Artikel der Independent Socialist Group (ISG) aus den USA
Am 25. Mai erwürgte die Polizei in Minneapolis George Floyd, einen unbewaffneten Schwarzen, der daraufhin starb. Sein Tod erinnerte auf beunruhigende Weise an die Ermordung Eric Garners durch das NYPD im Jahr 2014. Ein veröffentlichtes Video, das von Umstehenden aufgenommen wurde, zeigt Floyd, wie er wiederholt flehte “Ich kann nicht atmen”, während Offizier Derek Chauvin ihm fast zehn Minuten lang den Hals zerquetschte.
Floyd’s Tod entzündete große Proteste in Minneapolis, die bis heute andauern. Die Polizei eskalierte den Konflikt, indem sie Gummigeschosse, Blendgranaten und Tränengas abfeuerte, um die zunächst friedlichen Demonstrant*innen zu zerstreuen. Diese gewalttätige Reaktion auf unbewaffnete Demonstrant*innen steht in krassem Gegensatz zu dem zurückhaltendem und nicht-konfrontativen Vorgehen der Polizei auf schwer bewaffnete und überwiegend weiße Demonstranten gegen die Corona-Maßnahmen.
Gegen Chauvin liegen ein Dutzend Beschwerden wegen Fehlverhaltens vor, eine Reihe davon wegen exzessiver Gewaltanwendung, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht wurden. Er war in eine tödliche Schießerei verwickelt, für die er nicht einmal eine Disziplinarstrafe erhielt. Aber Chauvin ist kein isolierter “fauler Apfel“ – er ist Teil eines korrupten und rassistischen Systems.
Die Politiker*innen der Demokratischen Partei, die Minneapolis regieren, haben es jahrelang versäumt, sinnvolle Maßnahmen gegen Polizeibrutalität und Masseneinkerkerung zu ergreifen. Amy Klobuchar, die darauf hofft, von Joe Biden zur Vizepräsidenten ernannt zu werden, war acht Jahre lang Chefanklägerin des Hennepin County – zu dem auch Minneapolis gehört. Während ihrer Amtszeit unterließ es Klobuchar konsequent, Anklagen gegen Polizeibeamte zu erheben, die an 29 zivilen Todesfällen beteiligt waren, und entschied sich stattdessen für eine kompromisslose Haltung gehen alle Arten von (Klein-)Kriminalität, um die Unterstützung der konservativeren Einwohner*innen von Minneapolis zu sichern.
Der Tod von George Floyd steht in einer Reihe mit den jüngsten landesweit bekanntgewordenen Morden an Schwarzen durch Polizei und rechte Kräfte. Breonna Taylor, eine unbewaffnete schwarze Frau und Rettungssanitäterin, wurde am 13. März in Kentucky von der Polizei erschossen, die ihre Wohnung bei einer Razzia stürmte. Ahmaud Arbery, ein unbewaffneter schwarzer Mann, wurde am 23. Februar beim Joggen in Georgia von zwei Männern, von denen einer ein ehemaliger Polizist war, getötet. Dieser Mord wurde über zwei Monate lang unter den Teppich gekehrt, bis Videobeweise für den Lynchmord ans Licht kamen.
Nach dem Freispruch von George Zimmerman, der 2012 den schwarzen Teenager Trayvon Martin erschossen hatte, entstand in den sozialen Medien eine Bewegung unter dem Hashtag Black Lives Matter (BLM). BLM wurde national relevant, mit einer aktiven Präsenz vor Ort, nachdem die Morde an Michael Brown und Eric Garner 2014 riesige Proteste und Unruhen auslösten, die ein Ende der Polizeibrutalität und rassistischer Polizeiarbeit forderten. Ein landesweites Netzwerk wurde gebildet. Aber ohne ein gemeinsames Programm oder organisatorische Strukturen für Diskussionen und Debatten ebbte die Bewegung bis 2017 ab.
Lehren für Bürgerrechte und BLM
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass BLM oder alle neuen Aktionsgruppen, die im gegenwärtigen Augenblick entstehen könnten, die Lehren aus der Bürgerrechtsbewegung und der jüngsten Geschichte der BLM selbst anwenden. Die Bürgerrechtsbewegung (der 50/60iger Jahre, A.d.Ü.) machte den entscheidenden Fehler, auf die Demokratische Partei zu orientieren und so die Bewegung auf der Straße – die enormen Zulauf erhielt – in Wahlsiege für die Demokraten ummünzen zu lassen. Eben diese Demokraten verrieten später die Bewegung. Diese Erfahrung führte sowohl Martin Luther King (MLK) als auch Malcolm X zu der Schlussfolgerung, dass der Kampf gegen Rassismus den Kampf gegen den Kapitalismus erfordert.
Heute werden die meisten Großstädte, einschließlich der städtischen Polizeidienststellen und Bezirksstaatsanwaltschaften, von Demokraten kontrolliert, deren Rhetorik von Gerechtigkeit für die Afro-Amerikaner*innen oft im Widerspruch zu ihren Handlungen im Amt steht. Viele führende Politiker*innen der Demokratischen Partei verfolgten seit jeher eine rassistische praktische Politik. Hillary Clinton war eine Architektin des Kriminalgesetzesentwurfs von 1994, der die rassistische Polizeiarbeit ausweitete und moderne Masseninhaftierungen ermöglichte. Der Präsidentschaftsanwärter Biden lehnte die Aufhebung der Diskriminierung von Schwarzen an den Schulen aktiv ab und war ein glühender Befürworter von Clintons Kriminalgesetz von 1994. Während seiner acht Jahre als Präsident versäumte es Obama, sinnvolle Reformen des Strafrechtssystems vorzuschlagen. Trotz alledem unterstützten Elemente der BLM auch 2016 noch Hillary Clinton.
Die rassistische Politik der Demokratischen Partei schuf die Grundlage für die harte Rhetorik gegen die Kriminalität, auf die Trump heute angewiesen ist, um Unterstützung für seine rassistische Politik zu generieren und seine konservative Basis zu festigen. Trump und die Republikaner haben in ihrer Propaganda und durch die Forcierung von Massenverhaftungen, Polizeibrutalität und immigrantenfeindlichem Rassismus durch die Ausweitung brutaler ICE-Razzien (Abschiebungen, A.d.U.) und Massenverhaftungen von Immigranten den rassistischen Ton weiter verschärft.
Beide Parteien bedienen den Rassismus – mehr oder weniger gut versteckt –, um die rassistischen Vorurteile vieler weißer Wähler*innen anzusprechen und hochzuspielen. In Wirklichkeit nützt Rassismus den weißen Arbeiter*innen nicht. Die Kapitalisten sichern ihre riesigen Profite, indem sie die Arbeiter*innenklasse dazu bringen, untereinander zu kämpfen, sei es durch Rassismus, Sexismus oder irgendeine andere Form von Spaltung. Indem sie weiße, schwarze, eingewanderte, männliche oder weibliche Arbeiter*innen für die Probleme der anderen verantwortlich machen, können die Kapitalisten uns weiterhin ausbeuten, die Löhne senken, öffentliche Dienste privatisieren und den Lebensstandard senken.
Wie Malcom X bekanntlich erklärte: “Es gibt keinen Kapitalismus ohne Rassismus”. Der Kapitalismus ist ein System, das auf dem Rücken von Sklaven und dem Völkermord an indigenen Völkern aufgebaut ist. Dieses System wird den Rassismus nicht von sich aus beenden. Wir brauchen eine neue Partei, die von und für Arbeiter*innen geführt wird, frei vom Einfluss der Konzerne, die sich dem Kampf gegen alle Formen von Spaltung und gegen kapitalistische Ausbeutung widmen kann. Eine solche Partei könnte dazu beitragen, aus den jüngsten Protesten eine kämpferische antirassistische Bewegung aufzubauen.
Um zu gewinnen, muss die Bewegung ein kühnes Programm vorlegen, das die rassistischen Grundlagen des Kapitalismus in Frage stellt und die Arbeiter*innenklasse eint, indem sie für die Errungenschaften kämpft, die wir alle brauchen – einen existenzsichernden Mindestlohn, erschwinglichen Wohnraum, eine universelle Gesundheitsversorgung, ein Ende von Diskriminierung und Gewalt. Sie braucht demokratische Strukturen, in denen die Mitglieder debattieren, entscheiden und die Bewegung und ihre Vertreter*innen zur Rechenschaft ziehen können. Movement for Black Lives (M4BL) hat mit der Vorlage eines konkreten Programms Schritte in die richtige Richtung unternommen. Aber ohne das Profitsystem in Frage zu stellen, werden alle Fortschritte, die M4BL erzielen kann, von den Kapitalisten immer wieder zurückgedrängt werden. Der Kampf gegen systemischen Rassismus kann nur durch den Kampf für eine neue sozialistische Welt für immer gewonnen werden.
Explosion der Wut
Die jüngsten Unruhen sind eine Explosion der Wut über all die Probleme und die Gewalt, mit denen Schwarze konfrontiert sind. Die Vehemenz dieser Wut ist durch die unverhältnismäßig starken Auswirkungen der jüngsten Wirtschafts- und Gesundheitskrise noch verschärft worden. Obwohl Randale und Plünderungen keine wirksame Antwort auf Unterdrückung sind, hat MLK ihr Wesen einst gut beschrieben: “Ich denke, wir müssen sehen, dass ein Aufstand die Sprache der Ungehörten ist. Und was ist es, das Amerika nicht gehört hat? Es hat es versäumt zu hören, dass sich die wirtschaftliche Notlage der armen Negros in den letzten Jahren verschlechtert hat. Es hat es versäumt zu hören, dass die Versprechen von Freiheit und Gerechtigkeit nicht eingehalten wurden. Und es hat nicht gehört, dass große Teile der weißen Gesellschaft sich mehr um Ruhe und den Status quo sorgen als um Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschlichkeit”.
Die Empörung, die in diesen Unruhen zum Ausdruck kommt, kann in eine mächtige Bewegung organisiert werden, wenn man ihr eine Struktur und ein Programm gibt, um sich dahinter zu vereinen. Plünderungen und Vandalismus untergraben die Bewegung und werden benutzt, um gewalttätige Reaktionen der Kapitalisten und der Polizei zu rechtfertigen. Aber die Kapitalistenklasse ist eines weitaus größeren Verbrechens schuldig: der Kontrolle des Zugangs zu den Grundbedürfnissen für den Profit! Mit einer organisierten Bewegung, an der die Gewerkschaften und eine Arbeiter*innenpartei beteiligt sind, können wir Wohnungen, Nahrung und Grundbedürfnisse umverteilen, indem wir Schlüsselindustrien verstaatlichen und Sozialprogramme vollständig finanzieren. Die Pandemie hat die Tatsache, dass die Arbeitnehmer*innen “unverzichtbar” sind, um die Gesellschaft am Laufen zu halten, voll zur Geltung gebracht. Das bedeutet, dass wir auch die Macht haben, den Kapitalismus auszuschalten und eine Gesellschaft wieder aufzubauen, die das Wohlergehen der Menschen über den Profit stellt.
Der erste Schritt besteht darin, die organisierte Arbeiter*innenklasse in den antirassistischen Kampf einzubeziehen. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen sollten Resolutionen zur Unterstützung der Bewegung verabschieden – wie es die ATU-Ortsgruppe 1005 in Minneapolis getan hat – und antirassistische Proteste, Kundgebungen, Besetzungen und Streiks organisieren. Menschen aller Hautfarben, die ernsthaft bereit sind, den Kampf gegen Rassismus zu unterstützen, sollten in die Organisierung und Planung der antirassistischen Bewegung einbezogen werden.
Independent Socialist Group fordert:
- Verurteilung von Chauvin und allen Beamte, die am Tod von George Floyd beteiligt waren, wegen Mordes.
- Ende der Politik des Racial Profiling und des “Stop and Frisk” (Durchsuchungspraxis, A.d.Ü) und Entlassung rassistischer Polizeibeamter
- Kontrolle der Polizei durch demokratisch gewählte Ausschüsse von Arbeiter*innen und aus der Community, mit Einstellungs- und Entlassungsbefugnis, der Fähigkeit, Richtlinien zu überprüfen und zu erstellen, und der Autorität, unabhängige Untersuchungen von Fällen polizeilichen Fehlverhaltens durchzuführen
- Entmilitarisierung der Polizei. Ende der Verschwendung öffentlicher Gelder für Militärtechnologie und Waffen für Polizeibehörden. Stattdessen Investitionen in erschwingliche Wohnungen, allgemeine Gesundheitsfürsorge, öffentliche Verkehrsmittel, öffentliche Schulen, grüne Arbeitsplätze und andere soziale Programme und Dienstleistungen
Die Independent Socialist Group ruft auf:
- Für eine organisierte antirassistische Bewegung und ein Kampfprogramm zur Unterstützung des Widerstandes gegen Polizeibrutalität und andere Formen des systemischen Rassismus. Für demokratische Strukturen, um Strategie und Taktik zu diskutieren.
- Für die Koordination mit und die Beteiligung von Gewerkschaften an antirassistischen Kämpfen. Solidarität gegen Rassismus und alle Formen der Unterdrückung muss ein Schlüsselpunkt des Kampfes für die gesamte Arbeiter*innenbewegung sein!
- Organisierung von koordinierten Protesten, Besetzungen und Streiks. Wo nötig Verteidigung gegen Polizeiangriffe, aber Ablehnung wirkungsloser Plünderungen und Vandalismus. Wir sollten unserer Wut über die von der Polizei verübte systemische Gewalt einen organisierten und wirksamen Ausdruck verleihen, der auf den besten Taktiken beruht, die eine maximale Beteiligung fördern.
- Vereinigung aller Arbeiter*innen im Kampf gegen den Kapitalismus und die rassistische Ungleichheit und Gewalt, auf die das System gegründet wurde. Für internationale Solidarität gegen Diskriminierung und Imperialismus und für sozialistische Solidarität!