Wenn sie kein Brot haben, sollen sie halt Müll essen

Kommentar zum jüngsten Vorstoß Cem Özdemirs, das Containern zu entkriminalisieren

Das 1,5°C-Ziel ist kaum noch einzuhalten. Die Erderwärmung schreitet voran, Extremwetter nehmen massiv zu. Die Grünen wurden gewählt, weil Millionen Hoffnung auf notwendige Veränderungen in der Klimapolitik in sie gesteckt haben. Doch sie werden herbe enttäuscht: Als Teil der Bundesregierung sind sie mitverantwortlich für den Tank-Rabatt, der ein Milliardengeschenk für die Mineralölkonzerne war. Ebenso haben sie das 100-Milliarden-Sondervermögen für die deutsche Armee mitgetragen, mit dem weder der Frieden noch das Klima geschützt wird. Habecks Klimapakete sind unzureichend und fördern in erster Linie die deutsche Wirtschaft. In der Landesregierung von NRW begehen die Grünen ein klimapolitisches Massaker, indem sie für RWE-Profite die Vernichtung von Lützerath mitverantworten.

Von Christian Walter, Containern-Aktivist aus Aachen

Jetzt hat der Grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir die Entkriminalisierung des Containerns gefordert. Beim Containern bedienen sich Menschen an genießbaren Lebensmitteln, die u.a. von Supermärkten und Discountern in großer Zahl weggeworfen werden. Bisher ist das in Deutschland als Diebstahl verboten, zumindest theoretisch drohen Haftstrafen. Immer wieder werden Menschen, die beim Containern erwischt wurden, auch tatsächlich kriminalisiert. Diejenigen, die in großen Mengen Lebensmittel vernichten, werden hingegen geschützt. Vor dem Hintergrund der bisherigen Klima-Bilanz der grünen Regierungsbeteiligung könnte man meinen: Ist doch toll, wenn zur Abwechslung mal was Gutes von einem grünen Spitzenpolitiker kommt?

Ganz so einfach ist es aber nicht. Klar sind wir nicht gegen die Forderung. Tatsächlich würde mit der Entkriminalisierung des Containerns eine Forderung umgesetzt, die Aktivist*innen seit vielen Jahren immer wieder anbringen. Sie war auch eine zentrale Forderung, als wir in Aachen 2016 mit einer öffentlichen Kampagne zwei Betroffene unterstützten – eine Kampagne, die viel Aufmerksamkeit erzeugte und schließlich zur Einstellung der Verfahren führte. Allerdings macht es Sinn, genauer hinzuschauen.

Zu weniger Lebensmittelvernichtung würde die Entkriminalisierung des Containerns nicht führen. Lebensmittelvernichtung geschieht, weil viel zu viel Essen produziert wird. Sie ist kein Versehen, sondern Folge der massiven Überproduktion. So werden derzeit weltweit Nahrungsmittel produziert, die theoretisch 12 Milliarden Menschen ernähren könnten. In reichen Ländern wie Deutschland landet mehr als ein Drittel aller Lebensmittel im Müll! Wer soll das alles essen?

Auch würde das Containern dadurch nicht zwangsläufig erleichtert. Schon jetzt schließen viele Geschäfte ihren „Müll“ weg, schließlich wollen sie, dass man das Essen kauft und dafür Geld ausgibt, anstatt sich kostenlos zu bedienen. Wäre das Containern entkriminalisiert würde das vermutlich zunehmen. Deswegen haben wir die Forderung nach der Entkriminalisierung des Containerns auch immer verbunden mit der Forderung, dass Supermärkte und Discounter einen freien Zugang zu genießbaren, aber für den Müll bestimmten Lebensmitteln gewähren müssen.

Seit vielen Monaten wird alles teurer. Ob bereits mehr Menschen containern gehen kann ich nicht sagen – zu selten trifft man Menschen an den Tonnen, um ein belastbares Bild zu bekommen. Aber die Anfragen von Menschen, ob sie etwas von der „Beute“ bekommen können, nehmen deutlich zu. Ähnliches ist auch bei Initiativen wie „Foodsharing“ zu beobachten. Tafeln berichten gar über fünfzig Prozent mehr Anfragen in 2022, ein Drittel der Tafeln im Bundesgebiet musste wegen Überlastung sogar Aufnahmestopps aussprechen. Vor dem Hintergrund hat der Vorstoß von Özdemir – der ein fettes fünfstelliges Ministergehalt bezieht – einen Beigeschmack. Sollen die Leute, wenn sie sich kein Brot mehr leisten können, halt Müll essen? Eine Antwort auf die soziale Misere ist das Containern sicherlich nicht und sollte es auch nie sein, ebensowenig wie die Tafeln. Eine Antwort darauf wäre: Es gibt genug Reichtum, wenn wir uns ihn holen muss niemand Armut erleiden!

In den Medien wird Özdemirs Vorstoß als etwas gefeiert, was längst überfällig ist. Aber: Özdemir ist da nicht auf eine tolle Idee gekommen und sollte nicht für seinen Vorstoß gefeiert werden. Viele Aktivist*innen haben jahrelang dafür gekämpft. Jeder öffentlich gewordene Kriminalisierungsversuch gegen Containernde war eine große Blamage für die Verantwortlichen in Politik, Polizei, Justiz und Wirtschaft – unabhängig vom Ausgang im Einzelfall. Durch ihre Kriminalisierungsversuche ist das Containern überhaupt erst so bekannt geworden. Vor dem Hintergrund der miesen klimapolitischen Bilanz der Grünen ist es ein kläglicher Versuch, vom eigenen Verrat abzulenken bei einem Thema, wo ein Zugeständnis nicht weh tut.

Dass Leute wie ich überhaupt containern können und bei jeder Tour davon ausgehen können, mehr zu finden als wir tragen oder verarbeiten können, ist ein Symptom eines kranken Systems. Die Entkriminalisierung des Containerns als irgendwie hilfreich dagegen zu verkaufen ist Augenwischerei und lenkt von eigentlichen Problemen ab: Der Überproduktion, die im Kapitalismus unvermeidbar ist. Denn im Kapitalismus geht es nicht darum, alle Menschen satt zu bekommen. Stattdessen geht es darum, den Konzernen hohe Profite und den Aktionären entsprechend fette Dividenden zu bescheren. Im Kampf um Marktanteile versuchen die Supermarkt- und Discounterketten sich gegenseitig Kund*innen wegzunehmen. Dafür stecken sie Milliarden in Werbung und sorgen dafür, dass auch kurz vor Ladenschluss die Regale noch gut gefüllt sind, auch wenn das bedeutet geplant viel wegwerfen zu müssen (und behaupten, damit konfrontiert, gerne das würde von Kund*innen so gefordert – ein Blick auf „Keine Werbung!“-Aufkleber auf Briefkästen straft sie Lügen). Ein nachhaltiger Kapitalismus ist eine Illusion, die alle ablegen sollten, die ernsthaft an einer nachhaltigen Wirtschaft interessiert sind. Stattdessen müssen wir uns mit den Konzernen anlegen, ihnen die Macht entreißen und die Wirtschaft demokratisch nach den Bedürfnissen von Menschen und Natur planen. Organisiert können wir das schaffen!

Christian Walter geht seit 15 Jahren containern und berichtet darüber regelmäßig auf Instagram und Facebook. 2017 ist sein Buch „Volle Bäuche statt volle Tonnen!“ im Manifest-Verlag erschienen.

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