China: Heute Wachstum, morgen Krise?

Foto: MNXANL/CC

Evergrande markiert keinen Lehman Bros.-Moment, sondern ist Ausdruck des besonderen Charakters Chinas

Anfang Oktober stufte der Internationale Währungsfonds seine Prognosen für das Weltwirtschaftswachstum leicht nach unten und nannte als Hauptfaktoren die anhaltende Pandemie und die langsamen Fortschritte bei der weltweiten Impfung.

Darüber hinaus äußerte er Bedenken hinsichtlich der Inflation, der Unterbrechung der Lieferketten und der zunehmenden internationalen Spannungen. Für China wurde jedoch immer noch ein Wachstum von acht Prozent im Jahr 2021 vorhergesagt. Dennoch ist klar, dass die nächste Ära nicht mit der Zeit nach dem Finanzcrash von 2007/2008 vergleichbar sein wird, in der China als Stütze für die Weltwirtschaft fungierte, wenngleich teilweise finanziert durch die Übernahme von Bürgschaften für das Weltfinanzsystem durch das US-Finanzministerium.

Von Hannah Sell, Generalsekretärin der Socialist Party England & Wales

Diesmal bedeutet der zunehmende Konflikt zwischen dem US-Imperialismus und China in Verbindung mit den wachsenden Turbulenzen in China selbst, dass China ein Faktor sein wird, der zu den zahlreichen Krisen des globalen Kapitalismus beiträgt, anstatt sie vorübergehend abzumildern.

In jüngster Zeit stand eine Reihe großer chinesischer Immobilienunternehmen kurz vor dem Zusammenbruch. Evergrande, das am höchsten verschuldete Immobilienunternehmen der Welt, geriet als erstes in die Schlagzeilen, doch es folgten weitere. Die Kaisa Group Holdings war das letzte Unternehmen, das seine Aktien an der Börse in Hongkong aussetzte, nachdem ihr Wert gesunken war.

Als die Evergrande-Krise zum ersten Mal ausbrach, war die Wirtschaftspresse voll von Warnungen, dass dies ein „neues Lehman Brothers“ sein könnte (das US-Unternehmen, dessen Konkurs 2008 ein Auslöser für die Große Rezession war). Während die Turbulenzen im chinesischen Immobiliensektor weitergehen, ist dies bisher nicht eingetreten. Jetzt wird auf den Finanzseiten der westlichen Presse ein anderes Problem erörtert. Einige sind der Meinung, dass die Zeit der Gefahr vorbei ist, da die chinesischen Aktienmärkte ihren Tiefpunkt erreicht haben, und dass daher jetzt die Zeit gekommen ist, um zu investieren und schnell ein Vermögen zu machen.

Andere hingegen befürchten, “dass die staatlichen Interventionen wieder einsetzen und auf andere Sektoren übergreifen werden”, als Teil einer, wie es der Präsident des Queen’s College Cambridge in der Financial Times formulierte, “größeren Neuausrichtung des chinesischen Wirtschafts- und Finanzsystems, die sowohl durch interne als auch externe Erwägungen angetrieben wird.”

Diese jüngste Angst westlicher kapitalistischer Investoren in China ist nicht unbegründet. Seit Jahren gibt es in China eine gigantische Immobilienblase, aber die aktuellen Turbulenzen wurden nicht durch ihr Platzen ausgelöst. Die Krise von Evergrande und des gesamten Immobiliensektors – der 29 Prozent des chinesischen BIP ausmacht – wurde vielmehr durch die Entschlossenheit des chinesischen Staates ausgelöst, das Verhalten der großen Immobilienunternehmen zu zügeln und sie zu zwingen, sich an die “roten Linien” zu halten, die die Verschuldung des Sektors verringern und die steigenden Immobilienpreise eindämmen sollen.

Das chinesische Banken- und Finanzsystem unterliegt strengen Kapitalkontrollen und wird von den staatlichen Banken dominiert, die Evergrande jederzeit hätten retten können. Dass sie dies nicht getan haben, ist eindeutig eine Entscheidung des chinesischen Regimes. Dies gilt auch für die Entscheidung, die Zahlungen an die internationalen Gläubiger – bis jetzt – nicht zu leisten. Bislang ist Evergrande technisch gesehen nicht bankrott gegangen und hat jede internationale Zahlung in letzter Minute geleistet. In Kommentaren, die sich eindeutig auf die Situation von Evergrande beziehen, hat die staatliche chinesische Wirtschaftsplanungsbehörde klargestellt, dass die Unternehmen ihre Schulden weltweit begleichen sollten, um “ihren Ruf und die Ordnung des Marktes zu wahren”. Dies zeigt, dass das chinesische Regime derzeit bestrebt ist, internationale Marktturbulenzen zu vermeiden.

In der Zwischenzeit scheint der Staat hinter den Kulissen in China einzugreifen und die Vermögenswerte von Evergrande umzuverteilen, das derzeit 778 Projekte in 223 Städten betreibt, wobei viele potenzielle Hausbesitzer*innen für Immobilien bezahlt haben, die noch nicht gebaut wurden.

Serie von Krisen

In Wirklichkeit gehört die Evergrande-Krise zu einer Reihe von Maßnahmen, mit denen der chinesische Präsident Xi Jinping und sein Regime versuchen, Teile der Kapitalist*innenklasse zu zügeln. Im Jahr 2017 wurde der private Versicherungskonzern Anbang von den chinesischen Aufsichtsbehörden faktisch geschlossen und zwangsweise umstrukturiert. Im vergangenen Jahr wurde der Börsengang des ehemals größten privaten Unternehmens in China, der Ant Group, der für 37 Milliarden Dollar geplant war, auf Anweisung des chinesischen Staates abrupt abgebrochen und das Unternehmen zur Umstrukturierung gezwungen. Weitere Beschränkungen in den Bereichen Bildung, elektronischer Handel, Glücksspiel und anderen Sektoren haben den Börsenwert der betroffenen Unternehmen schätzungsweise um 1,5 bis 3 Billionen Dollar geschmälert.

Was steckt hinter diesen Maßnahmen von Xi Jinping, die in einer Zeit, in der die chinesische Wirtschaft mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, offensichtlich Risiken bergen? Sie stehen im Zusammenhang mit dem derzeit vorherrschenden Slogan des chinesischen Regimes vom “gemeinsamen Wohlstand”. Auf Chinas Milliardär*innen wird Druck ausgeübt, damit sie mehr für den so genannten “gemeinsamen Wohlstand” spenden. Der Gründer von Tiktok hat 77 Millionen Dollar an einen staatlichen Bildungsfonds gespendet. Der Gründer des Smartphone-Unternehmens Xiaomi ging noch weiter und spendete über zwei Milliarden Dollar an einen Fonds zur Beseitigung der Armut.

Im Juli wurden anlässlich des hundertsten Jahrestags der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas große Feierlichkeiten organisiert. In November wurde auf der Jahrestagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei eine Resolution zur Geschichte der Partei erörtert, in der die “entscheidende” Rolle von Xi bei der Umwandlung Chinas in eine “große moderne sozialistische Nation” hervorgehoben wird.

Doch das so genannte “kommunistische” China hat keinen gemeinsamen Wohlstand geschaffen und hat absolut keine Ähnlichkeit mit echtem Sozialismus. Während einzelne Kapitalisten unter dem Druck stehen, ziemlich hohe Summen abzudrücken, und andere wegen Korruption vor dem Ruin stehen oder sogar hingerichtet werden, ist China nach wie vor ein Land, in dem die Kapitalist*innenklasse enorme Gewinne erzielen kann. Im vergangenen Jahr stieg das Gesamtvermögen der 2.918 reichsten Menschen in China um 24 Prozent auf 5,3 Billionen Dollar. Die Gründer*innen der Kommunistischen Partei Chinas von 1921 wären entsetzt über die brutale Diktatur, die eines der ungleichsten Länder der Welt regiert, und behauptet, aus ihren Reihen hervorgegangen zu sein.

Dennoch ist die “sozialistische” Rhetorik Xis nicht nur ein historischer Überhang aus der Vergangenheit, der im Begriff ist, zu verblassen. Im Gegenteil, sie hat unter Xis Herrschaft zugenommen und wurde in den letzten Monaten wieder verstärkt. Der sehr eigentümliche Charakter des chinesischen Regimes ist jedoch ein Produkt seiner Geschichte.

Die mächtige Revolution von 1949, die sich auf die arme Bauernschaft stützte, stürzte deb Großgrundbesitz und Kapitalismus in China und führte eine Planwirtschaft ein, die wichtige Errungenschaften für die Arbeiter*innenklasse und die arme Bauernschaft mit sich brachte, insbesondere die “eiserne Reisschüssel” (Arbeitsplatzgarantie) sowie Bildungs-, Gesundheits- und Sozialleistungen, die von staatlichen Unternehmen und Dorfgemeinschaften bereitgestellt wurden.

Doch anders als in der Sowjetunion, wo der ursprünglich demokratische Arbeiter*innenstaat aufgrund von Isolation und Armut degenerierte, basierte das chinesische Regime von Anfang an nicht auf Arbeiter*innendemokratie, sondern war ein stalinistisches bürokratisches Regime. Während es die Planwirtschaft verteidigte, war der Staat relativ unabhängig und unterlag keiner demokratischen Kontrolle durch die Arbeiter*innenklasse.

Im Jahr 1989 begann die Sowjetunion zu implodieren. Die Bürokratie hatte jedes Element der Demokratie unterdrückt. Die Diktatur war schon immer ein enormes Hindernis für die volle Entfaltung der Planwirtschaft gewesen, aber jetzt war sie zu einem absoluten Hindernis für die Weiterentwicklung der Gesellschaft geworden. Der Zusammenbruch der Planwirtschaft resultierte aus den inneren Widersprüchen des Stalinismus, nicht aus der Überlegenheit des Marktes. Im Gegenteil, die Rückkehr zum Markt bedeutete einen konterrevolutionären Rückfall in privates Gewinnstreben und Anarchie. Weit davon entfernt, die Überlegenheit des Marktes zu beweisen, brachte das Aufkommen des Marktes den größten Wirtschaftseinbruch der modernen Zeit.

Das chinesische Regime beobachtete die katastrophale und chaotische Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion und kam zu dem Schluss, dass es nicht die gleichen Fehler wie die sowjetische Bürokratie machen würde, die dazu führten, dass sie hinweggefegt wurde und die einst allmächtige Kommunistische Partei verboten wurde. Auch das chinesische Regime ging den Weg der Einführung kapitalistischer Verhältnisse – in enormem Ausmaß –, aber es versuchte, dies auf kontrollierte Weise zu tun, wobei der chinesische kommunistische Parteistaat die Zügel in der Hand behielt.

Drei Jahrzehnte später ist der chinesische Staat – bis jetzt – in der Lage, große Teile der Kontrolle zu behalten. Inzwischen gibt es eine enorm reiche Kapitalist*innenklasse. In China gibt es 626 Milliardäre, die zweitgrößte Gruppe nach den USA. Die wirtschaftliche Grundlage des Regimes ist eine einzigartige Form des Staatskapitalismus, bei der das Regime nicht einfach der repressive Agent oder Diener der – historisch gesehen – neu entstandenen chinesischen Kapitalist*innenklasse ist. Der chinesische Staat verfügt über ein hohes Maß an Autonomie, wenn es darum geht, die Entwicklung des Kapitalismus in einer Weise zu fördern und zu steuern, die seine eigene Macht am besten bewahrt. Der kränkelnde Charakter des westlichen Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten hat das chinesische Regime weiter darin bestärkt, dass sie einen besseren Weg nach vorn haben.

Der eigentümliche hybride Charakter Chinas

Es gibt keinen genauen historischen Vergleich für den eigenartigen hybriden Charakter des heutigen China. Marx und Engels beschrieben jedoch die komplexe Beziehung zwischen dem staatlichen “Überbau” und seinen wirtschaftlichen Grundlagen und wie unter bestimmten Bedingungen eine zwischen den sozialen Klassen ausgleichende Staatsmacht (ein “bonapartistischer” Staat) eine Zeit lang eine autonome Rolle bei der Förderung der Entwicklung der kapitalistischen Industrie und der Entwicklung einer kapitalistischen Klasse spielen kann.

Die derzeitige Situation kann jedoch nicht unbegrenzt andauern. In den letzten Jahrzehnten hat das schnelle Wachstum der chinesischen Wirtschaft es dem chinesischen Staat ermöglicht, die Spannungen zwischen den verschiedenen Klassenkräften in der Gesellschaft zu bewältigen.

Viele der relativ neuen kapitalistischen Klasse sind tatsächlich die Kinder kommunistischer Führer*innen, und fast alle sind Mitglieder der Kommunistischen Partei. Dennoch könnte ihre weitere Entwicklung die derzeitige Macht des chinesischen “kommunistischen” Staates destabilisieren und untergraben. Die Entwicklungen der letzten Monate sind ein Versuch, dies zu verhindern. Die Beschneidung des privaten Finanzsektors beispielsweise sollte in erster Linie verhindern, dass dieser beginnt, die Rolle der staatlichen Banken zu untergraben. Die Maßnahmen gegen die Bauträger sind ein Versuch, die Immobilienblase auf organisierte Weise zum Platzen zu bringen und die wachsende Unzufriedenheit über die Unerschwinglichkeit von Wohnraum zu zerstreuen.

Die chinesische Arbeiter*innenklasse, die inzwischen die mächtigste der Welt ist, hat sich noch nicht als organisierte Kraft Gehör verschafft, obwohl es wichtige Streiks gab. Die Entwicklung des Kapitalismus in China hat zu einer gigantischen Zunahme der Ungleichheit geführt. Die nach der Revolution eingeführten Reformen – wie die Sicherheit der Arbeitsplätze und die staatliche Versorgung im Gesundheits- und Bildungswesen – wurden zerstört oder bestenfalls massiv untergraben. Anders als im kapitalistischen Westen, wo die Löhne der Arbeiter*innen jahrzehntelang gedrückt wurden, ist der Lebensstandard insgesamt jedoch bisher gestiegen, so dass das Regime eine Basis der Unterstützung aufrechterhalten konnte.

Da die chinesische Wirtschaft vor größeren Schwierigkeiten steht, nicht zuletzt aufgrund der Versuche des US-Imperialismus, ihre weitere Entwicklung durch Handelsschranken zu blockieren, werden die Klassenspannungen zwangsläufig drastisch zunehmen. Diese werden sich auch innerhalb der riesigen Kommunistischen Partei mit ihren rund 90 Millionen Mitgliedern niederschlagen. Schon jetzt heißt es in der Zeitschrift Economist: “Auf dem linken Flügel der Partei gibt es Neo-Maoisten, die seit langem für eine Restauration ihres Helden eintreten und Deng kritisieren, den sie für Probleme wie Korruption und Ungleichheit verantwortlich machen. Auf der rechten Seite stehen diejenigen, die sich (ganz privat) Sorgen machen, dass China wieder in eine Diktatur im Stile Maos abgleitet.” Xi scheint derzeit zwischen diesen verschiedenen Flügeln der Kommunistischen Partei zu balancieren, während er gleichzeitig den chinesischen Nationalismus, insbesondere in der Taiwan-Frage, stärkt und Vorurteile, insbesondere Homophobie, schürt.

In einem bestimmten Stadium könnte ein Teil der Kapitalist*innenklasse dazu übergehen, offen gegen die Einschränkung ihrer Freiheit, ungehindert Gewinne zu machen, durch das chinesische Regime zu mobilisieren. Sie würden versuchen, die Mittel- und Arbeiter*innenklasse mit Forderungen nach Demokratie und beispielsweise LGBTQ+-Rechten zu mobilisieren. In einer solchen Situation könnte das chinesische Regime oder ein Teil davon dazu gedrängt werden, weitere Schläge gegen die Kapitalist*innenklasse zu führen, um zu versuchen, seine Basis in der Arbeiter*innenklasse zu festigen. Eine solche Krise kann an der Spitze beginnen, würde aber mit Sicherheit zu einer Massenrevolte an der Basis führen, auch wenn ihr Charakter in den ersten Stadien verworren sein mag.

Wie auch immer der Charakter der kommenden Revolte in China aussehen mag, eine langfristige Stabilität ist jedoch ausgeschlossen. Evergrande ist vielleicht nicht der nächste Lehman Brothers-Moment, aber er deutet auf die zukünftigen Stürme hin, die China erfassen und den Kapitalismus weltweit weiter destabilisieren werden.

Die einzige Kraft, die die chinesische Gesellschaft voranbringen kann, ist die Arbeiter*innenklasse. Die entscheidende Aufgabe für die chinesische Arbeiter*innenklasse wird darin bestehen, ihre eigenen Organisationen zu entwickeln – einschließlich weiterer Schritte zur Entwicklung unabhängiger Gewerkschaften und einer Massenpartei der Arbeiter*innenklasse, die mit einem Programm für Arbeiter*innendemokratie bewaffnet ist, einschließlich der Verteidigung der Rechte aller unterdrückten Gruppen, verbunden mit der sozialistischen Veränderung der Gesellschaft. Dies erfordert den Kampf für die Verstaatlichung der großen privaten Unternehmen und Banken, verbunden mit einem Programm der demokratischen Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung, das den staatlichen Sektor in einen echten sozialistischen Produktionsplan einbindet und ein neues Kapitel im Kampf für den echten Sozialismus weltweit aufschlägt.

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