Von der Kampforganisation zur Stütze der kapitalistischen Wende
„Der Auftakt vom Ende des Kommunismus“ titelten die herrschenden Medien zum Jahrestag der Gründung der ersten vom Staat unabhängigen Gewerkschaft in Polen nach dem 2. Weltkrieg. Jedoch war der Massenstreik in Polen 1980 viel mehr ein Beispiel für die zu Beginn erfolgreiche Selbstorganisation und die Verbindung ökonomischer mit politischen Forderungen im Kampf gegen eine stalinistische Bürokratie und für eine echte Arbeiter*innendemokratie. Bereits vorher gab es in mehreren Ländern des sogenannten Ostblocks wie in der DDR 1953, Ungarn 1956, Polen 1956, 1970 und 1976 und Tschechien 1968 mehrfach Aufstände gegen die bürokratische Herrschaft, jedoch konnten diese blutig niedergeschlagen werden.
Von Alexandra Arnsburg, Berlin
Kommunismus? – Stalinismus!
Die Erfolge der Oktoberrevolution in Russland 1917 wurden von Revolutionär*innen auf der Grundlage der Ideen von Lenin und Trotzki lange verteidigt. Jedoch konnten sich die Fortschritte auf Grund wirtschaftlichem Rückstands und des Bürgerkriegs, an dem bis zu 21 von kapitalistischen Mächten unterstützte Armeen teilnahmen,nicht halten. Der Verrat der sozialdemokratischen Parteien in Ländern wie Deutschland verhinderten, dass weitere Revolutionen die Lage positiv in Richtung einer erfolgreichen Weltrevolution wendeten. Russland blieb isoliert und die einstige Arbeiter*innenregierung wurde vom bürokratischen Regime Stalins und seiner privilegierten Clique übernommen, tausende Oppositionelle wie auch Trotzki, dessen 80. Todestag wir in diesem Jahr begehen, wurden ermordet. Die stalinistischen Bürokratien in den Ländern Osteuropas entstanden nach dem Vorbild des sowjetischen Regimes, nachdem die Rote Armee diese am Ende des 2. Weltkriegs besetzt hatte. Anfangs gab es große Unterstützung in der Bevölkerung auch aufgrund der Verbesserungen in vielen Bereichen wie im Gesundheits- und Bildungswesen auf der Grundlage der Verstaatlichung der meisten Betriebe und der Enteignung des Großgrundbesitzes. So wuchs anfangs die polnische Wirtschaft um sieben Prozent pro Jahr. Doch ohne wirkliche Arbeiter*innendemokratie mit realen Rätestrukturen, jederzeitiger Wähl- und Abwählbarkeit und ohne Privilegien für Funktionär*innen konnte es keinen Fortschritt von Dauer geben. Dazu kam ein massiver Repressionsapparat. Oppositionelle wurden verfolgt, die Bevölkerung fast überall überwacht, es gab keine Meinungs-, Presse- oder Versammlungsfreiheit. In Polen gab es bereits 1956 einen politischen Streik in Poznań gegen die stalinistische Diktatur. Nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche wurde der Aufstand brutal niedergeschlagen und anschließend Zugeständnisse an kleinere private Landwirtschaftsbetriebe gemacht und mehr Privilegien für die Funktionär*innen und für die Kirche eingeführt.
Stalinistisches Chaos und Widerstand
Besonders die Lebensmittelversorgung war in Polen bereits seit Ende der 60er Jahre immer wieder knapp. Das System von Subventionen für Grundnahrungsmittel das in Ländern wie der DDR existierte, war aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Probleme kaum zu halten. Es gab immer wieder Preiserhöhungen. Der angekündigte erneute Anstieg der Preise für Fleisch 1970 führte bereits zu einem Aufstand vor allem an der polnischen Ostseeküste. Es gab über 100 Tote bei den Auseinandersetzungen. Als Zuckerbrot gab es dieses Mal massiv Kredite, um den Lebensstandard anzuheben. Wenige Jahre später führte das erneut zu wirtschaftlichen Problemen und zu einem weiteren Arbeiter*innenaufstand, als dessen Folge einige Oppositionelle ein Komitee (KOR) gründeten, um konkrete Hilfe zu organisieren, das auch die Gründung illegaler unabhängiger Gewerkschaften unterstützte.
Eine weitere Fleischpreiserhöhung war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Eine Massenstreikbewegung in verschiedenen Städten brachte das Land zum Stillstand und die Menschen in den anderen Ostblockländern und auf der ganzen Welt schauten auf dieses kleine Land in der Mitte Europas; den Regierenden in Polen und den anderen Ländern wurde Angst und Bange angesichts des potentiellen Effekts auf sie im Falle eines Erfolgs der polnischen Arbeiter*innen. Am 1. Juli 1980 traten die ersten Arbeiter*innen in Tczwe bei Gdańsk und in einem Warschauer Vorort in den Streik. Bereits von Anfang an gab es Vollversammlungen und der Streik weitete sich schnell auf andere Städte wie Warschau, Lodz und Gdańsk aus. Die Regierung versuchte, mit einzelnen Bereichen über Konzessionen zu verhandeln und so den Streik zu brechen. Jedoch streikten bereits Mitte Juli die Arbeiter*innen auch in Lublin und forderten: keine Repressionen, Abzug der Polizei aus den Fabriken, Lohnerhöhungen, keine Privilegien, Meinungsfreiheit und freie Gewerkschaften. Aufgrund dessen, dass Lublin an der Hautbahnstrecke nach Russland lag, wurden durch den Streik die Exporte gestoppt. Drucker weigerten sich, die Propagandalügen über eine angeblich drohende russische militärische Intervention zu drucken und schlossen sich dem Streik an.
Der Erfolg von Gdańsk
Nach Wochen des Streiks und mit der Aussicht wenigstens für den eigenen Betrieb etwas rauszuholen, hatten örtlich einige Arbeiter*innen den Streik beendet. Aber am 14. August 1980 traten die Werftarbeiter*innen von Gdańsk aufgrund von Angriffen gegen die Aktivistin und Mitglied der illegalen Gewerkschaft Anna Walentynowicz und die Beschäftigten der Warschauer Verkehrsbetriebe in den Streik. Das machte einen großen Eindruck und die Streikzahlen stiegen überall im Land weiter an. Die Betriebsbesetzungen verbreiteten sich schnell auf die Region Gdańsk-Sopot-Gdynia aus. Die Arbeiter*innen hatten ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. In dem Industriegürtel um Gdańsk arbeiteten sonst mehrere zehntausend Menschen, in der Lenin-Werft allein 20.000. In Massenversammlungen diskutierten sie ihre Forderungen und bildetet ein überbetriebliches Streikkomitee (MKS) mit 400 Mitgliedern, je zwei Delegierte aus jeder Fabrik. Bereits Ende August waren es 1000 Delegierte. Dadurch wurde eine große Einheit geschaffen und der Bürokratie konnte es nicht gelingen, die Belegschaften zu spalten. Bei den täglichen Massenversammlungen wurden die Diskussionen des Streikkomitees nach draußen per Lautsprecher übertragen und nach einigen Tagen konnten sich auch Streikende von außen per Mikrofon in die Diskussion einbringen. Am Abend wurde die Diskussion mittels Tonträger von den Delegierten in die betrieblichen Vollversammlungen getragen. Aber leider fanden auch schon zu diesem Zeitpunkt einige Diskussionen zwischen den „Experten“ des Regimes und „Fachleuten“ des MKS hinter verschlossenen Türen statt. Um den Kontakt der Arbeiter*innen untereinander zu blockieren, unterbrach das Regime die Telefonleitungen, was die Bewegung aber sofort mit einer Ausweitung der Streiks beantwortete und zurückgenommen wurde. Die aktuellen Forderungen waren Anerkennung freier Gewerkschaft und des Streikrechts, nach Redefreiheit und Pressefreiheit, gegen die Privilegien der Bürokratie und der Geheimpolizei. Niemand forderte die Einführung des Kapitalismus, so wie es uns heute oft weis gemacht werden soll. Die Streikenden beschlossen die Bildung einer Arbeiter*innenmiliz und das Verbot von Alkoholkonsum.
Das Regime begann von einer Maßnahme zur anderen zu wanken, es drohte mit dem Einsatz des Militärs, woraufhin die Arbeiter*innen von Lublin drohten, erneut die Bahnstrecke zu schließen. Anderen Arbeiter*innen gewährte die Regierung Lohnerhöhungen, ohne dass sie gestreikt hatten, wie den Werftarbeiter*innen in Sczeczin. Dadurch beschlossen auch sie, sich zu beteiligen. Aus der Region schlossen sich 400.000 Arbeiter*innen dem MKS an. Alle Schichten der Gesellschaft begannen ihre eigenen demokratischen Komitees zu schaffen. Die Regierungen der Nachbarländer DDR, CSSR und der Sowjetunion schlossen die Grenzen. Die Ausweitung der begonnenen politischen Revolution sollte verhindert werden. Tatsächlich streikten bereits Arbeiter*innen im tschechischen Kohlerevier Ostrau, im Bergbau in Rumänien und in Togliattigrad in Russland. In Turin riefen Arbeiter*innen: „Machen wir es wir in Gdansk!“
Das Regime war isoliert. Mitglieder der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) gründeten nun selbst MKS und gehörten zu deren Führung in vielen Orten. Am 31. August 1980 erzwang die Arbeiter*innenbewegung Polens das Abkommen von Gdańsk, mit dem ihre 21 Forderungen erfüllt werden sollten. Die erste freie Gewerkschaft Solidarność wurde noch am selben Tag gegründet.
Aufstieg und Fall von Solidarność
Der Streik ging nicht weiter. Die Arbeiter*innenklasse hatte zwar politische Forderungen erhoben, hatte aber kein Programm für den Sturz des Regimes und für den Aufbau einer echten Arbeiter*innendemokratie. Stattdessen spielten die Führungen in Gdańsk und von Solidarność wie der heutige Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa und sogenannte „Fachleute“ eine blockierende Rolle, hielten die Bewegung zurück und ließen radikalere Forderungen der Arbeiter*innen fallen. Nachdem sie das Abkommen unterzeichnet hatte, ging die Führung in die Betriebe, um die Arbeiter*innen zu überzeugen, ihre Streiks zu beenden. Trotzdem wuchs die neue Gewerkschaft enorm. Zwei Wochen später hatte die Gewerkschaft 3,5 Millionen Mitglieder, im Herbst 8,5 Millionen und nach kurzer Zeit wurden es 10 Millionen Mitglieder. Überall mussten hunderte von Bürokrat*innen zurücktreten. Nach einer Attacke der Polizei im März 1981 auf Aktivist*innen von Solidarność kamen es zu einem Warnstreik und zur Ankündigung eines Generalstreiks, wogegen Wałęsa gemeinsam mit der Kirche intervenierte. Die Drohung genügte, um die Verantwortlichen für den Übergriff zu bestrafen, was als Vorwand für Wałęsa galt, den Generalstreik abzusagen. Während Wałęsa ein zweites Japan und Wohlstand für alle versprach, konnte das Regime die Wirtschaft sabotieren und einige Grundnahrungsmittel und Pflegeprodukte wurden knapp. Die Arbeiter*innen frustrierten und die stalinistische Clique in der Regierung hatte erkannt, dass die anfänglich störende Gewerkschaft auch nützlich sein kann, wenn es darum geht, Kämpfe zu verhindern.
Im September 1981 fand der erste und letzte Solidarność-Kongress statt. Es gab zwar eine Opposition gegen die Führung, diese war aber nicht organisiert und hatte kein gemeinsames Programm.
Am 13. Dezember 1981 organisierte der militärische Flügel der Bürokratie einen Militärputsch und rief das Kriegsrecht aus. Die Solidarność-Führung wurde verhaftet, ebenso wie tausende Aktivist*innen. Versammlungen wurden Verboten, eine Ausgangssperre wurde verhängt. Die demokratischen Strukturen der Gewerkschaft waren zerstört. Im Untergrund bis 1983 war es kaum möglich eine breite Diskussion an der Basis zu organisieren, obwohl es vor allem den weiblichen Streikenden gelang, eine illegale Zeitung „Mazowske“ herauszugeben und noch im Dezember 1981 einen Streik in der Marineakademie in Gdingen zu organiseren. Die Bevölkerung litt zunehmend unter dem Mangel und der Inflation, die Wirtschaftskrise vertiefte sich. Die Arbeiter*innen, die erneut stundenlang für Grundnahrungsmittel und einfache Produkte wie Toilettenpapier anstehen mussten, frustrierten zunehmend und die stalinistische Clique in der Regierung gab Solidarność die Schuld, welche so als Sündenbock herhalten musste. Spätestens 1988 unterschieden sich die Führung von Solidarność und die Bürokratie nicht mehr in ihren Positionen und forderten „Marktreformen“. Die von den Bürokrat*innen geschürten Illusionen in diese Reformen gaben der Gewerkschaft, die sich als Kraft darstellte, um diese umzusetzen, wieder neuen Auftrieb. Diese begnügte sich dann damit am „Runden Tisch“ mit in die Reformen einbezogen zu werden. Es gab keine Vollversammlungen mehr und keine Tonübertragungen aus den Diskussionen, lediglich ein paar einstudierte Ausschnitte wurden im Fernsehen gezeigt. Die neu begonnenen Streiks im Land wurden mit einem Abkommen über nur teilweise freie Wahlen gestoppt. Trotz der Rolle der Führung von Solidarność gewann diese die ersten Wahlen am 5. Juni 1989. Die Frauen, die 54 Prozent der Mitgliedschaft ausmachten und eine herausragende Rolle in den Streiks und in der Illegalität spielten kamen nur vereinzelt auf die Wahllisten. Die Absprache des „Runden Tischs“ beinhaltete eine vorher festgelegte Verteilung der Sitze im Parlament von 65 Prozent für die PZPR und die Blockparteien und nur 35 Prozent für oppositionelle Kandidat*innen. Es nahmen auch 3 katholische Priester, aber nur zwei Frauen teil. Wałęsa und seine Mitstreiter*innen in Solidarność ließen sich von vornherein auf einen Kompromiss ein, der den verhassten Machthabenden eine Parlamentsmehrheit sicherte, unabhängig vom realen Wahlergebnis.
Dies wurde genutzt um eine Koalition zu bilden und der kapitalistischen Restauration den Weg zu ebnen, statt der Arbeiter*innenklasse eine Organisation zu geben, mit der sie eine unabhängige Rolle hätte spielen können.
Das führte zu einem Desaster in allen Bereichen. Die Politik der Solidarność-Führung hatte zur Folge, dass die Arbeiter*innen nicht mehr daran glaubten, aus eigener Kraft einen Weg einzuschlagen, der zu einem wirklichen Sozialismus führt. Nicht nur, dass Wałęsa einen pro-marktwirtschaftlichen Kurs vertrat und somit ein Programm vorschlug, das ein reales Hindernis darstellte.
Eine weitere offene Flanke war die Nähe zur katholischen Kirche. Der aus Polen stammende Papst Johannes Paul II. intervenierte bereits Ende der 70er Jahre in die entstehenden Bewegung. Durch ihn suchte die Kirche nach einem Verbündeten, um ihren Einfluss in Polen wieder herzustellen. Selbst nach den Jahren der Repressionen durch die Bürokratie in den 80ern erwies sich Wałęsa als eben dieser. Solidarność wurde von Beginn an von Johannes Paul II. unterstützt und legitimierte die Kirche. Bis heute ist sie eine reaktionäre Einrichtung, die das Bewusstsein der Menschen in Polen in religiöse, dem Kapitalismus nicht gefährliche Bahnen lenkt.
„Machen wir es wie in Gdańsk!“
Das Potential der Massenstreiks und der Arbeiter*innenselbstorganisation in Polen 1980 war enorm. Nur durch den Verrat der Führung, die Zerschlagung der demokratischen Errungenschaften der Bewegung, der Verordnung des Kriegsrechts und dem wirtschaftlichen Zusammenbruch konnte die Konterrevolution siegen. Mit einer starken organisierten Opposition mit einem klaren sozialistischem Programm hätte das stalinistische Regime gestürzt und ein neues Kapitel in der Geschichte des Kampfes für eine Gesellschaft nicht nach Profit organisiert, sondern im Interesse der Mehrheit der Menschen geschrieben werden können.
So wie die polnischen Arbeiter*innen 1980 die Lehren aus den Aufständen 1956 bis 1976 zogen und auf neue demokratische Strukturen und breite Debatte setzt, so kann die Arbeiter*innenklasse heute in Polen und überall sich ein Beispiel an der Intuition der Arbeiter*innenbewegung in Polen 1980 nehmen, sich von den Methoden der Demokratisierung und Ausweitung von Streiks und dem Zusammenhalt inspirieren lassen; aus den Fehlern lernen und in die nächsten Auseinandersetzungen mit einem klaren sozialistischem Programm gehen und Organisationen aufbauen, die ein solches verteidigen.
Filmtipp: „Strajk – Die Heldin von Danzig“, 2006, Schlöndorf u.a. mit K. Thalbach