DIE LINKE-Führung kürt Spitzenkandidat*innen zur Europawahl: Fünf Probleme

Für demokratische Entscheidungsprozesse und inhaltliche Debatten

DIE LINKE-Vorsitzenden haben ihre Spitzenkandidat*innen für die Europawahl im kommenden Jahr der Öffentlichkeit präsentiert. Es sind Carola Rackete, Martin Schirdewan, Özlem Demirel und Gerhard Trabert. Du hast gar nicht mitbekommen, dass der Europaparteitag schon stattgefunden hat? Hat er ja auch nicht ….

Von Sascha Staničić

Trotzdem heißt es auf der Webseite der Partei: „Mit den Spitzenkandidat*innen Martin Schirdewan und Carola Rackete sowie Özlem Demirel und Gerhard Trabert auf den Plätzen drei und vier zeigen wir: Die LINKE ist die Adresse für alle, die eine gerechtere EU wollen, die sich wünschen, dass soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Menschenrechte und Klima im Vorwärtsgang verteidigt werden.“ Formell handelt es sich zwar „nur“ um den Vorschlag der Vorsitzenden an den Bundesausschuss, der dann wiederum einen Vorschlag an den Bundesparteitag richten wird. Aber die Fakten sind geschaffen worden: an der Basis und den gewählten Delegierten vorbei, top-down und offenbar zum wiederholten mal ohne jegliches Problembewusstsein bei der Parteiführung für ein solches undemokratisches und intransparentes Vorgehen. Das ist das erste Problem.

Problem Nummer 2

Das zweite Problem ist, dass Personalien vor Inhalten geklärt werden. In der Linkspartei wird immer leidenschaftlich um die Europapolitik gerungen. Die einen würden die rote Fahne am liebsten durch die blaue EU-Fahne ersetzen, andere erarbeiten komplizierte Reformvorschläge für die EU-Institutionen und erhoffen sich eine magische Verwandlung der EU zu einer sozialen und friedlichen Gemeinschaft und wieder andere – wozu auch wir gehören – sind der Meinung, dass die EU „neoliberal, undemokratisch und militaristisch ist“, ein Club der Banken und Konzerne bzw. der deren Interessen vertretenden nationalen Regierungen ist – gegründet, um die ökonomischen Interessen der EU-Kapitalist*innenklassen im globalen Konkurrenzkampf und im Klassenkampf gegen die „eigene“ Arbeiter*innenklasse zu vertreten.

DIE LINKE als plurale Partei wählt zurecht Parlamentarier*innen, die die Breite der Partei abbilden. Aus unserer Sicht geht diese Breite dann zu weit, wenn sie die Beteiligung an Maßnahmen gegen die Interessen der Arbeiter*innenklasse oder Unterstützung von Militarismus und Waffenlieferungen beinhaltet. In jedem Fall aber sollten Personalentscheidungen erst getroffen werden, wenn die inhaltlichen Positionen ausdiskutiert wurden und klar ist, wie die Kandidat*innen zu diesen stehen. Zumindest im Fall der beiden parteilosen Spitzenkandidat*innen Carola Rackete und Gerhard Trabert wird man im Internet nicht fündig, wie sie grundsätzlich zur EU stehen.

Problem Nummer 3

Womit wir beim dritten Problem wären: die LINKE-Führung scheint es als großen Erfolg und cleveren Schachzug zu sehen, dass sie mit Rackete und Trabert zwei parteilose Aktivist*innen aus sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichem Engagement als Kandidat*innen gewonnen hat. Sie erhofft sich dadurch eine größere Breitenwirkung der Kandidatur. Aber warum baut man dann überhaupt eine Partei auf, die die Aufgabe haben sollte, die Tätigkeit in den Parlamenten mit den außerparlamentarischen Kämpfen zu verbinden und deren Abgeordnete der Partei gegenüber rechenschaftspflichtig sein sollten? Die inhaltliche Botschaft von parteilosen Kandidat*innen ist letztlich, dass die individuelle Tätigkeit im Parlament das Ziel der Kandidatur ist und nicht das Mittel, um letztlich die Partei als eine alternative Machtoption zu den bürgerlichen Parteien aufzubauen. Schon die Kandidatur Gerhard Traberts als parteiloser Direktkandidat der Mainzer LINKEN zu den Bundestagswahlen hatte den Effekt, dass dort ein unpolitischer Personenwahlkampf geführt wurde, Plakate nicht einmal das Logo der Partei enthielten und die Orientierung auf einen prominenten Kandidaten nicht dazu führte das Programm und die Gewinnung neuer Mitglieder in den Mittelpunkt zu stellen. Wie soll das auch möglich sein, mit einem Kandidaten, der bei der Pressekonferenz am 18.7. stolz verkündete, dass er bei den Oberbürgermeister-Wahlen in Mainz den Kandidaten der Grünen unterstützt hat und nicht in DIE LINKE eintreten wird, um seine „Unabhängigkeit“ zu wahren?

Es mag sein, dass die Kandidatur von parteilosen Aktivist*innen in Ausnahmefällen sinnvoll sein kann, aber generell verstärken solche Kandidaturen die ohnehin existierende Unsitte, dass sich Parlamentsfraktionen und Parlamentarier*innen der LINKEN verselbständigen und mittels ihres größeren Budgets und besseren Zugangs zu Massenmedien das Bild der Partei nach außen mehr prägen, als es die gewählten Parteigremien tun. Eine Kontrolle parteiloser Parlamentarier*innen durch die Parteibasis ist noch schwerer durchzusetzen als es ohnehin schon bei LINKE-Abgeordneten der Fall ist.

Problem Nummer 4

Womit wir beim vierten Problem wären: Carola Rackete hat im Anschluss an die Pressekonferenz der Partei eine eigene Pressekonferenz der „Bewegungsaktiven“ durchgeführt, mit der sie deutlich machte, dass sie sich offenbar nicht der Partei, sondern diesen Bewegungsaktiven – wer auch immer das genau sein soll – verpflichtet fühlt. Und nicht nur das: ihre Mitstreiter*innen nutzten die Pressekonferenz direkt, um heftige Kritik an der Linkspartei zu üben und einen Politikwechsel in der Außenpolitik der LINKEN einzufordern – in Richtung einer größeren Unterstützung des „ukrainischen Widerstands“. In verklausulierten Worten hat Alina Ljapina dort einen „radikalen Kurswechsel“ und „konkrete Antworten“ der LINKEN gefordert. Das legt die Interpretation ihrer Aussage nahe, diese ist als Unterstützung von Waffenlieferungen an die ukrainische Regierung gemeint. Ähnlich kann man Carola Racketes Statement interpretieren, man müsse bzgl. der Ukraine Positionen aus Sicht der Betroffenen entwickeln (als ob angesichts einer drohenden Eskalation des Kriegs nicht die Bevölkerung über die Grenzen der Ukraine betroffen wäre). Denn in dieser Frage hat die Partei bisher zurecht nicht nachgegeben, auch wenn so manche prominente Parteivertreter*innen hier schon umgekippt sind.

Hier wäre schnell eine Klärung der Parteiführung und von Carola Rackete nötig: wird eine Spitzenkandidatin vorgeschlagen, die sich für eine radikale Veränderung der außenpolitischen Positionen der LINKEN einsetzt? Wie sollen diese aussehen und gehört eine Unterstützung von Waffenlieferungen an die Ukraine dazu? Auch Gerhard Trabert sollte diese Frage beantworten, denn auch er hat sich in der Vergangenheit nicht „per se gegen Waffenlieferungen“ ausgesprochen. Je nachdem, wie die Antwort auf diese Frage ausfällt, sollten sich die Delegierten des Bundesausschusses und des Parteitags überlegen, ob sie von ihrem Recht, die Kandidat*innen tatsächlich auszuwählen und nicht nur zu bestätigen, Gebrauch machen sollten.

Problem Nummer 5

Das fünfte Problem ist die Botschaft, die mit der Spitzenkandidatur von Carola Rackete gesendet wird. Um nicht missverstanden zu werden: Carola Rackete gebührt Respekt für ihr Engagement bei der Seenotrettung und wir teilen ihre Forderung nach Vergesellschaftung „fossiler Konzerne“. Aktivist*innen wie sie müssen einen Platz in der Linkspartei haben, auch als Kandidat*innen für Parlamentswahlen. Sie zur Spitzenkandidatin zu machen, wirft aber die Frage auf, an wen sich die Partei in erster Linie richten will? In der linksalternativen Bubble mag ihre Kandidatur Begeisterung auslösen, darüber hinaus – in der breiteren Arbeiter*innenklasse – ist sie bestenfalls unbekannt, schlimmstenfalls bestätigt ihre Wahl den Vorwurf von Sahra Wagenknecht und ihren Unterstützer*innen, die Linkspartei habe den Fokus auf die Masse der Bevölkerung durch den Fokus auf eine linksalternative Szene ersetzt. Diese Entscheidung, nur wenige Tage nachdem eine Meinungsumfrage einer Wagenknecht-Partei in Thüringen 25 Prozent bescheinigt, ist wie ein Geschenk an Wagenknecht und wird – wie die Umfrage selbst – wie Rückenwind für die Überlegungen um eine Parteineugründung wirken. Warum wurde keine streikende Krankenpflegerin oder ein Mietenaktivist für Listenplatz 1 ausgewählt, der/die sozialen Interessen der Lohnabhängigen eindeutig verkörpert hätte? Zusammen mit der ehemaligen Gewerkschaftssekretärin und Antimilitaristin Özlem Demirel wäre von solchen Spitzenkandidat*innen eine klare politische Botschaft ausgegangen.

Was tun?

Diese Kür der Spitzenkandidat*innen zeigt wie unter einem Brennglas, was in der LINKEN alles falsch läuft: undemokratische und unpolitische Entscheidungsprozesse, linksalternative Initiativen (so unterstützenswert diese auch sein mögen) werden mit Bewegungen verwechselt, die Orientierung besteht nicht mehr ausreichend auf der Arbeiter*innenklasse insgesamt, sondern zu sehr auf der eigenen linksalternativen Unterstützer*innenschaft. Eins ist klar: ein solches Vorgehen wird keine Hilfe sein, die Mitglieder zu einem dynamischen Europawahlkampf zu mobilisieren. Und im Falle einer Kandidatur einer von Sahra Wagenknecht gegründeten Partei (und möglicherweise nicht nur in diesem Fall), wird dieses Spitzenteam kaum in der Lage sein, einen weiteren Verlust von Stimmen zu verhindern. Ob alle vier dann überhaupt ins Europaparlament einziehen, kann bezweifelt werden.

Was also tun? Der Bundesausschuss könnte den geschäftsführenden Vorstand zurück pfeifen. Statt zuerst Kandidat*innen auszuwählen, sollte ein breiter und demokratischer Diskussionsprozess über das Programm zur Europawahl organisiert werden. Wir treten, wie schon in der Vergangenheit für eine internationalistische und sozialistische Europapolitik ein, die die kapitalistische Institution EU ablehnt und ihr ein Europa der Lohnabhängigen gegenüberstellt. Ein solcher Diskussionsprozess sollte in einem Parteitag gipfeln, auf dem sich alle Kandidat*innen zur Wahl stellen können und ihre Haltung zur EU darlegen können – bevor sie medial schon inthronisiert werden.