatzabbau und Entlassungen, Sozialabbau, kommunalen Kürzungen und Abbau von Arbeiter*innenrechten – Gewerkschaften und LINKE müssen jetzt den Widerstand beginnen
  • Sozialistische Demokratie statt kapitalistischem Chaos
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