Raus aus der Defensive! 

Vorschläge für einen radikalen Kurswechsel der Gewerkschaften

Steigende Lebenshaltungskosten bei zu niedrigen Löhnen, seit Jahren gewachsener Arbeitsdruck, Personalmangel in Krankenhäusern, Kitas, Schulen: es gibt vieles, wofür starke Gewerkschaften benötigt werden, um sich kollektiv zur Wehr zu setzen. 

Von Angelika Teweleit

Nun stehen wir vor tiefen krisenhaften Entwicklungen des Kapitalismus mit potentiell heftigen Folgen für die Arbeiter*innenklasse.  

Um die Interessen der Masse der Beschäftigten zu verteidigen, braucht es einen radikalen Kurswechsel der Gewerkschaften, weg von Co-Management und Sozialpartnerschaft. Angesichts einer massiven Propaganda, dass alle den Gürtel enger schnallen müssen, ob wegen des Krieges oder der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise, müssen die Gewerkschaften deutlich machen, dass sie einen konsequenten Kampf zur Verteidigung des Lebensstandards der Lohnabhängigen führen wollen. 

Neoliberalismus und Defensive

Seit Jahrzehnten werden Mitgliederschwund, ein Mangel an gewerkschaftlichen Strukturen in Betrieben und immer weniger Tarifbindung beklagt. 

Privatisierungswellen seit den 90iger Jahren wie auch große Veränderungen in den Beschäftigungsverhältnissen in Deutschland insbesondere mit der Agenda 2010 unter Führung der SPD-Grünen-Regierung, haben zu einer schlechteren Ausgangslage für gewerkschaftliche Gegenwehr geführt. Die Gewerkschaftsführungen tragen wegen ihrer Politik von Sozialpartnerschaft und Co-Management jedoch selbst einen Teil der Verantwortung, denn weder gegen Privatisierungen noch gegen die Einführung von Hartz IV haben sie konsequenten Widerstand organisiert. 

Fehlende Mobilisierungen

Die Aufsplittung der Tarifverträge, die ebenfalls von den Gewerkschaftsführungen lange mitgetragen wurde, führte zur weiteren Schwächung der gemeinsamen Kampfkraft der Beschäftigten. Doch da, wo es weiterhin Flächentarifverträge für hunderttausende Beschäftigte gibt, wie bei Bund und Kommunen oder auch in der Metallindustrie, wird das Mittel von Urabstimmung und Streik kaum noch eingesetzt. Es ist normal geworden, Tarifverträge mit Laufzeiten von mindestens zwei Jahren und weniger als der Hälfte des Geforderten abzuschließen. Dazu kommen unzählige Öffnungsklauseln unter der Maßgabe, dass Unternehmen konkurrenzfähig bleiben sollen. Es ist zu befürchten, dass diese Verzichtspolitik vor dem Hintergrund der jetzigen wirtschaftlichen Lage fortgesetzt wird, obwohl diese bereits  zu Enttäuschung bei Gewerkschaftsmitgliedern geführt hat. Zudem fanden die meisten großen Tarifrunden nur noch als Routineveranstaltungen statt. Daher gibt es kaum Bewusstsein darüber, dass die abhängig Beschäftigten kollektiv eine große Kampfkraft entfalten können.    

Neue Arbeitskämpfe

Die Erkenntnis, dass kollektive Gegenwehr und damit auch Gewerkschaften zur Verteidigung der eigenen Interessen nötig sind, hat sich in den letzten Jahren trotz allem bei vielen durchgesetzt, gerade in Bereichen, die vorher traditionell schlechter organisiert waren. So schlossen sich in der „Berliner Krankenhausbewegung“ im letzten Jahr mehr als 2000 Kolleg*innen ver.di an.    

In einer Studie des „Streikmonitors“ an der Uni Jena  über das Streikgeschehen in der Bundesrepublik von 2016 bis 2020 wird deutlich, dass es viele kleinere Arbeitskämpfe gegeben hat  „Offensive Kämpfe, defensive Konflikte“, Jury Kilroy und Dirk Müller in jw vom 2.12.2021). Insgesamt wurden 991 Konflikte gezählt (davon etwa 25 Prozent in Ostdeutschland), die zu 2786 Streiks und Aktionen führten. 555 Konflikte fanden im Dienstleistungsbereich statt. ver.di führte 392 Arbeitskämpfe, die IG Metall 305, die NGG 106, 77 von Gewerkschaften außerhalb des DGB und 63 ohne Beteiligung der Gewerkschaften. In der Mehrzahl handelte es sich bei den einzelnen Auseinandersetzungen um Häuserkämpfe. Gleichwohl machten die größeren Tarifauseinandersetzungen immer noch das Gros der Streiktage und -beteiligten aus. Insgesamt war die Anzahl von Ausfalltagen durch Streiks in den Jahren aber gering, sowohl im internationalen Vergleich, als auch im Vergleich zum Streikjahr 2015, als Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst, bei der Post und der Bahn mehrere Wochen streikten. 2018 war die Anzahl der Streiktage etwas höher, weil die IG Metall zum ersten Mal das Mittel des 24-stündigen Warnstreiks anwendete und flächendeckend mobilisiert hatte. Gerade seit der Pandemie haben die Gewerkschaftsführungen auf große Mobilisierungen verzichtet, obwohl es durchaus möglich war, Streiks unter Hygienebedingungen durchzuführen, wie unter anderem der Streik der Berliner Krankenhausbeschäftigten zeigte.   

Industrie 

Auch in der Metallindustrie gab es eine Reihe von Arbeitskämpfen, etwa um die Einführung von Tarifverträgen oder auch gegen Schließung oder Entlassungen, wie beispielsweise bei Voith in Bayern oder Halberg Guss in Leipzig. Bisher wurden Auseinandersetzungen um Betriebsschließungen, auch in der Krise 2007-2009, von Seiten der Gewerkschaftsführung nicht konsequent für den Erhalt der Arbeitsplätze geführt. Stattdessen ging es um Schadensbegrenzung in Form von Sozialplänen und Transfergesellschaften.  Hier fehlt es in der sozialpartnerschaftlichen Ausrichtung der IG Metall, die oft bis hin zum Co-Management geht, an einer Programmatik, die über die kapitalistische Logik des Privateigentums und der Konkurrenzwirtschaft hinaus geht. In Anbetracht der krisenhaften Entwicklungen in der Wirtschaft kann dies aber sehr schnell zu einer zentralen Frage werden!

Zu den notwendigen Forderungen für die Verteidigung von Arbeitsplätzen gehört  eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, die Offenlegung der Geschäftsbücher sowie Verstaatlichung von Betrieben, die geschlossen werden sollen, unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung. Auf dieser Grundlage könnte auch die Produktion in umweltschädlichen Industrien sinnvoll und planmäßig nach Bedarf konvertiert werden. Jedoch bedarf es eines bewussten Kampfes von Mitgliedern in den Industriegewerkschaften, um einen solchen Kurswechsel durchzusetzen. Kommende Auseinandersetzungen können aber diese Fragen sehr schnell und für die betroffenen Kolleg*innen konkret auf die Tagesordnung setzen. 

Lebensstandard verteidigen – gemeinsam kämpfen

Während die Reichen auch in den Pandemiejahren ihren Reichtum weiter vergrößern konnten, werden steigende Mieten, Energie- und Lebensmittelpreise für große Teile der Arbeiter*innenklasse  massive Einbußen bedeuten. Die Gewerkschaften müssen in dieser Situation den Kampf aufnehmen anstatt einen Burgfrieden zu halten. Anstatt in den laufenden und kommenden Tarifrunden Reallohnverluste zu vereinbaren, müssen diese genutzt werden, um den Lebensstandard zu verteidigen beziehungsweise Reallohnerhöhungen durchzusetzen. Lange Laufzeiten müssen abgelehnt werden, weil die Inflationsentwicklung nicht absehbar ist. Für viele Beschäftigte wurden bereits lange Laufzeiten mit zu geringen Lohnsteigerungen vereinbart, die durch die Inflation zu Reallohnverlusten führen. In diesen Branchen müssen schnellstens Nachschlagsforderungen aufgestellt werden. Doch auch die Forderung nach einer gesetzlichen automatischen Anpassung an die Inflation sollte zusätzlich zu den Tarifforderungen aufgebracht werden. Zudem sollten die Gewerkschaften die politische Forderung nach Preiskontrollen und -obergrenzen aufwerfen. In den laufenden Tarifrunden im Sozial- und Erziehungsdienst, an den Unikliniken in NRW, Telekom, Stahl und anderen, sowie den bevorstehenden Tarifrunden im Herbst für Millionen von Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie, wie auch in der Chemieindustrie und zum Jahresende im öffentlichen Dienst sollten die Beschäftigten zu gemeinsamen Mobilisierungen auf die Straße gebracht werden! Im Sommer sollte eine DGB-weite Großdemonstration (oder abhängig von der Pandemielage Demonstrationen in allen großen Städten) durchgeführt werden. 

Investitionsprogramm öffentlicher Dienst 

Diese Mobilisierungen sollten auch genutzt werden, um den dringend nötigen Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge zu fordern. Empörung darüber, dass die Regierung zwar 100 Milliarden in Rüstung aber nicht in Gesundheit und Bildung stecken kann, muss in aktiven Widerstand verwandelt werden.

Schließlich hat es auch nach mehr als zwei Jahren Pandemie kein Umlenken gegeben und in Krankenhäusern und Pflegeheimen herrscht weiter katastrophaler Personalmangel. Der Kampf für mehr Personal sollte daher nicht auf einzelne Häuser beschränkt bleiben. Ausgehend von den Uniklinika in Nordrheinwestfalen, die aktuell für bessere Personalausstattung kämpfen, sollte eine bundesweite Bewegung zur Abschaffung der Fallpauschalen, den massiven Ausbau des Gesundheitswesen und für eine bedarfsgerechte Personalbemessung aufgebaut werden. Die Forderung nach mehr Personal wird auch in Kitas und Schulen laut, wo die Beschäftigten ebenfalls unter der großen Arbeitsbelastung leiden. 

Daher sollten auch für Forderungen nach massivem Ausbau des öffentlichen Dienstes und Investitionen in Milliardenhöhe in die Bereiche Gesundheit, Bildung, Soziales und Umwelt, finanziert durch Steuern auf große Vermögen, mobilisiert werden. Das würde aber auch beinhalten, dass die Gewerkschaftsführungen ihre politische Bindung an die SPD endlich aufgeben müssten. Die SPD unterscheidet sich nicht mehr von anderen bürgerlichen Parteien. Auch, wenn einige Wahlversprechen den Eindruck erwecken sollten, dass sie die Interessen der arbeitenden  Bevölkerung wieder mehr berücksichtigen würde, ist ihre Politik ganz und gar im Interesse der großen Konzerne und Banken. Auch die Erhöhung des Mindestlohns ändert daran nichts und wird aktuell wegen der massiven Preissteigerungen auf Dauer kaum eine wirkliche Verbesserung darstellen. 

Wenn die Gewerkschaftsführungen ernsthaft mobilisieren würden, von Demonstrationen bis zu gemeinsamen Streiks, könnten die Gewerkschaften massiv gestärkt und aufgebaut werden. Das Bewusstsein, sich gewerkschaftlich organisieren zu müssen, würde zunehmen. Es würde auch bedeuten, dass Rechtspopulist*innen das Wasser abgegraben werden könnte und sich die Möglichkeiten für den Aufbau einer politischen Interessenvertretung für die Arbeiter*innenklasse enorm verbessern würde, bei dem die Gewerkschaften eine wichtige Rolle spielen könnten. 

Demokratisierung

Anstatt bürokratischer Apparate braucht es demokratische Kampforganisationen. Das heißt, alle gewerkschaftlichen Funktionär*innen, egal ob ehrenamtlich oder hauptamtlich, sollten gewählt werden, rechenschaftspflichtig und abwählbar sein. Um sich nicht materiell von den Kolleg*innen, die sie vertreten, zu entfernen, sollten die Löhne von Hauptamtlichen nicht höher als der Durchschnittslohn der zu vertretenden Mitglieder sein.  Alle Einnahmen aus Aufsichtsratstätigkeiten sollten ausnahmslos an die Bewegung abgeführt werden und keinerlei Privilegien angenommen werden. 

Rolle von Sozialist*innen

Sozialist*innen werden alle sich bietenden Möglichkeiten ergreifen, um den Aufbau und die Stärkung der Gewerkschaften in Betrieben zu unterstützen. Gleichzeitig besteht eine zentrale Aufgabe darin, sich innerhalb der Gewerkschaften für eine klassenkämpferische Ausrichtung und ein Aktionsprogramm gegen die Folgen der Krise für die Arbeiter*innenklasse einzusetzen. Dafür ist es auch nötig, kämpferische Kolleg*innen untereinander zu vernetzen, um gemeinsam eine solche Ausrichtung zu stärken, wofür die „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ (VKG) ein wichtiger Ansatz ist. Es ist außerdem nötig, heutige Kämpfe für bessere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, den Erhalt von Arbeitsplätzen und den Ausbau des öffentlichen Dienstes mit einer sozialistischen Perspektive zu verbinden. Denn innerhalb des Kapitalismus stoßen all diese Forderungen auf den erbitterten Widerstand derjenigen kleinen Minderheit in der Gesellschaft, die ihre Profite verteidigen wollen. 

Angelika Teweleit ist ein der Sprecher*innen der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und Mitglied der Sol-Bundesleitung.

VKG-Konferenz: Gewerkschaftliche Strategien gegen Lohnverzicht, Sozialkahlschlag und Aufrüstung: 8./9. Oktober in Frankfurt/Main – mehr auf www.vernetzung.org

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