Gewerkschaftliche Großdemonstration und Streik von Bahnbeschäftigten
In Großbritannien steht die Gewerkschaftsbewegung vor großen Herausforderungen, aber auch Chancen. Die Wirkungen der Corona-Pandemie treffen sich mit denen der aktuellen massiven Preissteigerungen.
von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart
Ein erster Höhepunkt war eine gewerkschaftliche Großdemonstration von Zehntausenden Kolleg*innen am 18. Juni in London gegen die Folgen der Preissteigerungen für die arbeitende Bevölkerung. Die Demonstration zeigte die kämpferische Stimmung der Kolleg*innen in den verschiedensten Bereichen, aber auch die Schwächen der gewerkschaftlichen Mobilisierung, die sich im Wesentlichen auf e-Mails und Flugblätter beschränkte. Bei einer entschlossenen gewerkschaftlichen Kampagne wäre eine noch viel größere Beteiligung möglich gewesen. Die Socialist Party (Schwesterpartei der Sol und Sektion des Committee for a Workers International in England und Wales) war auf der Demonstration mit Hunderten Mitgliedern aktiv, mit zahlreichen Infotischen, Zeitungen, Flugblättern etc. Sie erinnerte daran, dass es im März 2011 eine noch viel größere Gewerkschaftsdemonstration mit Hunderttausenden Teilnehmer*innen gegen die Kürzungspläne der damaligen Regierung gab, nach der dann aber nicht die notwendigen Kampfschritte folgten.
Streik der Eisenbahnbeschäftigten
Ein Vorteil diesmal ist, dass die nächsten Kampfschritte schon im Kalender eingetragen waren. Für diese Woche hatte die Eisenbahngewerkschaft RMT zu drei Streiktagen aufgerufen: am Dienstag, Donnerstag und Samstag.
Dieser Streik strahlte schon auf die Demonstration am Samstag aus. Der Demoblock der RMT wurden von den Kolleg*innen mit besonders großem Jubel begrüßt.
In Großbritannien wurde die Bahn besonders rabiat dem kapitalistischen Markt ausgeliefert. Also will das Bahnmanagement jetzt Einnahmeverluste während der Corona-Pandemie schonungslos auf die Beschäftigten (und auf den Service für die Bahnnutzer*innen) abwälzen, wobei es auch nicht davor zurückschreckt, die Sicherheit aller Bahnfahrenden zu gefährden.
Solche Pläne führten in einer Zeit, in der die Beschäftigten unter massiven Preissteigerungen leiden, zu großer Empörung und Streikbereitschaft und auch zu großer Solidarität in der arbeitenden Bevölkerung des ganzen Landes.
Aufgerufen war eine Vielzahl von Beschäftigten bei der Bahn: Zugbegleiter*innen: bei ihnen sollen Stellen aus Kostengründen abgebaut werden. Wartungsarbeiter*innen bei der Infrastruktur der Bahn: hier sollen Tausende Stellen wegfallen und Arbeitsbedingungen verschlechtert werden. Signalanlagen sollen nur noch halb so oft gewartet werden und auch andere sicherheitsrelevante Wartungen verringert werden. Damit wird die Gefahr schwerer Unfälle leichtfertig in Kauf genommen. Am Dienstag waren auch die Beschäftigten der Londoner U-Bahn zum Streik aufgerufen: Sie wehren sich ebenfalls gegen Stellenabbau und schlechtere Arbeitsbedingungen (unter anderem gegen Nachtschichten ohne Zustimmung der Betroffenen) und hatten im März bereits einen Streik und am 6. Juni Aktionen organisiert. Auch Beschäftigte auf Bahnhöfen waren zum Streik aufgerufen. Die Lokführer*innen sind in der Gewerkschaft Aslef organisiert, die möglicherweise demnächst auch zu Streiks aufrufen wird.
Am Dienstag und am Donnerstag fielen etwa 80 Prozent des Bahnverkehrs in Großbritannien aus. Mitglieder der Socialist Party in England und Wales und der Socialist Party Scotland besuchten im ganzen Land Streikposten und berichteten von einer guten und kämpferischen Stimmung. Am Donnerstag berichteten sie, dass die Beteiligung an den Streikposten und die Stimmung teils noch besser war als zwei Tage vorher. Auch zeigte sich bei den Streikposten der große Rückhalt der Bevölkerung für die Streikenden (während sich die bürgerliche Regenbogenpresse mit Hetze überschlägt). In den sozialen Medien wird RMT-Generalsekretär Mick Lynch, der sich und die Beschäftigten gegen teils lächerliche Suggestivfragen von Journalist*innen bis hin zu streikfeindlicher Propaganda von Politiker*innen verteidigen muss, von vielen gefeiert. An einem Streikposten berichteten Kolleg*innen, dass sie am Dienstag mit einem Hotelbeschäftigten über den Streik diskutierten. Als sie ihn beim Streik am Donnerstag wieder trafen, erzählte er, dass er überlege, auch einer Gewerkschaft beizutreten. Google-Suchanfragen mit den Stichworten „einer Gewerkschaft beitreten“ verzeichneten einen Anstieg von 184 Prozent.
Die Regierung droht, das in den 1980er Jahren unter Thatcher verkrüppelte Streikrecht für die Bahnbeschäftigten noch weiter einzuschränken. Auch will sie den Einsatz von Leiharbeiter*innen an Stelle des qualifizierten Personals als Streikbrecher*innen zulassen. Währenddessen drohte Labour-Chef Keir Starmer zu Beginn der Woche, dass Labour-Abgeordnete, die sich mit den Streikenden bei Streikposten solidarisieren, mit innerparteilichen Sanktionen zu rechnen haben.
Koordination
Wenn die Streiks zu keinem Einlenken der Bahnkonzerne führen, sind weitere Streiks zu erwarten. Auch in anderen Branchen brodelt es. Schließlich betreffen durch die Inflation fallende Reallöhne Lohnabhängige im ganzen Land. Mitglieder der Socialist Party traten daher dafür ein, dass alle Beschäftigten eine Lohnerhöhung brauchen und deshalb Absprachen zwischen den Gewerkschaften und Koordination von Arbeitskampfmaßnahmen das Gebot der Stunde sind. Solche Ideen bis hin zu einem Generalstreik und der Notwendigkeit, dass die Gewerkschaften über die Bildung einer neuen Arbeiter*innenpartei beraten, fanden auch bei den Streikposten viel Unterstützung.
Ein wichtiger Termin für die Koordination kann das jährliche Treffen des National Shop Stewards Network (Landesweites Vertrauensleute-Netzwerk, NSSN) am 2. Juli werden. Das NSSN wurde 2007 von dem legendären Gewerkschaftsführer Bob Crow (Generalsekretär der RMT von 2002 bis zu seinem viel zu frühen Tod 2014), Gewerkschaftsmitgliedern der Socialist Party und anderen gegründet und vernetzt kämpferische Gewerkschaftsaktivist*innen aus zahlreichen Gewerkschaften und Berufsgruppen. An ihren Treffen nehmen Hunderte Basis-Aktivist*innen, aber auch linke Generalsekretär*innen und Präsident*innen von Gewerkschaften teil.
1978-79 gab es in Großbritannien einen „Winter der Unzufriedenheit“ mit Gewerkschaftskämpfen im ganzen Land. Die Verhältnisse schreien jetzt geradezu nach einem Sommer der Unzufriedenheit.