Kamala Harris ist ein Triumph – für wen?

Zur Vize-Kandidatin der Demokraten für die US-Präsidentschaftswahl

An der Seite von Joe Biden steht als Kandidatin für die Vize-Präsidentschaft Kamala Harris. Diese könnte im Falle eines demokratischen Wahlsiegs gleich in mehreren Hinsichten für Premieren sorgen, was unter einer Schicht von Frauen, Afroamerikaner*innen und Migrant*innen zu Hoffnungen führen kann.

Eine Kolumne zu den US-Präsidentschaftswahlen von Martin Schneider, Berlin

Als erste Vizepräsidentin mit nicht-weißem Background und dann erste Präsidentin mit afroamerikanischen und indischen Wurzeln. Also eine WoC – Woman Of Colour – als Präsidentin. Welch ein Triumph für Identität und Repräsentanz. Wirklich?

Bei einer Reihe von Kandidat*innen für ein Amt, die alle inhaltlich für progressive, arbeiter*innenfreundliche, vielleicht sozialistische Politik stehen, die also das umsetzen werden, was eine Organisation oder Partei zuvor demokratisch beschlossen hat, kann man argumentieren, die Wahl nach repräsentativen Gesichtspunkten zu treffen. Wenn alle Kandidat*innen inhaltlich und politisch in etwa gleich einzuschätzen sind – ob dies möglich ist, sei dahingestellt – und eine*r der Kandidat*innen aus einer oder mehreren Gruppen kommt, die in der Gesellschaft in der Minderheit sind (Hautfarbe, Geschlechtszuordnung, sexuelle Präferenz, Behinderung etc.), dann kann dessen bzw. deren Wahl aufgrund dieser Merkmale richtig sein, weil auf diese Weise Solidarität ausgedrückt und ein Zeichen gesetzt werden kann. Marginalisierte Gruppen können sich vertreten sehen und der Klassenzusammenhalt wird gestärkt.

Wenn aus derselben Reihe von Kandidat*innen nun aber die Person mit Merkmalen der gesellschaftlichen Minderheiten inhaltlich und politisch schlechte Positionen vertritt, weiter rechts steht, bestimmte programmatische Forderungen nicht teilt, korrupt ist o. ä., dann rettet ihn oder sie auch seine Identitätspolitik nicht. Und wenn der einzige Kandidat, der die Arbeiter*innenklasse vertritt, ein alter, weißer, heterosexueller Mann ist – dann ist dies dennoch der bessere Kandidat.

Sozialist*innen müssen durchaus in der Lage sein, zu begreifen, in welcher Situation sich gesellschaftlich marginalisierte, diskriminierte und unterdrückte Minderheiten befinden und an vorderster Front im Kampf für deren Rechte stehen. Dieses Verständnis ist Grundvoraussetzung dafür, eine herkunfts-, hautfarben-, präferenzenübergreifende Klassensolidarität herzustellen, die eine Spaltung anhand solcher willkürlicher – nicht politischer – Linien verhindert. Aber: Ein*e Kapitalist*in kann noch so weiblich, Of Colour oder queer sein – letztendlich wird auch er oder sie ohne Ansehen dieser Merkmale bestreikt, enteignet und bekämpft. Seine bzw. ihre Klasse soll nicht weiblicher, diverser oder queerer werden – sie muss verschwinden!

Das Spielen der Identitätskarte lenkt so auch von inhaltlichen und politischen Fragestellungen ab.

Kamala Harris hat sich ihr Geschlecht und ihre jamaikanisch-indische Herkunft nicht gewählt. Diese Attribute sind weder Makel noch Verdienst. Aber sie hat sich entschieden, ein Cop zu sein.

Sie hat sich entschieden, Eltern schulschwänzender Kinder mit Gefängnis zu drohen. Sie hat sich entschieden, die Todesstrafe in Kalifornien durchzusetzen. Sie hat sich entschieden, Steve Mnuchin und seine Banker nicht wegen illegaler Zwangsräumungen anzuklagen. Sie hat sich entschieden, später von demselben Steve Mnuchin (jetzt Teil der Trump-Administration) Spendengelder für ihre Kampagne anzunehmen. Sie hat sich entschieden, Insass*innen der Gefängnisse Kaliforniens zur Zwangsarbeit heranzuziehen und sie als Hilfsfeuerwehr in die Buschbrände zu schicken.

Sie selbst fasst ihre politische Haltung am besten zusammen:

„Ich weiß, früher sind wir alle rumgelaufen mit Schildern und haben skandiert: Baut Schulen, nicht Gefängnisse, baut Schulen, nicht Gefängnisse! Okay, ich stimme dem theoretisch zu. Das ist ein netter Gedanke. Aber er löst nicht unser Hauptproblem: Warum habe ich drei Schlösser an meiner Tür?“

Die Antwort, Kamala, ist: Soziale Ungleichheit. Armut. Kapitalismus.

Wenn also Herkunft und Identitätsmerkmale nicht garantieren, dass ein*e Kandidat*in im Amt das umsetzt, was er oder sie im Wahlkampf versprach, was dann?

Ein paar Ideen: Die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit, wenn ein*e Kandidat*in seine /ihre Wahlversprechen nicht hält oder von Parteibeschlüssen abweicht. Die umfassende Rechtfertigungspflicht gegenüber denjenigen, den er oder sie vertreten soll. Die Begrenzung seiner oder ihrer Bezüge auf das, was der Durchschnitt seiner oder ihrer Wählerschaft verdient.

Man erinnert sich an seine Aufgabe, wenn man die Auswirkungen unmittelbar selbst spürt – besser als an seine Wurzeln. Das Establishment weiß, warum es Kamala gewählt hat. Wir sollten es nun auch wissen.

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