Wofür Michail Gorbatschow wirklich stand
Michail Gorbatschow, der am 30.08.2022 im Alter von 91 Jahren verstarb, war von 1985 bis 1991 der letzte Präsident der Sowjetunion und außerdem Generalsekretär der zwanzig Millionen Mitglieder zählenden Kommunistischen Partei. In ausführlichen Nachrufen in der kapitalistischen Presse wurde das Eintreten des Friedensnobelpreisträgers von 1990 für Demokratie, Weltfrieden und ein Ende des Kommunismus gepriesen.
Von Clare Doyle, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale
Doch wie der politische Sekretär der Socialist Party (CWI In England & Wales), Peter Taaffe, bei der Besprechung einer Biografie über Gorbatschow (https://www.socialistworld.net/2022/08/31/gorbachev-an-accidental-architect-of-world-change/) erklärte, wurde der letzte Präsident der UdSSR “zum Hüter der kapitalistischen Konterrevolution in der ehemaligen Sowjetunion”. Wie Gorbatschow in seiner Autobiographie schrieb, war er “ein Produkt der Nomenklatura (der Parteielite) und gleichzeitig ihr Totengräber”.
Nach jahrzehntelanger bürokratischer Misswirtschaft war das so genannte Sowjetsystem zum Stillstand gekommen, als Gorbatschow die Führung übernahm. In diesem System gab es (trotz des Namens, Sowjets waren die Arbeiter*innenräte in der russischen Revolution – Anm.) keine demokratische Verwaltung und Kontrolle durch die arbeitende Bevölkerung. Aber Gorbatschow war utopisch in der Vorstellung, dass der staatlichen Planwirtschaft neues Leben eingehaucht werden könnte – ohne eine politische Revolution von unten, die die parasitäre Bürokratie abwerfen würde.
Auf der Suche nach einem Weg, die eingetretene Sklerose zu überwinden, experimentierte Gorbatschow mit einer Politik der “Offenheit” (Glasnost) und der “Umstrukturierung” (Perestroika), jedoch ohne Erfolg. Er hob abwechselnd den Deckel des Dampfkochtopfs an und schloss ihn wieder.
Arbeiter*innen und Bürokrat*innen
Zu Beginn der 1990er Jahre befand sich die Wirtschaft im freien Fall. Nahezu leere Geschäfte wurden von riesigen Menschenschlangen umringt, die Gutscheine für Zucker, Eier und Würstchen in der Hand hielten. Toilettenpapier war ein Luxusgut. Der Wert des Rubels stürzte ab. Junge pro-kapitalistische Ökonomen drängten auf einen schnellen “Übergang zum Markt” und eine “Schocktherapie”.
Die Marxist*innen im Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (Committee for a Workers’ International, CWI) warnten, dass die Einführung des Kapitalismus nicht Wohlstand und Demokratie, sondern wirtschaftlichen Zusammenbruch, Hyperinflation und Diktatur bringen würde. Die Arbeiter*innen zogen es vor, das Gegenteil zu glauben. Die Geschichte sollte zeigen, dass sich die Vorhersagen des CWI auf tragische Weise bewahrheiten sollten und dass die kapitalistischen Staaten, die aus der UdSSR hervorgingen, instabil waren und – bezeichnenderweise – im Allgemeinen einen Rückgang der Bevölkerung verzeichneten.
Die Arbeiter*innen, die sich gegen die herrschende Bürokratie wandten und auch in den großen Betrieben streikten, wandten sich gegen Gorbatschow. Im Ausland galt er als der große Reformer. Im Inland war er zunächst bei vielen beliebt, wurde dann aber als schwach und unentschlossen angesehen.
Ohne Zugang zu Informationen über die reale Situation in den kapitalistischen Ländern und auf der Suche nach einem besseren Leben bewunderten einige russische Arbeiter*innen sogar die britische Premierministerin Margaret Thatcher. Verglichen mit dem schwankenden Gorbatschow schien sie ihre Aufgaben zu bewältigen, was auch immer es war! Sie waren sich nicht bewusst, wie sehr sie in Großbritannien für ihre rücksichtslose Behandlung streikender Bergarbeiter*innen und des Stadtrats von Liverpool sowie für ihren Versuch, Millionen von Arbeiter*innen eine ungerechte Kopfsteuer aufzuerlegen, gehasst wurde.
Historisches Jahr 1991
Im Juni 1991 wurde Boris Jelzin mit dem Versprechen großer demokratischer und wirtschaftlicher Reformen zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Artikel sechs des Wahlgesetzes der Sowjetunion wurde geändert, um auch anderen Parteien als der Kommunistischen Partei die Teilnahme zu ermöglichen. In der gesamten Sowjetunion kam es zu einer Umwälzung.
Am 21. August desselben Jahres war es Jelzin, der als Retter der Demokratie auftrat, als ein Putschversuch gegen Gorbatschows Herrschaft vereitelt wurde und der Präsident selbst aus seinem Ferienhaus auf der Krim “gerettet” wurde.
Die Totenglocke der UdSSR wurde geläutet. Die Republiken der UdSSR begannen sich abzuspalten und erklärten ihre “Souveränität” oder Unabhängigkeit. Die erste war die Ukraine am 23. August, die letzte war Kasachstan am 16. Dezember. Die baltischen Staaten hatten die UdSSR bereits verlassen, nachdem es zu Beginn des Jahres zu gewaltsamen Zusammenstößen gekommen war, bei denen Truppen sowohl in Vilnius als auch in Riga friedliche Demonstrant*innen getötet hatten.
Das Ende
Nur wenige Tage nach dem gescheiterten Putsch in Moskau wurde die Kommunistische Partei der Sowjetunion in der Russischen Föderation verboten. Gorbatschow verbrachte den Rest des Jahres 1991 mit dem Versuch, die Bildung einer “Gemeinschaft Unabhängiger Staaten” voranzutreiben. Eine GUS wurde zwar dem Namen nach gegründet, hatte aber in der Praxis wenig Bedeutung.
Ende 1991 gab es die Sowjetunion nicht mehr. Michail Gorbatschow verkündete am 25. Dezember in einer düsteren Fernsehsendung die offizielle Auflösung der UdSSR und wurde nur zwei Tage später kurzerhand aus dem Kreml vertrieben. (Siehe ’30 Jahre seit dem Ende der UdSSR’ auf socialistworld.net, ttps://www.socialistworld.net/2021/12/23/30-years-since-the-end-of-the-ussr-lessons-for-the-workers-movement/)
Restauration des Kapitalismus
Die Wiederherstellung des Kapitalismus in der ehemaligen UdSSR war gewaltsam. Es kam zu heftigen Kämpfen und sogar zu Schießereien auf den Straßen. Die Vertreter*innen der alten Bürokratie nutzten ihre Positionen, um sich die Banken und Unternehmen anzueignen. Die Oligarch*innen von heute verdanken ihren Reichtum und ihre Privilegien den Gangstern von gestern, nicht zuletzt dem heutigen Präsidenten Putin, der sich mit KGB-Anhänger*innen umgeben hat.
Putin hat Michail Gorbatschow nur mildes Lob ausgesprochen. Anderswo wird Gorbatschow jedoch weiterhin als einer der großen Friedensstifter aller Zeiten angesehen, und das mit einer gewissen Berechtigung.
Seit er 1985 Parteivorsitzender wurde, plante Gorbatschow den Abzug der Truppen aus Afghanistan, wo Tausende von Soldaten starben. Dies geschah im Jahr 1989.
1989 machte Gorbatschow seine Unterstützung für die Bewegungen gegen die stalinistischen Regime Osteuropas und später für die deutsche Wiedervereinigung deutlich. Seit 1991 blieb Gorbatschow in Russland und wurde von den Medien kaum beachtet. Sein Verhältnis zu Putin war stets angespannt, nicht zuletzt, weil Putin Gorbatschow für den Zusammenbruch der Sowjetunion verantwortlich machte. Während die kapitalistische Presse das Wort Imperium missbraucht, um den 1922 gegründeten riesigen freiwilligen Zusammenschluss von Arbeiter*innenstaaten zu beschreiben, scheint Putin darauf abzuzielen, die Macht Russlands in der gesamten Region wiederherzustellen.
Als sich seine Krankheit verschlimmerte, sah Gorbatschow in der Ukraine alle seine Bemühungen, den “Kalten Krieg” zu beenden und die Möglichkeit einer nuklearen Konfrontation auszuschließen, von Wladimir Putin mit Füßen getreten. Gorbatschows Frau Larissa, die 1999 starb, stammte aus einer ukrainischen Familie. Ein Großelternteil von Gorbatschow stammte aus der Ukraine, und er selbst hatte eine enge Beziehung zur ukrainischen Kultur und Literatur. Wie die Mehrheit der Russ*innen begrüßte er die Rückgabe der Krim im Jahr 2014, hat aber zu den tragischen Ereignissen der letzten sechs Monate öffentlich geschwiegen.
Gorbatschow hatte keine klare Vorstellung davon, wie der Zusammenbruch der riesigen Föderation von Republiken, die immer noch als Sowjetunion bekannt war, hätte verhindert werden können. Die eingetretene Sklerose hätte, wie Leo Trotzki erklärt hatte, nur durch eine von der Arbeiter*innenklasse durchgeführte politische Revolution behoben werden können. Eine Partei wäre notwendig gewesen, um eine solche Bewegung anzuführen. Unter dem erdrückenden Einfluss von Stalins Regime und den nachfolgenden Regierungen konnte sich keine solche Bewegung entwickeln.
Alle Lehren aus der Geschichte der UdSSR müssen für eine neue Generation von Jugendlichen und Klassenkämpfer*innen gezogen werden. Der Tod des letzten Präsidenten der UdSSR kann ein Auslöser für ein erneutes Interesse an den Lehren sein, die aus der Geschichte der Sowjetunion zu ziehen sind, da der Widerstand gegen den oligarchischen Kapitalismus und gegen den Krieg unweigerlich wächst. Jenseits der Grenzen erfordert die alarmierende Weltlage, mit der die neue Generation von Arbeiter*innen und jungen Menschen konfrontiert ist, eine gründliche marxistische Analyse und eine Entschlossenheit, echte sozialistische Organisationen auf internationaler Ebene aufzubauen.